Der Justizpalastbrand 1927 und die Krise des Austromarxismus

Der Freispruch der faschistischen Mörder von Schattendorf hat am 15. Juli 1927 spontane Massenproteste der Arbeiterschaft ausgelöst, die blutig unterdrückt wurden. Dies war der zentrale Wendepunkt zugunsten der bürgerlichen Reaktion in der Ersten Republik.

Von Gernot Trausmuth

Das schwere Metalltor des „Vorwärts“-Hauses öffnet sich und eine Gruppe von Betriebsräten der Städtischen Elektrizitätswerke stürzen zu später Stunde hinein. Sie wollen rauf in die Reaktion der „Arbeiter-Zeitung“: „Wir müssen den Genossen Dr. Bauer sprechen. Sofort!“ Als ihnen ein Redaktionsmitarbeiter mitteilt, dass der Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nicht mehr da ist, kippt die ohnedies schon aufgeheizte Stimmung der Gruppe fast. Hätten sie gewusst, dass er soeben mit dem Aufzug hinuntergefahren war, als er von ihrer Ankunft gehört hatte, wären sie wohl nicht so leicht zu beruhigen gewesen. Bauers Vertreter lesen den aufgebrachten Betriebsräten den Leitartikel der morgigen Ausgabe vor, die gleich in Druck gehen wird. Darin wird das Schandurteil, das den Mördern von Schattendorf eine Haftstrafe erspart, scharf kritisiert. Doch wo bleibt der Aufruf nach einem Generalstreik und nach einer organisierten Massendemonstration? Warum wird der wütenden Stimmung in den Arbeiterbezirken keine Perspektive gegeben? Wo sind die konkreten Slogans zur Organisierung des Kampfes gegen die Reaktion? Mit hängenden Köpfen verlassen sie kurz nach Mitternacht das „Vorwärts“-Haus, während die ersten druckfrischen Ausgaben des Zentralorgans aus der Druckmaschine schießen.

Doch in den Arbeiterbezirken war die Lage bereits am Überkochen. In den Morgenstunden des 15. Juli legten ganze Belegschaften die Arbeit nieder, formierten sich spontane Demonstrationszüge, und die Dynamik des Moments ließ die Massen Richtung Stadtzentrum ziehen. Schon bei der Universität kommt es zu ersten Zusammenstößen mit deutschnationalen Burschenschaftern, doch der Zug wälzt sich weiter vorbei am Parlament zum Justizpalast, dem Symbol einer offensichtlichen Klassenjustiz, die rechte Gewalt gewähren ließ. Anfangs weiß niemand recht, was man tun sollte. Die Menge ist in abwartender Haltung. Doch dann geht die Polizei brutal vor. Brutal setzt sie berittene Einheiten und scharfe Munition ein.

Demonstranten dringen in den Justizpalast ein (Foto: Amtsbibliothek der Landespolizeidirektion Wien)

Die Lage eskaliert nun völlig. DemonstrantInnen stürmen das Gebäude, werfen Akten aus den Fenstern und legen ein Feuer. Auf dem weiten Platz vor dem Justizpalast spielen sich unvorstellbare Szenen ab. Ein Polizist wird auf seinem Pferd sitzend von der Menge umzingelt, er zielt auf einen ein Meter neben ihm stehenden Jugendlichen. Sein Abzug klemmt, der Junge springt zur Seite, da knallt ein Schuss, und der dahinterstehende Arbeiter bricht mit zerfetzter Brust zusammen.

Mitten in dem Chaos wird der Republikanische Schutzbund doch noch zum Einsatz befehligt, um den Protest in geordnete Bahnen zu lenken. Bürgermeister Seitz und Schutzbundführer Deutsch persönlich versuchen die Menge zu beruhigen und der Feuerwehr den Weg zum brennenden Justizpalast zu bahnen. Später werden die Proteste in den Bezirken weitergehen. Der Ruf nach einem bewaffneten Aufstand ist allgegenwärtig. Die Sozialdemokratie reagiert mit einem 24-stündigen Generalstreik und einem dreitägigen Verkehrsstreik, die beide lückenlos befolgt werden. Doch die Staatsmacht hat nach zwei Tagen die Oberhand. 89 DemonstrantInnen müssen an diesem Tag ihr Leben lassen. Es sind junge SozialistInnen, Schutzbündler und normale ArbeiterInnen. Der Ausgang dieser Ereignisse wird als schwere Niederlage der Sozialdemokratie wahrgenommen. Die Bürgerlichen zwingen „die Roten“ erstmals in die Knie.

Von nun an war die Rechte massiv auf dem Vormarsch. Die Polizei, die aus den Zeiten der Monarchie de facto unverändert geblieben war, wurde aufgerüstet, in den westlichen Bundesländern wurden die Heimwehren legalisiert, womit sie eng mit Gendarmerie und Bundesheer kooperieren konnten. Der Faschismus wurde nach 1927 eine konkrete Bedrohung.

Auf der anderen Seite war erstmals bei vielen ArbeiterInnen das Vertrauen in die Partei schwer erschüttert. Der 15. Juli hat das Scheitern der bisherigen Strategie des Austromarxismus deutlich gemacht. Auf der Rechten wie auf der Linken wird offen Kritik am Kurs Otto Bauers geäußert, der erst ein Jahr zuvor auf dem Parteitag in Form des „Linzer Programms“ in Stein gemeißelt worden war. Im Theorieorgan „Der Kampf“ rückten Parteilinke wie Kunfi und Otto Leichter aus, den Schaden zu begrenzen und die bisherige Linie zu legitimieren.

Kritik kam nicht nur von links. Unter dem Druck der Bürgerlichen meinten nicht wenige nun, es müsse Schluss sein mit der radikalen Klassenkampfrhetorik. Die Partei solle lieber den Weg der Versöhnung einschlagen, um so die Bürgerlichen, die geschlossen gegen die Arbeiterbewegung standen, zu spalten und die reaktionären Hardliner um den Prälaten Seipel zu isolieren. Dieses Argument ließ aber völlig unbeachtet, warum die Bürgerlichen so rabiat gegen „die Roten“ vorgingen. Wie Leichter zurecht feststellte, war es nicht die marxistische Rhetorik der Partei, auch nicht so sehr, die sozialdemokratische Vorstellung von der zukünftigen Gesellschaft, sondern die konkrete Praxis ihrer Politik in jenen Jahren, die den Klassenhass der Bürgerlichen gegen die Arbeiterbewegung erklären können. Im Zuge der revolutionären Welle nach 1918 hat die österreichische Sozialdemokratie allen voran im Roten Wien eine Reformpolitik gestartet, die das bürgerliche Lager nicht länger dulden wollte: die Breitner-Steuern, das Wohnbauprogramm, der Ausbau des Fürsorgewesens, der Mieterschutz. Dazu kam, dass die Roten und die von ihnen verteidigte parlamentarische Demokratie ein Hindernis für die kapitalistische Krisenbewältigung darstellten. Mit diesem „revolutionären Schutt“ wollten die Rechten aufräumen.

Der Ernst der Lage war offensichtlich. Trotzdem hielt die Sozialdemokratie an ihrer Strategie fest: Die politische Macht sollte über die Erringung einer Mehrheit im Parlament im Zuge von Wahlen angestrebt werden. Der Schlüssel zur Macht war aus der Sicht von Otto Bauer & Co. eine erfolgreiche Reformarbeit nach Wiener Vorbild. Die Arbeiterklasse hatte dabei die Rolle von Schachfiguren, die von der Sozialdemokratie wehrhaft gemacht werden und je nach Bedarf von den großen Lenkern der Bewegung aufs Feld geführt werden oder eben auch nicht. Denn angesichts des Erstarkens der faschistischen Reaktion wurden Massenaktionen nämlich in erster Linie als Gefahr gesehen, die den Rechten als Vorwand dienen. Wenn sie spontan erfolgten umso mehr. Deshalb haben die Austromarxisten die Proteste vom 15./16. Juli zwar als Ausdruck des Gerechtigkeitsempfindens, ja der revolutionären Gesinnung des Wiener Proletariats gesehen, aber als politische Dummheit gehandelt. Sie zogen daraus die Lehre, dass die Partei die Klasse besser erziehen muss, in ihr noch mehr das Verständnis für die „Kunst des Möglichen“ stärken muss. Gleichzeitig argumentierten die Austromarxisten gegen die Idee der Parteirechten, man müsse eine konstruktive Opposition sein, man dürfe nicht ständig die Machtillusion der Arbeiterklasse schüren. Im Gegensatz zum rechten Flügel war sich Otto Bauer bewusst, dass die Sozialdemokratie nur dann eine Funktion hat, wenn sie sich als legitimes Sprachrohr der Arbeiterklasse präsentiert. Wenn sie unter den Arbeitern Autorität verliert, dann ist das ihr Ende. Ein Kurswechsel war aus ihrer Sicht völlig ausgeschlossen. Dies galt umso mehr für eine Umorientierung der Arbeiterbewegung auf einen revolutionären Kurs.

