von Robert Krotzer
Sonntag ist Büchertag. Und weil lesen nicht nur klug macht, sondern hilft, die schönen Dinge zu sehen, vor allem aber die Welt zu verstehen, hab ich mir gedacht, künftig sonntags Bücher vorzustellen. Den Beginn macht der im Frühjahr 2015 verstorbene uruguayische Autor Eduardo Galeano, der als „Dichter jener da unten“ und bekennender Linker für sein literarisches Schaffen und politisches Wirken verfolgt wurde. Sein Buch „Kinder der Tage“ erzählt für jeden Tag des Jahres 365 Geschichten, die an große und kleine historische Begebenheiten erinnern und dabei stets „zu einer Anklage all derer [werden], die die Welt in ihrem Sinne zu lenken wussten. Und zur Bekundung tiefempfundener Solidarität mit den Unterdrückten.“ Und damit die eine oder der andere vielleicht auf den Geschmack kommt, gibt’s hier drei dieser Geschichten als Kostprobe:
„9. März: Der Tag, an dem Mexiko in die Vereinigten Staaten einmarschierte.
In diesem Morgengrauen des Jahres 1916 überquerte Pancho Villa die Grenze, zündete die Stadt Columbus an, tötete ein paar Soldaten, nahm Munition und einige Pferde mit und kehrte am nächsten Tag nach Mexiko zurück, um von seiner kühnen Tat zu erzählen.
Dieser flüchtige Einfall der Reiter von Pancho Villa war die einzige Invasion, die die Vereinigten Staaten in ihrer gesamten Geschichte erlitten haben. Dagegen ist dieses Land fast überall auf der Welt einmarschiert und tut es immer noch.
Seit 1947 heißt das Kriegsministerium Verteidigungsministerium und der Kriegshaushalt heißt Verteidigungshaushalt.
Der Name ist ein Rätsel, unerklärlicher als das Mysterium der Heiligen Dreieinigkeit.“
„11. September: Tag gegen den Terrorismus.
Gesucht werden die Entführer von Ländern.
Gesucht werden die Würger von Löhnen und die Vernichter von Arbeitsplätzen.
Gesucht werden die Vergewaltiger der Erde, die Vergifter des Wassers und die Räuber der Luft.
Gesucht werden die Händler der Angst.“
„8. Februar: Die allgemeine Küsserei.
Im Jahre 1980 kam es in der brasilianischen Stadt Sorocaba zu einer äußerst ungewöhnlichen Massendemonstration.
Mitten in der Militärdiktatur hatte eine richterliche Anordnung die Küsse verboten, die gegen die öffentliche Moral verstießen. Der Beschluss des Richters Manuel Moralles, der diese Küsse mit Gefängnis bestrafte, beschrieb sie so:
‚Es gibt Küsse, die libidinös und infolge dessen obszön sind, wie der Kuss des Halses, der Schamgegend usw. und wie der Filmkuss, bei dem sich die Schleimhäute der Lippen in einer eindeutigen Ausweitung von Sinnlichkeit vereinigen.‘
Die Stadt antwortete, indem sie sich in eine große Kussarena verwandelte. Niemals hatte man sich so sehr geküsst. Das Verbot steigerte die Lust ins Unermessliche, und es gab viele, die nur aus Neugier den Spaß am eindeutigen Kuss kennenlernen wollten.“
Foto: Robert Krotzer (fb)
Titelbild: Bücher über alles (© www.torange-de.com; Lizenz: CC BY 4.0)