Seit sechs Jahren kämpfen die portugiesischen Werktätigen gegen die Krise im Land. Fünf Generalstreiks, beinahe jede Woche Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen. Ergebnis: Aus dem Würgegriff der Troika und der korrupten Politikerkaste gibt es für den Großteil des Volkes kein Entrinnen.
Für die UHUDLA Ausgabe 102 und für Unsere Zeitung berichtet aus Lisboa Martin Wachter
Portugal, das EU-Land im Südwesten Europas liegt in Chaos und Agonie. Der Wahlkampf hat begonnen, doch niemanden interessiert’s. Ein Großteil der Menschen hat andere Sorgen im alltäglichen Existenzkampf. Nicht einmal ein Wahlzuckerl hebt die Stimmung im Lande. Der seit Jänner 2011 gültige Mindestlohn wurde im Oktober 2014 von 485 Euro auf 505 Euro brutto erhöht. Gestiegen sind die Steuer und Sozialversicherung. So gesehen beträgt jetzt der Netto-Mindeststundenlohn für 600.000 Beschäftigte zwei Euro und 45 Cent.
Politische Korruption, Not und Elend für’s Volk – Rette sich wer kann
Von den 3,5 Millionen unselbstständig Beschäftigten verdienen 1,5 Millionen Menschen zwischen 310 und 599 Euro netto. Eine weitere Million bekommt monatlich 600 bis 899 Euro und mehr als eine Million PortugiesInnen ist offiziell ohne Arbeit. 660.000 LusitanierInnen sind in den letzten drei Jahren in Folge der Krise ins Ausland gegangen. Nur Anfang der 70er Jahre, vor der Nelkenrevolution, war die Zahl in ähnlicher Höhe.
Im Oktober 2014 wurden wiedereinmal schwere Korruptionsvorwürfe gegen den konservativen Regierungschef Pedro Passos Coelho laut. Die Steuerbetrugsvorwürfe beziehen sich auf seine Zeit als Parlamentsabgeordneter. In den 90er-Jahren war Passos Coelho Gründungsmitglied und Chef einer Nichtregierungsorganisation, die unter dem Namen Portugiesisches Kooperationszentrum fungierte. Dieses Zentrum soll dazu beigetragen haben, einem Unternehmen namens Technoform EU-Zuschüsse zu besorgen, und Pedro Passos Coelho soll davon finanziell profitiert haben.
Die Staatsanwaltschaft würgte das Verfahren mit der Begründung „die möglichen Delikte seien verjährt“ postwendend ab. Zudem weigerte sich Pedro Passos Coelho auf sein Bankgeheimnis zu verzichten. Ein paar Wochen später wurde sein Amtsvorgänger José Socrates wegen Korruption verhaftet und eingesperrt.
„Das ist ein durchsichtiges Wahlkampfmanöver und außerdem könnten sie gleich den Ex-EU-Häuptling José Manuel Durao Barroso miteinsperren (Genannter war vor der EU-Karriere Kanzler in Portugal und damals in einem Korruptionsverfahren involviert, bevor er nach Brüssel hinaufgefallen ist. Anm. d. Red). Die ganze Regierung und die Politiker – ab in den Knast. Aber so viele Gefängniszellen gibt es auf der ganzen Welt nicht”, redet sich Rui, Rezeptionist eines kleinen Hotels an der Algarve, in Saft.
Er ist nicht allein mit seiner Wut. Nichteimal ein Viertel der PortugiesInnen vertritt die Auffassung, dass im Lande von staatswegen Recht gesprochen wird. Die amtierende Regierung hat auf Ansage der Troika eine weitreichende Reform der Justiz in Portugal angesagt. Doch am Ende war das interne Computersystem der Umstellung nicht gewachsen und stürzte ab. Unfassbare 3,5 Millionen Prozessdaten konnten lange nicht abgerufen werden. Unklar bleibt auch, ob die Reform die Probleme an den Gerichten lösen konnte.
Ein Beispiel aus der Praxis: Seit 18 Jahren wartet João Ratinho auf die Eröffnung seines Gerichtsverfahrens, berichtet der „Deutschlandfunk” auf seiner Website. Der heute 77-Jährige verkaufte Mitte der 1990er-Jahre den Pachtvertrag und die Ausstattung seines Lissabonner Bekleidungsgeschäftes – und erhielt einen gefälschten Scheck. Ratinho ist der einzige, der den Prozess „überlebt” hat: Die Beschuldigten sind tot, der erste zuständige Richter ist tot, Ratinhos Anwalt ist längst im Ruhestand und sein ehemaliges Geschäft ist immer noch geschlossen. João Ratinho ging vor dem Europäischen Gerichtshof. Dort bekam er recht und Portugal wurde zur Schadensersatzzahlung verdonnert. Die „Schuldigen” weigern sich beharrlich, den verordneten Schadensersatz zu zahlen. Aus diesem Grunde ist das Verfahren noch immer nicht abgeschlossen.
