Portugiesische Verhältnisse – Vamos ver (Wir werden sehen)
Am 4. Oktober 2015 wurde in Portugal der Sparkurs abgewählt. Die Mehrheit der Bevölkerung fordert eine andere Politik. Doch die herrschende Kaste in allen Teilen der Gesellschaft will ihren Platz nicht räumen. Das „gemeine” Volk hat ein neues Selbstbewusstsein entwickelt und trägt ihren Protest auf die Straße. „A luta continua, Governo na rua… “ schallte es am Dienstag den 10. November wiedereinmal zigtausendfach durch die engen Gassen der Metropole von Lisboa.
Martin Wachter war vor dem Parlament dabei, als die Massen lautstark die Abwahl der vom Staatspräsidenten Cavaco Silva eingesetzten Regierung forderte.
Wie schon am 6. Juni 2015 (Reportage: mit der Kraft des Volkes), warteten in der südportugiesischen Kleinstadt Lagos um halb acht Uhr morgens eine Gruppe von Menschen auf den Autobus. 20 Kilometer weiter, in der Algarve-Stadt Portimao war der Bus voll besetzt. Ab ging’s ins fast 300 Kilometer entfernte Lissabon. Die Stimmung der Buspassagiere war fröhlich. Mitgebrachte selbstgemachte Köstlichkeiten und Mehlspeisen wurden verteilt und ausgetauscht. Der Gepäckraum des Überlandreisebusses war gut gefüllt mit großen und kleinen Kühltaschen.
Kämpfen solange bis diese Regierung geht.
Ja, das ist das arme und ausgeplünderte Volk, das keine Kosten und vorallem Mühen scheut, um für ihre Interessen auf die Straße zu gehen. Die kommunistisch orientierte Gewerkschaftsvereinigung CGTP hat zur Demo aufgerufen und die Fahrtmöglichkeit organisiert. In einem Mega-Einkaufszentrum südlich des Tejo, vor den Toren Lisboas war, Mittagspause angesagt. Mitgebrachtes Essen wurde geteilt und Mehlspeisen wie beispielsweise aus Süßkartoffelteig gebacken machten die Runde. Einige Menschen gönnten sich in den zahlreichen Lokalen einen Teller Suppe, ein Getränk oder einen Kaffee.
„Ja wir haben unseren Beitrag mit Gehaltsverlusten, Pensionskürzungen und Arbeitslosigkeit geleistet. Nun, kämpfen wir solange bis auch die Regierung auf der Straße landet”, bringt es Carlos ein jugendlicher Arbeitsloser auf den Punkt. Für einen ganz normalen Arbeits-Dienstag sind doch verhältnismäßig viele junge Menschen unter den Kundgebungsteilnehmer.
Bei der Tejo-Überquerung auf der rot gestrichenen Hängebrücke „25 April” sind sehr viele Busse nach Lisboa unterwegs. Kurz danach am Ufer des Tejo, parkt eine lange mehrreihige Kette von Reisebussen aus allen Städten des Landes. Bereits zum Demonstrationsauftakt wird der Ruf nach einer neuen Nelkenrevolution laut. Was macht die portugiesische „Volksseele” so wütend? Warum nehmen die DemonstrantInnen große Strapazen und hunderte Kilometer Anreise in Kauf um gegen die politischen und gesellschaftlichen Zustände zu protestieren?
Seit 30. Oktober hatte Portugal eine neue, alte Regierung, eine Regierung der haushohen Wahlverlierer. Sie wurde nicht gewählt, sondern von Cavaco Silva, dem Präsidenten der Republik quasi als letzte Amtshandlung bestimmt und eingesetzt. Die Bevölkerung des am Rande des Abgrunds dahinsiechenden EU-Armenhauses im Südwesten Europas sollte nun ein weiteres Jahr „Sparkurs” und politische Demütigung von Amts- und von EUwegen ertragen.
„Das war und ist ein abgekartetes Spiel und wir wissen nun, wer die Mächtigen im Hause Europa und in Portugal sind. Das Wahlvolk ist es sicher nicht”, beklagt sich der Student Antonio über den Coup des obersten Portugiesen. Zum allgemeinen Verständnis: Die Wahl am 4. Oktober war für das regierende, konservative „Ein Parteien Korruptionssystem” eine absolute Niederlage. Ministerpräsident Pedro Passos Coelho und sein Vize Paolo Portas haben aus ihrer Sozialdemokratischen und Christlich Sozialen Partei durch einen Zusammenschluss eine Wahlbewegung namens “Portugal a Frente” (PaF) gemacht. 38 Prozent Stimmenanteil für PaF bedeuteten 12 Prozent Verlust und statt 125 Mandaten blieben nur 107 übrig. Auf die absolute Mehrheit fehlten mindestens neun Abgeordnetensitze.
Der erste Regierungsauftrag an Coelho/Portas war entsprechend des desaströsen Wahlergebnisses in Windeseile gescheitert. Danach haben sich im Schnellverfahren die sozialdemokratischen Sozialisten PS (86 Mandate), der relativ marxistische Linksblock BE (19 Mandate), die CDU (17 Mandate, 15 davon von der Kommunistischen Partei und zwei von den Ökologischen Grünen) und sogar eine grüne Tierschützerpartei mit einem Parlamentssitz auf die Regierungsbildung geeinigt. Doch die regierungswilligen Sozialdemokraten und die beiden linken Parteien haben die Rechnung ohne Cavaco Silva gemacht.
Spannende Frage – Wird Europa anders
Ab 15 Uhr war viel los vor der Assembleia da Republica. Ein buntes Fahnenmeer, viel Gesang, viele Superbock- und Sagres-Bierflaschen, Sprechchöre über eine einige Gewerkschaft, die erfolgreich kämpft und über ein vereinigtes unbesiegbares Volk.
Und dann wie aus heiterem Himmel, bei fast 30 Grad Spätherbsthitze, tosender und überschwänglicher Beifall, so als ob das „Nationalheiligtum” Christiano Ronaldo im „Benefica-Stadion des Lichts“ ein Tor für Portugal schießt. Das Abstimmungsergebnis im Parlament wurde durchgesagt: 123 von 230 Parlamentsabgeordneten, das sind um acht mehr als die erforderliche Mehrheit von 116, haben den Hasen (Coelho) aus dem Amt gejagt.
Nun bleibt zu hoffen, dass Portugals Präsident Cavaco Silva das Parlamentsvotum akzeptiert. Das wünschen sich die Parteichefin Catarina Martins vom Linksblock und die Mehrheit der LousitanierInnen. Die Mehrheit des Volkes erkennt und befürwortet die Notwendigkeit einer Wende für eine bessere und vor allem für eine andere Politik. Selbst die „Kronenzeitung” des Landes kommt zur Erkenntnis, dass eine Million PortugiesInnen seit der Nelkenrevolution vom 25. April 1974 keine politischen Einflussmöglichkeiten in der Regierung hat. Nichteinmal das stimmt, denn Portugal hat in diesem Zeitraum von mehr als 40 Jahren um die elf Millionen Einwohner. Linke und kommunistische Parteien hatten bei allen Wahlen einen Stimmenanteil um die 20 Prozent. Deshalb wurden nach Adam Riese mindestens zwei und nicht eine Million Menschen mehr oder weniger um ihre politische Einflussnahme betrogen. Beim Fußvolk war das „Vertrauen in die Märkte” und in die „heilsbringende” Botschaft der Troika nicht angekommen. Es hat den Glauben an die „EU-Retter in der Not” aufgegeben und erkannt, dass es anders werden muss. Fragt sich nur, ob die PolitikerInnen des Landes das auch so sehen und der EU- und Finanzmacht in die Parade fahren.
Einer der vielen Kundgebungsteilnehmer namens Marco aus Faro brachte es am Ende der Demo auf den Punkt. „Wir werden sehen, das ist erst der Anfang und: unser Kampf geht weiter – A luta continua!“ „Bis zum nächsten Mal”, lautete der allgemeine Abschiedsgruß zur lauen windstillen mitternächtlichen Stunde an der Atlantikküste in Lagos.
Martin Wachter ist Herausgeber des UHUDLA, die älteste und rebellischste Straßenzeitung Österreichs. Er lebt in Portugal.
Fotos: Martin Wachter (UHUDLA)