Eine beunruhigende Geschichte für uns alle. Angeblich weiß keiner was die Zukunft bringt. Aber ich weiß was uns allen bevorsteht. Es sieht finster aus.
Mein Blick streifte über die Kante des Buches und traf auf den seinen. Auf einem Seitensitz war sein Platz und sein Blick war neugierig. Was ich zu ignorieren versuchte. Denn, in einer Straßenbahn kann ein solcher Ausdruck alles Mögliche bedeuten. Nicht nur höfliches Interesse, sondern auch oft der Beginn eines sonderbaren Gespräches. Außerdem, so dachte ich mir, gab es sicher noch andere interessante Dinge, die seine Aufmerksamkeit wecken konnten. Bierwerbungen, mit halbnackten Frauen. Aber das war ein Irrtum.
Der Junge schien nicht älter als Zwölf, trug ein grünes T-Shirt, eine alte ausgewaschene Adidas-Kappe. Der Plan des Ignorierens endete mit der Frage, „Du-Hu, was liest du denn da“? Ich antwortete ihm, es handle sich um eine Biografie Schoppenhauers. „Du-Hu, “ fragte der Junge weiter, „wer war denn Schoppenhauer“? Ich versuchte ein genaues Bild von Schopenhauer zu zeichnen, oder eine kurze Inhaltsangabe des gerade Gelesenen wieder zu geben. Der Junge hörte mir interessiert zu, stellte mir Fragen, die zu beantworten mir oft nicht leicht fielen. Elender kleiner Klugscheißer.
Bei meiner Station stiegen wir aus, was mich noch nicht wunderte. Dann gingen wir ein weites Stück zu zweit, bis mir endlich auffiel wie weit er mir gefolgt war. Still wie ein Geist hatte er das gemacht, und kein einziges Mal ein Zeichen gegeben, wann er hätte abbiegen wollen. Bevor ich eine dementsprechende Frage stellen konnte, stellte er mir eine. „Du-Hu, kaufst du mir ein Pornoheft“?
War ich verdutzt, erschüttert, genervt? Wollte ich die evolutionär verankerte Floskel, die man stellt obwohl das Gehör das Unfassbare doch verstanden hat, nämlich die Frage „Was“ stellen? Wollte ich meinen Mittelfinger herausfahren und Fragen, hey willst du was zum Lutschen?
Dann sagte er etwas, was die Lage dramatisch verschärfte. „Wenn du mir keines kaufst, verfolge ich dich bis nach Hause.“ Ich glaubte ihm, ich glaubte ihm ohne dass ich auch nur eine Sekunde zweifelte. Warum, weil sich der Ausdruck seines Gesichtes von einem Wimpernschlag auf den anderen verdüsterte. Er hatte unseren ganzen Weg entlang so ein schelmisches Grinsen gehabt. Das verschwand nun. Er trug nun eine ernste verbitterte, ja gnadenlose Maske.
Ich bekam eine Gänsehaut. „Glaub mir, mit einem Anderen habe ich es genauso gemacht. Der hat mich geärgert und ich bin ihm nach Hause gefolgt. Dort stand ich dann tagelang.“ Auf einmal wusste ich, wie Stephen King seine Inspiration gewann. Der kleine Freak stellte mich vor ein taktisches Problem. Ich war auf dem Weg zu meiner Großmutter mit einer Packung VHS-Kassetten. Sie zeichnete ihre Krimis damit auf. Wenn es nach mir gegangen und ich direkt unterwegs zu meiner Wohnung gewesen wäre, hätte er vor meinem Block bis zum Jüngsten Tag kampieren können. Nur wollte ich nicht, dass er wusste wo meine Verwandten lebten. Man muss sich folgende Szenerie vorstellen. Um uns herum war ein Christkindlmarkt. Gruppen tranken Punsch. Kinder wurden von ihren Vätern herumgetragen. Als Christkinder getarnte Komparsen verteilten Krempel. Von Irgendwo schallte es; „Stille Nacht, Heilige Nacht.“ Eine schlechte Bühne für physische Gewalt. Die Polizei, die Polizei war meine Rettung. Aber was würden die sagen, wenn ich mit diesem Zwerg bei ihnen auftauchen würde. „Ja dieses Kind bedroht mich. Zwar hat er keine Waffe, aber sehen sie mal in seine Augen, das ist ein Irrer“!
„Gehen wir zur Tankstelle“, sagte ich.
Auf dem Rückweg fragte er mich, „Du-Hu, magst du mich“?
„Natürlich mag ich dich nicht“, antwortete ich ihm. „Aber warum nicht, ich mag dich.“
„Ja, das ist sehr nett“, zischte ich zwischen den Zähnen hindurch. Ich kaufte ihm ein Magazin mit Anzeigen von Bordellen, diversen Escortservices und privaten Fickkontakten.
Er hielt schon seine gierigen Hände auf, aber ich ging an ihm vorbei zu einer Bushaltestelle.
„Wir machen es so“, erklärte ich ihm. „Du wirst in den nächsten Bus einsteigen, dann werfe ich dir das Heft hinein.“ Er schaute in die Richtung aus der der Bus kommen sollte. Er blinzelte dreimal, sagte dann langsam, „mit diesem Bus muss ich aber gar nicht fahren.“
„Ist mir egal“!
Während wir warteten, fragte er etwas, über das ich sehr gründlich nachdenken sollte. Sehr gründlich. „Du-Hu, habe ich das eh gut mit dir gemacht“? „Wie, was“, fragte ich zurück.
„Na dich zu manipulieren. Ich glaube das mache ich jetzt öfter.“
Mein Magen schrumpfte zusammen. Wieder dieser Ernst in der Stimme.
Der Bus kam. Der Junge stieg ein und ich warf ihm das Heft in die Arme. Ich achtete nicht auf die Blicke der anderen Fahrgäste, als wollten sie gleich das Jugendamt anrufen. Nur seine Worte gingen mir durch den Kopf. Hatte ich einen Psychopaten gratis Schnupperstunden gegeben? Hatte ich den Funken in ihm geweckt, der ihm zeigte welche Fähigkeiten in ihm schlummerten?
Diese Gedanken wirbelten in meinem Kopf und lenkten mich von dem Geschehen auf der Straße ab. Denn da war eine Falltür, wie aus einem alten Bugs Bunny Cartoon. Mein Schuh trat in das Leere und ich spürte wie ich hinter her fiel.
In einer anderen Zeit wachte ich auf. Die Welt war grau und kalt. Da wo vorher Grün war, erhoben sich die Schatten von Türmen in den Nebel, deren Spitzen darin verschwanden.
Sie wirkten wie Kohleradierungen, deren eine Hälfte weggewischt worden war. Auf den leeren Straßen standen hohe Stangen, an denen ramponierte Bildschirme befestigt waren. Auf denen tauchte zwischen Störgeräuschen und dem flackerten Bild, das Konterfrei eines Mannes auf. Hinter dem kantigen Bart des Fünfzig Jährigen, konnte ich dieses Grinsen sehen. Es sagte mir, danke jetzt habe ich es geschafft. Auf einem Plakat, das in dem Licht einer fliegenden Drohne erschien, stand eine Frage.
Wer hat uns das angetan?
„Ihr Wahnsinnigen, seid verdammt“, brüllte ich und schlug mit beiden Fäusten auf den Boden. Weil keiner mitbekommen sollte, dass ich an dem Schlamassel schuld war.
Foto: Kleiner Bengel (pixabay.com / CC0 Public Domain)
DAZIBAO – „Satirische Propaganda“ von Max Sternbauer: