Geschlecht als Fluchtgrund

Asylkalender_Tag23Frauen, die fliehen, sind spezifischen Diskriminierungsmechanismen ausgesetzt – auf der Flucht, im Asylverfahren, am Arbeitsmarkt und in der Unterbringung.

Ein Gastbeitrag von Jasmin Kassai

Asylkalender, 23. Dezember 2015.

Laut der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR waren 2013 knapp die Hälfte aller geflüchteten Personen weltweit Frauen und Mädchen*. Davon schaffen es nur wenige nach Europa. Dem Bundesministerium für Inneres zufolge wurden in Österreich bis einschließlich September 2015 rund 24 Prozent aller Asylanträge von Frauen gestellt.

Frauen* fliehen genauso wie Männer* auf Grund von Armut, Krieg, Folter, staatlicher Repression oder anderen Menschenrechtsverletzungen, aber auch wegen geschlechtsspezifischen Fluchtursachen, die fast ausschließlich Frauen betreffen: Genitalverstümmelung, Vergewaltigung (im Rahmen von Bürgerkriegen und anderen Konflikten), Steinigung, Ehrenmorde, Zwangsprostitution, Zwangsabtreibung, Zwangsverheiratung, Verweigerung von Arbeit und Bildung etc. Trotzdem sind frauenspezifische Fluchtgründe in der Judikatur und in der behördlichen Praxis in Österreich nicht explizit aufgearbeitet.

Für Frauen ist die Flucht in der Regel viel beschwerlicher als für Männer. Durch Illegalisierung und die Abhängigkeit von SchlepperInnen sind Frauen häufig speziellen Ausbeutungsmechanismen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Oft kommen sie aus sozioökonomisch schwächeren Verhältnissen als Männer auf der Flucht. Sie sind gezwungen, als Haushaltshilfe zu arbeiten oder sich zu prostituieren, um SchlepperInnen bezahlen zu können. Vor allem Frauen, die alleine unterwegs sind, sind häufiger Gewalt ausgesetzt und begegnen individuellen Fluchtursachen auf der Flucht wieder.

Geschlecht als soziale Gruppe

Die Genfer Flüchtlingskonvention schützt jene Personen, die auf Grund von „Rasse (sic!), Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung“ von staatlicher Seite verfolgt werden – Geschlecht findet keine Erwähnung. Fluchtgründe, die nur Frauen betreffen, können somit nur unter der sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung subsumiert werden. Dadurch ergibt sich Raum für behördliche Willkür und die betroffenen Personen sind umso stärker von guter juristischer Betreuung abhängig. Zudem kommen patriarchale Denkmuster auch in der Beurteilung von frauenspezifischen Fluchtgründen in der Rechtsprechung zum Tragen.

Frauen fliehen vor staatlicher Repression, die speziell gegen sie gerichtet ist und darauf abzielt, Frauen innerhalb eines Systems gewisse Funktionen zuzuweisen. Eine Zuteilung nach der Genfer Flüchtlingskonvention fällt hier schwer, vor allem wenn es nicht um staatsreligiöse, sondern „nur“ traditionelle Wertvorstellungen geht. Daraus ergibt sich für betroffene Frauen kein gezielt individueller Nachteil, sondern eine strukturelle Diskriminierung beruflicher und privater Natur. In der Vergangenheit wurden Asylanträge von afghanischen Frauen auf der Flucht vor dem Taliban-Regime daher auf Grund fehlender Zielgerichtetheit der Verfolgung abgelehnt.

Anahita Tasharofi arbeitet als Dolmetscherin bei Hemayat – einem Wiener Verein, der traumatisierten Folter- und Kriegsüberlebenden dolmetschgestützte psychotherapeutische Unterstützung anbietet. Vor einem halben Jahr lernte sie eine junge afghanische Frau kennen, die freiwillig in ihr Herkunftsland zurückging, nachdem ihr Asyl in Schweden verwehrt wurde und die österreichischen Behörden sie auf Grund von Dublin III wieder in das Erstankunftsland Schweden zurückschicken wollten. „Sie ist geflohen, weil ihr in Afghanistan die Zwangsheirat bevorstand und sie Morddrohungen vom eigenen Vater erhalten hatte. Es ist erschreckend, dass einer jungen Frau in Europa kein Schutz geboten wird und sie freiwillig in das Land zurückkehrt, wo ihr der Tod bevorsteht!“, so Anahita Tasharofi.