Drei Jahre schikaniert die Obrigkeit Lehrer, Schüler und Eltern
Eigentlich sind die Zustände in allen Bereichen wie Gesundheit, Militär, Soziales, Wirtschaft etc. dieselben. Sparen um jeden Preis, wenn’s ums Volk geht – und korrupte Politiker, die die Steuereinnahmen, Staatskassen oder EU-Gelder als einen Selbstbedienungsladen für ihre eigenen finanziellen und machtpolitischen Interessen benützen. Das Bildungssystem und der Schulbeginn im Vorjahr sind ein weiterer Beweis für die „portugiesischen Verhältnisse”.
Nuno Crato, der ebenfalls umstrittene Bildungsminister, hat sich für einen Fehler entschuldigt, der seinem Ministerium unterlaufen war. Nach drei Jahren Schikanen gegen Lehrer, Schüler, Eltern und anderes Schulpersonal, war 2014 der chaotischste Schulanfang, den Portugal je erlebt hat. Weil die Beschäftigten im Bildungssystem ständig streikten und demonstrierten, versuchte es das Ministerium mit Tricks. Sie verschleierten finanzielle Kürzungen und den enormer Personalabbau. In vielen Schulen gab es keine Mathematiklehrer oder der Fremdsprachenunterricht wurde mit der Parallelklasse zusammengelegt und an die 50 Schüler, teils auf dem Fußboden sitzend, sollten so Sprachen lernen.
Nur 3.488 Lehrkräfte sind sowas wie pragmatisiert und haben einen fixen Posten. Tausende PädagogInnen müssen Jahr für Jahr eine Prüfung machen. Danach werden sie eher willkürlich auf Bewertungslisten gereiht. Durch diese Bewertungsliste wurden einem Lehrer im zweiten Verfahren am 10. Oktober 75 Stellen zugeteilt, ein gutes Monat nach Schulbeginn. Nur hatte besagter Lehrer im Zuge des ersten Verfahrens bereits einen Arbeitsplatz. Diese Listen waren und sind die Grundlage für Job oder Arbeitslosigkeit, für Klassenauflösungen, Schulschließungen und für zusätzlichen Personalabbau. Die Lehrerbewertung war den Gewerkschaften ein Dorn im Auge, vor allem der in der links gerichteten CGTP zusammengeschlossenen LehrerInnenvereinigung FENPROF mit Verbindungen zur Kommunistischen Partei.
Beifall der EU zum portugiesischen Trauerspiel im Bildungssystem
Das Schuljahr begann mit einem noch nie dagewesenen Chaos. So wie einer Lehrerin aus Porto erging es weiteren 250 Lehrkräften. Die junge Pädagogin sollte in Olhão, an der Algarve, unterrichten. Sie zog mit ihrem arbeitslosen Mann und ihren zwei kleinen Töchtern (6 und 8 Jahre alt) an die fast 700 Kilometer entfernte Südküste Portugals. Für die neue Wohnung zahlte sie drei Monatsmieten Kaution und der Umzug kostete zusätzlich viel Kraft, Geld und Energie. Sie unterrichtete zwei Wochen – und war den Job wieder los, denn der Schulbehörde sei ein Fehler unterlaufen und ihre Stelle musste dem „rechtmäßigem” Lehrer übergeben werden, der „versehentlich” gekündigt worden war.
Im Oktober erhielt sie eine Mail vom Ministerium. Sie möge sich in einer Schule in Faro melden! Wieder Koffer packen und wieder die 700 Kilometer an die Algarve! Die Familie blieb zurück, weil die Ersparnisse der Eheleute aufgebraucht waren.
Am 20. Oktober 2014 haben die Schulen – nach sechs Wochen Politikergerangel und Schuldzuweisungen – die Entscheidungskraft über die Einstellung von Lehrern vom Bildungsministerium zurückbekommen. Laut Gewerkschaften und Schulen fehlen in Portugal noch immer 2.000 LehrerInnen für einen halbwegs geregelten Schulbetrieb. Anfang Oktober waren 25.111 PädagogInnnen arbeitslos gemeldet.
Das konservative Polit-Duo Regierungschef Pedro Passos Coelho und Republikspräsident Cavaco Silva treiben mit den gleichgesinnten Freunden der Regierungsparteien die Zerstörung des öffentlichen Bildungssystems zügig voran. Ihr Handeln ist einfach und simpel erklärt. Privatschulen, Internate, Eliteuniversitäten, private Sprachschulen, Nachhilfeeinrichtungen, die sich nur wenige leisten könne, werden auf allen Ebenen gefördert und erhalten staatliche Subventionen und Zuschüsse.
Begeisterten Beifall klatschen in den Lissaboner Machtzentren die Abgesandten der Troika, gebildet aus Vertretern der EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischen Währungsfonds. Portugal ist für sie ein williges Opfer zur Erprobung der Europäischen Werte.
Text: Martin Wachter (UHUDLA)
Fotos: 11. Februar 2011: in Lissabon demonstrieren 300.000 Menschen gegen Sparkurs und Sozialabbau der Regierung. Manifestationen in der portugiesischen Hauptstadt sind ein Bestandteil des Stadtbildes (Martin Wachter)