Rede von Christine Nöstlinger bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im österreichischen Parlament (+ Video)
Als das Konzentrationslager Mauthausen errichtet wurde, war ich fast zwei Jahre alt, als die letzten Überlebenden von der US-Armee befreit wurden, war ich acht Jahre alt. Man könnte also denken, dass in meinen Erinnerungen an diese Jahre das KZ-Mauthausen kein Thema wäre. Dem ist aber nicht so.
Das Wort Mauthausen kannte ich zwar nicht, den Ausdruck KZ aber sehr wohl. Unzählige Male hörte ich ihn, wenn meine Großmutter bei der Milchfrau oder beim Greißler auf die Nazis schimpfte.
Dann hieß es, warnend geflüstert, entweder „Redens ihnen nicht um ihren Kopf“ oder „Sie reden Ihnen noch ins KZ rein!“
Und fest eingeprägt hat sich bei mir die Erinnerung daran: Mein Onkel, der „kleine Bruder“ meiner Mutter ist zu Besuch. Er steht, groß und breit, in SS-Uniform neben meiner kleinen Mutter und sagt: „Ella, die Juden gehen alle durch den Rauchfang!“
Und meine kleine Mutter bekommt ihr rotes Zorngesicht und gibt ihrem großen, kleinen Bruder eine Ohrfeige. Ich glaube, das war die einzige Ohrfeige, die meine friedliebende Mutter jemandem gegeben hat.
Was „durch den Rauchfang gehen“ zu bedeuten hat, war mir natürlich nicht klar, nur, dass es etwas schrecklich Böses sein musste. Und von dem Tag an war mir auch klar, dass der Herr Fischl durch den Rauchfang gegangen ist.
Der Herr Fischl hatte bei uns in der Gasse eine Schusterwerkstatt gehabt, hatte Schuhe gedoppelt, neue Absätze gemacht und bei Schuhen die Kappen „vorgeschoben“, damals unter armen Leuten eine billige Lösung für schnell wachsende Kinderfüße.
Im Jahr 1938, kurz nach dem „Anschluss“, sah meine Mutter, von der Arbeit heim gehend, eine grausige Szene: SA-Männer hatten den Herrn Fischl aus dem Laden geholt und zwangen ihn, mit einer Zahnbürste drei weißen Pfeile, die Regime-Gegner aufs Pflaster gepinselt hatten, weg zu schrubben. Auf der Straße parkte ein LKW mit grinsenden SA-Männern auf der Ladefläche. Und um den knienden Herrn Fischl rum, standen Nachbarn und schauten belustigt zu.
Meine Mutter ging klopfenden Herzens auf der gegenüber liegenden Straßenseite vorbei. Später hörte sie, dass der Herr Fischl schließlich mit dem LKW abtransportiert worden war.
Ein paar Tage danach übernahm ein „arischer“ Schuster Werkstatt und Wohnung vom Herrn Fischl. Und vom Herrn Fischl redete niemand mehr. Außer meiner Mutter! Sie erzählte mir und meiner Schwester immer wieder, was dem Herrn Fischl angetan worden war. Sie kam nicht damit zurecht, dass sie nicht eingegriffen hatte, und rechtfertigte sich jedes Mal vor sich selbst mit der Erklärung: „Hätt ich euch Kinder nicht daheim gehabt, wär ich rüber und hätt die Bagage vertrieben!“
In dem Alter, in dem ich damals war, muss man seine Mutter, noch dazu, wenn der Vater schon lange weit weg in Russland ist, für groß und stark, also für mächtig halten. Und dass sich Erwachsene manchmal selbst belügen, wusste ich noch nicht. Also war ich der Überzeugung, meine Mutter hätte den Herrn Fischl gerettet, hätte es mich nicht gegeben, und da ich auf meine Frage, wohin denn der Herr Fischl gebracht worden war, die karge Antwort „Na, ins KZ“ erhielt, glaubte ich, am Tod des Herrn Fischl schuld zu sein.
Das unsinnige Schuldgefühl schwand erst, als ich merkte, dass meine Mutter weder stark noch mächtig, sondern klein und ziemlich hilflos war und gegen „die Bagage“ nichts ausgerichtet hätte.
Frei von Schuld zu sein, heißt aber nicht, frei von Verantwortung zu sein!
Viele Menschen sind dieser Verantwortung gerecht geworden und haben als „Zeitzeugen“ den nachfolgenden Generationen zu erzählen versucht, wohin Rassismus geführt hat, oder sich laut zu Wort gemeldet, wenn wieder gegen Minderheiten Stimmung gemacht wurde.
Leicht gemacht hat man ihnen das nicht immer. Vielen waren sie einfach zu unbequem. Sie störten beim Vergessen, beim Behaupten, völlig ahnungslos gewesen zu sein, beim Beklagen dessen, was man selbst im Krieg erlitten und verloren hatte, und vor allem beim selbstzufriedenen „Neuanfang“.