Dass dies aber notwendig gewesen wäre angesichts der Offensive der Reaktion, war die Grundthese der linken Opposition in der Sozialdemokratie. In einem Flugblatt nach dem Justizpalastbrand stellten sie die Frage: „Wie ist es mit uns so weit gekommen? Wie ist es gekommen, daß das Proletariat dem Gewehrfeuer der Polizei preisgegeben wurde, daß der Schutzbund zwischen zwei Fronten geraten ist und schließlich (…) waffenlos blutig zusammengeschossen wurde?“ Ihre Antwort: Die Taktik der Partei führte in dieses Verhängnis. Zwar habe Bauer richtig erkannt, dass die Bürgerlichen die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zurücknehmen wollen und dass es notwendig sei, die Demokratie gegen die Reaktion notfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen, aber die Parteispitze habe es unterlassen, rechtzeitig und konkret die Arbeiterklasse auf diesen Kampf zur Verteidigung der Demokratie vorzubereiten. In dem Flugblatt wird kritisiert, dass die Partei deshalb auch gezwungen war, sich mit einem Doppelspiel aus der Affäre zu ziehen. Mal leugnete sie, dass der Schutzbund überhaupt Waffen habe, dann deutete sie den eigenen Mitgliedern wieder an, dass dieses Leugnen taktisch notwendig sei. Und wenn es ernst wurde, warnte sie stets mit der Bedrohung einer militärischen Intervention des Auslands, weshalb man vor einer Eskalation Abstand nehmen müsse. Wenn das die taktische Weisheit schlechthin war, dürfe man sich nicht wundern, dass es am nötigen Selbstvertrauen mangelte, um die Idee des bewaffneten Widerstands entschlossen zu vertreten. Trotz des Wahlerfolgs der Sozialdemokratie im Frühling 1927 waren die Bürgerlichen daher schon Monate vor dem Justizpalastbrand in der Offensive. Im Juli 1927 war die Arbeiterklasse zu einer Entscheidungsschlacht schon gar nicht mehr imstande, so das Flugblatt, weil sich die Parteispitze in den Monaten davor schon in der Frage der Bewaffnung der Wehrverbände so ins Eck manövrieren ließ. Die Opposition übt dabei scharfe Kritik an der verhängnisvollen Taktik, „die unvermeidlich zu einer Lage geführt hat, in der die Arbeitermassen ohnmächtig dem Blutbad preiszugeben, unsere Genossen im Schutzbund im Augenblick der Gefahr zu verleugnen, bereits als das ‚kleinere Übel‘ erscheinen konnte!“
Und die Opposition kritisiert zu recht, dass die Parteiführung trotz alledem auch nach dem blutigen Freitag ihre Taktik fortsetzt, ja in der Praxis entgegen der eigenen Argumentation sogar weiter nach rechts schwenkt.

Dieses erste Auftreten einer organisierten linken Opposition ist aber sowohl politisch wie auch organisatorisch noch zu schwach, um der Strategie des Austromarxismus etwas entgegenzusetzen. Der Kurs von Otto Bauer wird bis in die völlige Niederlage im Februar 1934 beibehalten. Erst danach in der Illegalität wird die Linke imstande sein, eine revolutionär-marxistische Alternative zu formulieren und in der Arbeiterklasse zu verankern.

Zuerst erschienen auf Gernot Trausmuth – Mit roter Feder

Fotos: Amtsbibliothek der Landespolizeidirektion Wien (Quelle: Archivfotos vom Brand des Justizpalastes in Wien)

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