von Max Aurel
Seit 2001 wird in jeder Legislaturperiode einer deutschen Bundesregierung der sogenannte “Armuts- und Reichtumsbericht” veröffentlicht. Darin soll berichtet werden, inwiefern sich die wirtschaftliche und soziale Lage der deutschen Bevölkerung, vor allem mit dem Fokus auf Armut, verändert hat. Normalerweise werden diese Berichte ungefähr in der Mitte der Legislaturperiode veröffentlicht, doch dieses Mal wird er rund 6 Monate vor der nächsten Bundestagswahl der Öffentlichkeit vorgestellt, mit einer Verzögerung von eineinhalb Jahren. Warum erst so spät?
Bereits der Armuts- und Reichtumsbericht der Vorgängerregierung, der schwarz-gelben Koalition zwischen Union und FDP, kam mit einer Verspätung von eineinhalb Jahren an die Öffentlichkeit. Grund damals laut der Regierung: “Ressortabstimmungen”. Der wahre Grund: Laut Berichten der Süddeutschen Zeitung wollte das Wirtschaftsministerium unter dem damaligen FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler einige Passagen, Erkenntnisse und Politikempfehlungen streichen. So wurde unter anderem der Absatz „Während die Lohnentwicklung im oberen Bereich positiv steigend war, sind die unteren Löhne in den vergangenen zehn Jahren preisbereinigt gesunken. Die Einkommensspreizung hat zugenommen.“ Diese verletze „das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung“ und könne „den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden“. Zu kritisch, dachte sich die FDP. Das können wir unserer Kernwählerschaft, die zu den Profiteuren eben dieser Einkommensentwicklung gehören, nicht zumuten.
Die mediale Aufregung war selbstverständlich groß. Oppositionspolitiker sprachen von “Zensur”, die damalige Finanzministerin von Schleswig-Holstein Monika Heinold (Grüne) verglich Rösler mit Honecker: “„Wer ein Wunschbild von der Gesellschaft entwirft, das mit der Realität der Leute nichts zu tun hat, scheitert.“
2017…the same procedure as last legislative period
Umso erstaunlicher ist es, dass die Beteiligten aus ihrem Verhalten offenbar nichts gelernt haben. Auch die Veröffentlichung des fünften (und aktuellen) Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurde von Schönigungsvorwürfen begleitet. Dieses Mal ging die Zensur nicht vom Wirtschaftsministerium aus, sondern vom CDU-geführten Bundeskanzleramt. Wovor haben Angela Merkel und ihr Kanzleramtschef Peter Altmaier so viel Angst, dass sie versuchen eine Veröffentlichung zu verhindern? Welche Informationen sind so unangenehm für die CDU, dass Zensur und Verfälschung der Faktenlage offensichtlich akzeptable Wahlkampfstrategien geworden sind?
Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Präsidentschaftskandidat 2016 für die LINKE, veröffentlichte am 12. April auf der Website des Deutschlandradios einen Auszug aus den gestrichenen Passagen. Gestrichen wurden unter anderem Aussagen über den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum, sowie zwischen wohlhabenden Bürgern und einer möglichen Politikbeeinflussung.
Je ungleicher eine Gesellschaft, desto weniger Wirtschaftswachstum
Lange dominierte in der ökonomischen Wissenschaft die Theorie, dass Ungleichheit über einen längeren Zeitraum hinweg und mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum sich verringert. Postuliert wurde diese Aussage vom amerikanischen Ökonomen Simon Kuznets, welche als Kuznets Kurve (Bild unten) rasch an Berühmtheit erlangte. Die Sichtweise von Kuznets wurde bis in die 1970er Jahre innerhalb der ökonomischen Profession kaum hinterfragt, als jedoch (u.a. im Zuge der neoliberalen Reformen Thatchers und Reagans) die Ungleichheit in den Industriestaaten in den 80er und 90er Jahren wieder anstieg, wurde die Theorie nach und nach verworfen.
Im Jahr 2012 kehrte der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz die Theorie völlig auf den Kopf. Je größer die Einkommens- und Vermögensungleichheit in einem Land ist, desto geringer fällt das Wirtschaftswachstum aus, desto geringer sind Effizienz und Produktivität, behauptete er. Im Jahr 2014 kam der Internationale Währungsfond, von Kritikern oft als Institution des Neoliberalismus verschrien, zur selben Erkenntnis. Viele andere Ökonomen, darunter Dani Rodrik oder Kemal Dervis, stimmten in den letzten Jahren Stiglitz und dem IWF zu, sodass es mittlerweile einen mehrheitlichen Konsens innerhalb der ÖkonomInnenszene gibt, dass Ungleichheit das Wirtschaftswachstum stark behindern kann. Das Kanzleramt stellt sich also gegen die Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler und versucht, die Fakten und die Wahrheit zu frisieren oder zu vertuschen.
