Warum Erdogan den Friedensprozess mit den Kurden sabotiert

Bild: Recep Tayyip Erdoğan, painted portrait (thierry ehrmann, Lizenz: CC BY 2.0)

erdoganDas NATO-Mitglied Türkei schlittert geradewegs in einen Bürgerkrieg. Während die türkische Luftwaffe unter dem Deckmantel der IS-Bekämpfung Stellungen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Kobanê und der Volksverteidigungskräfte (HPG) – den militärischen Arm der PKK – in den Qendîl-Gebieten, bombardiert, wächst auch die innenpolitische Anspannung zunehmend. Ausschreitungen während den Demonstrationen und die Angst der Kurden vor altbekannten, kriegsgeprägten Tagen breiten sich im Land aus. Derweil erklärt der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, den Friedensprozess mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) de facto für beendet.

In Opposition zu den realen Ängsten der kurdischen Minderheit der Türkei, denen sie gegenüberstehen, instrumentalisiert Erdoğan abstrakte Ängste der türkischen Mehrheitsbevölkerung, um Stimmung gegen die pro-kurdische „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) zu machen. „Der Kampf gegen die PKK ist nur ein Nebenschauplatz, das eigentliche Ziel der Regierung ist die HDP. […] Erdoğan spielt ein sehr zynisches Spiel. Seit der Wahl versucht er alles, um der AKP doch noch zur alleinigen Macht zu verhelfen“, kommentiert Henri J. Barkey, US-amerikanischer Politikwissenschafter und Kenner der türkischen Politik sowie der kurdischen Bewegungen, die aktuelle Lage.

Auch die Feststellung des Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, gehen in die selbe Richtung. Kürzlich twitterte er: „Eines der Hauptziele der Luft- und Bodeneinsätze sowie der Medienkampagne ist das Untergraben der HDP in vorgezogenen Neuwahlen.“ Denn die HDP kostete der islamisch-konservativen AKP bei den letzten Parlamentswahlen am 7. Juni die absolute Mehrheit. Dank des deutlichen Ergebnisses von 13,1% der Wählerstimmen, gelang es der HDP, die 10-Prozent-Hürde zu knacken und sie zog somit samt 80 pro-kurdischen Abgeordneten in das türkische Parlament ein. Diese schmerzlichen Verluste scheint die AKP nicht hinnehmen zu wollen. Während die Koalitionsgespräche immer wieder in der Ergebnislosigkeit münden, verstärkt sich die Vermutung, Erdoğan und seine Partei würden die vorgesehenen 45 Tage für eine Regierungsbildung nur aussitzen wollen, um danach in einem von Chaos geprägtem Land, Neuwahlen auszurufen. Es soll das Bild vermittelt werden, nur eine alleinregierende AKP könne für Stabilität in der Türkei sorgen.

Im türkischen Parlament überschlagen sich die Ereignisse. Nachdem Erdoğan eine Aufhebung der parlamentarischen Immunität sowie Strafverfolgung von einzelnen HDP-Abgeordneten forderte, stellte die HDP einen Antrag auf Aufhebung der Immunität aller 550 türkischen Abgeordneten. Treu nach dem Motto, man selbst habe nichts zu befürchten, aber eventuell die von den Korruptionsskandalen verfolgten AKP-Politiker.

Am Mittwoch rief das türkische Parlament die Abgeordneten zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Es solle den Ausnahmezustand, die Luftangriffe der Armee auf Stellungen der PKK und der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) erörtern. Der Antrag seitens der kemalistischen CHP „Eine parlamentarische Ermittlung zu starten, welche das Ziel hat, die Gründe der terroristischen Angriffe, die den gesellschaftlichen Frieden gefährden, zu erforschen sowie die nötigen Maßnahmen zu definieren“ wurde seitens der islamisch-konservativen AKP und der ultra-nationalistischen MHP abgelehnt.

Osman Baydemir, Sprecher der HDP während der außerordentlichen Sitzung, machte vor dieser Abstimmung deutlich: „Sollte heute das Parlament mit einem ‚Ja zu den Ermittlungen‘ stimmen, wird dieser Krieg innerhalb von 48 Stunden beendet werden. Warum erlaubt ihr der Imrali-Delegation seit dem Morgen des 8. Juni nicht, dorthin zu reisen?“
Baydemir macht hier auf die abrupte Ablehnung einer Beobachtungs-Delegation während den Friedensverhandlungen mit Öcalan seitens der AKP-Regierung aufmerksam. Von diesem Tag an lagen die Friedensgespräche faktisch schon auf Eis, das Ende des Friedensprozesses hatte sich also schon viel früher angekündigt.