Im Interesse dieses „Neuanfangs“ waren unsere Nachkriegsregierungen auch nicht besonders emsig bemüht, Täter der NS-Zeit zu verfolgen. Es waren – nüchtern betrachtet – einfach viel zu viele, um ohne sie einen funktionierenden Staat zu machen. Woher hätte man etwa nach Kriegsende auch ausreichend „unbelastete“ Lehrer und Beamte nehmen sollen?
Auch die Anstrengungen, Juden und Antifaschisten, denen die Flucht ins Ausland geglückt war, heim zu holen, waren karg. Und zu überlegen, wie man Roma und Sinti, die überlebt hatten, besser integrieren könnte, war schon gar kein Anliegen.
Meine Generation und die meiner Kinder wurden also in einem Land groß, in dem Rassismus keineswegs bloß eine schlimme Erinnerung war, sondern nach wie vor Gesinnung sehr vieler, tradiert vor allem in den Familien.
Zum Positiven verändert hat sich da bis heute nicht allzu viel. Allerdings kommt nun Rassismus in einem anderen Mäntelchen daher. Begriffe wie Herrenrasse, Untermensch, Rassenschande und Endlösung, wagt niemand mehr zu sagen, und kaum wer zu denken. Da gibt es ein Tabu!
Heutiger Rassismus lehnt schlicht „alles Fremde“ ab, sieht das eigene Volk durch „Überfremdung“ in Gefahr, wittert sogar „Bevorzugung der Ausländer“, und meint – alles in allem: „Die wollen von uns leben, die wollen uns etwas wegnehmen!“
Wer so denkt, und unter gleich Gesinnten auch so redet, schmiert noch lange keine rassistischen Parolen, wirft keine jüdischen Grabsteine um, beschimpft keine Frauen, die Kopftuch tragen, verprügelt keinen Schwarzen und zündet kein Asylantenheim an. Aber den Menschen, die es tun, geben sie die Sicherheit, auch in ihrem Interesse zu agieren. Sie sind der Nährboden, aus dem Gewalt wächst.
Und die Auswahl an Minderheiten, gegen die man – im besten Fall -„etwas hat“, – im schlimmsten Fall – „etwas unternimmt“ hat sich enorm gemehrt. Zu den tradierten Objekten für Ablehnung und Aggression kamen hinzu: Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge, ganz gleich woher sie kommen und Menschen mit Migrationshintergrund, ganz gleich, ob sie bereits österreichische Staatsbürger sind oder nicht. Und Menschen mit anderer Hautfarbe sowieso.
Allerdings schützt heute, im Gegensatz zum Rassismus der NS-Zeit, totale Assimilation vor Anfeindung. Und die große Mehrheit im Lande – fürchte ich – meint Assimilation, wenn sie „mehr Integration“ fordert.
Man will sich das Fremde und Unbekannte nicht vertraut machen, sondern wünscht sich die Anpassung der Zugezogenen an die hierorts übliche Lebensweise; was aber in den seltensten Fällen passiert.
Also ergeben sich Probleme beim Zusammenleben mit Menschen aus fremden Kulturen.
Darauf zu warten, dass diese Probleme mit der Zeit kleiner werden, durch zunehmende Toleranz der Alteingesessenen und zunehmende Anpassung der Zugezogenen, war sichtlich lange Zeit ein Rezept vieler unserer Politiker. Oft hat dieses Rezept tatsächlich gewirkt, aber zumindest genauso oft hat es versagt.
Was versäumt wurde, müssen wir jetzt nachholen. Kindergartenpflicht und Ganztagsschulen etwa. Dazu Kindergarten-Pädagoginnen, die dazu wirklich ausgebildet sind, Kindern mit einer anderen Muttersprache so gut Deutsch zu lehren, dass sie, in die Schule gekommen, annähernd die gleiche Sprachkompetenz und somit auch annähernd die gleichen Chancen auf Bildung haben. Nur so verhindert man das Entstehen von Parallelgesellschaften auf Unterschichtsniveau.
Und ebenso ist bessere Bildung das einzige brauchbare Mittel zur Aufweichung von hart verkrusteten rassistischen Vorurteilen in der hiesigen Mehrheitsbevölkerung.
Denn: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Auch den größten Unsinn und die schamlosesten Verdrehungen.
Wobei allerdings die Frage bleibt, warum so viele Menschen lieber den Rassisten glauben, als denen, die sagen, dass friedliches Nebeneinander, wenn schon nicht Miteinander, möglich sei.
Vielleicht ist es ja so: Über den allgemein bekannten sieben Hautschichten hat der Mensch als achte Schicht eine Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt: „Das hat doch niemand gewollt!“
Foto: Schriftstellerin Christine Nöstlinger bei ihrer Gedenkrede (© Parlamentsdirektion / Johannes Zinner)