Lobbyismus, Parteispenden und ökonomische Ungleichheit
Noch brisanter als die vorige Erkenntnis dürfte wohl der Zusammenhang zwischen Reichtum, Ungleichheit und politischer Einflussnahme sein. Im Anhang kann man sehen, welche Absätze gestrichen, welche geschönt und welche den Regierenden offensichtlich “genehm” waren. Beispielsweise wurden die theoretischen, demokratiepolitischen Überlegungen komplett und ersatzlos gestrichen.
Auch mehrere Seiten über die Unterschiedlichkeit politischer Präferenzen wurden gestrichen. So zeigt die Analyse im Bericht beispielsweise, wie sehr sich die politischen Meinungen zwischen den reichsten 10 Prozent und den untersten 10 Prozent unterscheiden. Vor allem die Außen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik wird von den verschiedenen sozialen Milieus anders bewertet.
Erheblich waren auch die Unterschiede bei der Bewertungen, ob eher dem Markt (individuelle Absicherung der Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit) oder dem Staat (durch Umverteilung und wirtschaftliche Regulierung) die Regelung des Gemeinwesens zugetraut wird. Dabei fanden Mitglieder der oberen zehn Prozent zu 55 Prozent, dass diese Aufgabe eher der Markt übernehmen solle, während Mitglieder der unteren zehn Prozent dies nur zu 42 Prozent fanden. Wirtschaftspolitisch sind die unteren Schichten also eher links, die oberen eher rechts ausgerichtet. Aber wieso wollte das Kanzleramt diese Erkenntnis verleugnen? Ist man dort der Auffassung, dass alle Teile der Bevölkerung marktaffine Lösungen bevorzugen und ist nun schockiert, dass für die unteren Schichten die Segnungen des “freien” Marktes sich nicht erkenntlich gemacht haben?
Doch der Abschnitt, der, meiner Meinung nach, die größte Sprengkraft mit sich bringt trägt den kryptischen Namen “Responsivität der Politik”. Als Responsivität verstehen Politikwissenschaftler die Bereitschaft der Politik, Interessen und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Im Armuts- und Reichtumsbericht wird unter anderem eine Studie unter der Leitung von Professor Armin Schäfer zitiert, die zu folgendem (für manche nicht so überraschendem Ergebnis kommt):
“Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikänderung ist wesentlich höher, wenn die Politikänderung von einer großen Anzahl von Befragten mit höherem Einkommen unterstützt wird.”
Die Studie belegt also ein Gefühl, welches von großen Teilen der Bevölkerung geteilt wird, nämlich dass die Politik vor allem die Interessen der Reichen berücksichtigt und sich um “den kleinen Mann” eher wenig schert. Sie bestätigt also eines der Argumente, warum so viele Menschen zeitweise in Deutschland rechts-demagogische Parteien unterstützt haben, nämlich weil “die da oben” auf “uns hier unten” nicht hören. Die Aufgabe einer Regierung sollte eigentlich sein, diesem Gefühl und dieser Entfremdung etwas entgegenzusetzen. Aber das dauert lange und ist eine schwierige Aufgabe. Viel leichter ist es die Realität und Faktenlage zu leugnen und mit der Politik für Reiche einfach fortzufahren.
Des Weiteren wurde in den theoretischen Überlegungen (welche ja auch gestrichen wurden) erklärt, dass Personen aus ärmeren Haushalten eher seltener sich im politischen Prozess und bei Wahlen beteiligen. Daraus, und der geringen Responsivität der Politik auf Menschen in der unteren Einkommensschicht ergibt sich ein Teufelskreislauf:
“ln Deutschland beteiligen sich Bürgerinnen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden — die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert”,
so das Urteil der ExpertInnen.
Die Absätze über Lobbyismus oder die politischen Ursachen für die wachsende Ungleichheit in Deutschland wurden ebenfalls komplett gestrichen. Schlussfolgerungen und Politikempfehlungen, wie die Probleme am besten angegangen werden sollen, sucht man vergeblich.
Es ist fast so, als ob die Große Koalition (vor allem aber die CDU) die Faktenlage an die Realität anpassen will. Anstatt zu akzeptieren, dass sie in den letzten Jahren Politik vor allem für Reiche gemacht haben und damit ökonomische Ungleichheit, Erwerbsarmut und Kinderarmut massiv verstärkt hat, schaltet sie auf stumm. Beschwerden und Kritik aus der Bevölkerung und wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Kreisen wird ausgeblendet. Gleichzeitig singt man Loblieder über die “exzellente wirtschaftliche Lage”, die “Rekorderwerbstätigkeit” oder die “Exportwirtschaft, die jedes Jahr Rekorde bricht”.
Kurzfristig mag das eine erfolgreiche Strategie sein, manch ein Wähler, der Armut und Verwahrlosung nicht persönlich sieht, wird diesen Aussagen wohl Glauben schenken. Der Rest wird dieser Selbstbeweihräucherung nicht einmal ein müdes Lächeln abgewinnen können.
Titelbild: Max Aurel