Die AKP, die sich immer mit den Federn der „friedensbringenden Tauben-Partei“ schmückte, selbst Kontakt zu Abdullah Öcalan und der PKK pflegte, dämonisiert nun die Person Öcalan und die PKK aus reinem taktischen Politik-Kalkül.

Die Tragweite der Rolle Öcalans in diesem Friedensprozess, sein Einfluss auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie auf die PKK selbst kann nicht ausgeblendet werden. Ein Mann, der Macht besitzt, aus der Isolationshaft heraus einen jahrzehntelangen, bewaffneten Krieg mit einer Newroz (Neujahrs)-Botschaft in Wirklichkeit zu beenden, ist einer der tragenden Säulen des angestrebten Friedens – diese Faktizität entging auch Erdoğan sowie seiner AKP nicht, deshalb verhandelten sie selbst mit Öcalan.

Da jedoch seit vier Jahren die Anträge der Anwälte Öcalans abgelehnt werden, fadenscheinige Gründe, wie seit vier Jahren anhaltende ,,schlechte Wetterbedingungen‘‘ oder ,,defekte Schiffe‘‘, die Verhandlungen sabotieren, kann an der Ernsthaftigkeit dieser Friedensbestrebungen gezweifelt werden. Zuletzt lehnte Erdoğan auch den 10-Punkte-Plan ab, auf den sich türkische Staatsvertreter und Öcalan als Verhandlungspunkte geeinigt hatten. Seit vier Monaten dürfen HDP-Abgeordnete Öcalan nicht mehr besuchen.

Die AKP kehrt also wieder zur alt-türkischen, nationalistischen Politik zurück. Die Renaissance dieser Haltung ist jedoch ein politischer Suizid. Die Null-Probleme-mit-den-Nachbarn-Politik hat Erdoğan schon fallen gelassen, nun begeht er den Fehler, die seine Vorgänger begangen haben. Diese Politik kannte nur die militärische Bekämpfung der PKK. Militärisch ist die PKK jedoch nicht zu besiegen. Der Türkei-Experte, Günter Seufert, von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erklärt: „Die Langzeitstrategie der Türkei war ganz klar überall in der Region, kurdische Selbstverwaltung innerhalb und außerhalb der Türkei zu verhindern. Doch diese Strategie ist nicht durchzuhalten. Wir sehen ja, dass die türkische Regierung, die seit 30 Jahren gegen die kurdische PKK im eigenen Land kämpft, mit ihr Verhandlungen führen muss. Diese Politik wird scheitern, weil man dieser Eigendynamik der kurdischen Nationalbewegung letztlich nichts entgegenzusetzen hat.“

All den Behauptungen von türkischer Seite aus, die Kurden selbst hätten den Frieden sabotiert, kann eine durch und durch plausible Antwort entgegengehalten werden. Der Krieg findet Einzug in die Kurdenregion, die westlichen Städte blieben in der Vergangenheit und werden in der Gegenwart weitgehendst verschont bleiben. Die Kurden sind des Krieges müde und auch die Feststellung des Nahost-Experten Michael Lüders in einem Interview mit dem Deutschlandfunk kann dabei erwähnt  werden: „Bei aller berechtigten Kritik an der PKK muss man sagen, dass die kurdische Seite an dem Friedensprozess festgehalten hat, wie er mit der Türkei vereinbart war, und es hat ja auch eine enorme Kräfteverlagerung gegeben, auf kurdischer Seite hin zur HDP und weg von der PKK. Die HDP ist eine im türkischen Parlament mit 13 Prozent der Stimmen vertretene Partei, die nicht allein kurdische Interessen vertritt, sondern auch viele säkular eingestellte Türken anspricht. Es hat hier also eine Kehrtwende gegeben, einen sehr positiv zu beurteilenden Prozess, der jetzt allerdings an sein Ende gekommen sein dürfte.“

Am Tag der außerordentlichen Sitzung erinnerte Baydemir weiters an Erdoğans Worte vor den Wahlen: „Sollten wir die Regierung nicht alleine stellen können, haben wir noch einen B und C Plan“. Diese Pläne Erdogans scheinen nun in die Tat umgesetzt zu werden – der Schwenk in Richtung regressive sowie aggressive Innenpolitik, die Inkaufnahme des Chaos im eigenen Land und die kurdenfeindliche Haltung sprechen jedenfalls dafür. Die in den Weg geleiteten Ermittlungen seitens der türkischen Staatsanwaltschaft gegen die Co-Vorsitzenden der HDP, Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die legal und demokratisch gewählten Stimmen der KurdInnen im Parlament in Ankara, auch.

Mit freundlicher Genehmigung von Kurdische Nachrichten (redaktionell geringfügig bearbeitet, Original)

Bild: Recep Tayyip Erdoğan, painted portrait (thierry ehrmann, Lizenz: CC BY 2.0)

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