[3K – Massenmedien am Montag: Folge 37]
Der deutsch-türkische Journalist und Aktivist Kerem Schamberger (29) zu Ankaras Medienpolitik.
Unsere Zeitung: Warum hat Recep Tayyip Erdoğan nach dem Anschlag vom Samstag eine Nachrichtensperre verhängt?
Kerem Schamberger: Erdoğan verhängt die Sperren gar nicht, sondern der Rundfunk- und Fernsehrat RTÜK. In den Erlassen heißt es dann, aufgrund „der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung wird ein vorübergehendes Veröffentlichungsverbot verhängt“. Ich vermute, dass die Regierung zeitgleich ihre ganz eigene Krisen-PR entwickelt. Kritische Medien umgehen das Verbot: es gibt keine konkreten Berichte zum Vorfall, nur zu den Folgen. Wenn etwa Selahattin Demirtaş eine Presseerklärung gibt, berichten sie darüber. Sonst drohen empfindliche Geldstrafen oder ein dauerhaftes Publikationsverbot. Die linientreuen Medien haben schon einen Schuldigen am Massaker gefunden: es sei die HDP selbst, oder zumindest die PKK, die die eigenen Leute bombardiere, um Mitleid zu erregen. Das ist nur noch ekelhaft. Die letzten unabhängigen Medien hingegen sehen die Schuld klar bei der Regierung.
Woran machen die das fest?
Wer Demonstrationen in der Türkei kennt, weiß, wie viele Polizisten sonst immer da sind. Ich war im August in Ankara, am Ort des Anschlags, am Bahnhofsvorplatz. Überall wimmelte es von Geheimpolizei, Zivilpolizisten und uniformierter Polizei. Ich wurde als Tourist zweimal kontrolliert und gefragt, was ich denn da mache. Wie kann es also sein, dass sich zwei Attentäter in die Demo mischen und in die Luft jagen? Vor den Augen der Polizei? Wieso wurden nach dem Anschlag die Verletzten, die Toten, die Helfer mit Tränengas beschossen und niedergeknüppelt?
Was passiert mit JournalistInnen, die die Sperre ignorieren?
Generell haben Sperren wie diese keine große Wirkung. Über Social Media verbreitet sich alles unaufhaltsam und in Windeseile. Deshalb wurde am Wochenende auch der Zugang zu Twitter, das in der Türkei stark genutzt wird, gesperrt oder zumindest stark gedrosselt. Wie bei den Gezi-Protesten 2013. Was generell mit kritischen Journalisten passiert, ist mehr als besorgniserregend. Fast 2000 regimekritische Kollegen haben in den letzten Jahren ihren Job verloren, Hunderte haben kostspielige Klagen am Hals.
Wie bewertest du die Rezeption Ankaras in deutschsprachigen Medien?
Die mediale Kritik an der Erdoğan-Gang hat zugenommen, das ist zu begrüßen. Es gibt seit einiger Zeit auch deutsch-türkische Journalisten, die vor Ort berichten, etwa Deniz Yücel für Die Welt oder Özlem Topcu für Die Zeit. Sie haben einen direkten Zugang zum Geschehen, sprechen die Sprache, kennen die Kultur und haben damit bessere Möglichkeiten, direkt zu berichten. Yücel wurde mal wegen kritischer Nachfragen bei einem Gouverneur für einige Stunden eingesperrt. Die europäische Politik hingegen hofiert Erdoğan immer noch. Er gilt als Bollwerk gegen Flüchtlinge. Daher wird so oft ein Auge zugedrückt, wenn es um den antidemokratischen Despotismus der AKP-Regierung geht.