Verborgene Fluchtgründe

Eine weitere wesentliche Hürde für geflüchtete Frauen ist der Erstkontakt mit hiesigen Behörden. Bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung gilt grundsätzlich §20 des Asylgesetzes 2005, der besagt, dass betroffene Personen von einem/r gleichgeschlechtlichen Organwalter/in, sofern nicht anders gewünscht, einvernommen werden müssen. In der Praxis gibt es mit dieser Regelung jedoch viele Probleme. Frauen werden bei der Erstbefragung meist nicht einmal über dieses Recht informiert. Erschwerend kommt hinzu, dass Frauen auf nicht sensibilisierte und psychologisch ungeschulte BeamtInnen treffen und nicht das nötige Vertrauen aufbauen können, um über ihren geschlechtsspezifischen Fluchthintergrund zu erzählen.

Denjenigen, die den Mut aufbringen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, wird oft nicht geglaubt und vorgeworfen, sie hätten sich die Ereignisse ausgedacht. Als Beweis wird nach Papieren gefragt, um die Fluchtursachen zu belegen. Wenn überhaupt, werden frauenspezifische Fluchtursachen deshalb meist sehr spät eingebracht. Das Asylgesetz sieht jedoch grundsätzlich vor, dass Begründungen unverzüglich in einem Verfahren vorgebracht werden müssen – dafür sorgt das sogenannte Neuerungsverbot. Dieses besagt, dass Tatsachen und Beweismittel, die nicht bis zum Ende der ersten Instanz eingebracht wurden, auch im Beschwerdeverfahren nicht vorgebracht werden dürfen.

Patriarchale Rechtssprechung

Das österreichische Asylgesetz bezieht sich auf mehrere internationale Rechtsgrundlagen wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und die EU-Richtlinien über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als geflüchtete Person. Diese Rechtsvorschriften sind völkerrechtliche Verträge, die auf einer patriarchalen Logik beruhen, und in erster Linie den öffentlichen Lebensbereich, der Männern zugeschrieben wird, beachten.

Viele Frauen verbringen aber viel Zeit im privaten Umfeld, wo ein Großteil der Rechtsverletzungen gegenüber Frauen stattfindet. Traditionell wird der Asylstatus jedoch nicht durch Gewalt an Privatpersonen begründet, sondern durch staatliche Verfolgung. Frauenspezifische Fluchtgründe, wie häusliche Gewalt oder Zwangsheirat, die im Privaten durch nicht-staatliche Akteur_innen geschehen, finden in vielen Ländern keine oder nur schwierig Anerkennung. In Österreich werden frauenspezifische Fluchtgründe oft erst ab der zweiten Instanz berücksichtigt.

Prekarität

In Österreich angekommen, erwartet viele geflüchtete Frauen eine menschenunwürdige Unterbringungssituation. Im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, das für 1.800 Personen eingerichtet ist, wurden zu Spitzenzeiten bis zu 5.000 Menschen einquartiert. Dort gibt es keine gesonderten Bereiche für Frauen. Auch getrennte Sanitäranlagen oder Absperrmöglichkeiten für Duschen waren nicht zu jeder Zeit vorhanden. Der Zugang zu medizinischer und psychologischer Versorgung ist völlig unzureichend, wie erst kürzlich ein Bericht von Ärzte ohne Grenzen schilderte. Schwangere Frauen werden im Freien in Zelten untergebracht und müssen teilweise auch unter diesen Bedingungen gebären.

Der Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt ist für AsylwerberInnen sehr restriktiv. Grundsätzlich darf drei Monate nach Antragsstellung eine Lohnarbeit ausgeübt werden. Diese Arbeitserlaubnis gilt auch bei Bewilligung, jedoch aufgrund des Bartenstein-Erlasses nur für Gastronomie sowie Land und Forstwirtschaft. Das kommt praktisch einem Arbeitsverbot für AsylwerberInnen gleich. Außerdem dürfen AsylwerberInnen das Bundesland, in dem sie untergebracht sind, nicht verlassen, da sie sonst ihren Platz in der Grundversorgung verlieren. Eine Option ist die selbstständige Erwerbstätigkeit – den Gewerbeschein zu erlangen, gestaltet sich in der Praxis jedoch als äußerst kompliziert. Für jene Frauen, die aus ihrem Herkunftsland vor sexueller Gewalt, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen geflohen sind, ergibt sich somit eine einzige Nische der legalen Erwerbstätigkeit: die (selbstständige) Sexarbeit.

Durch die rassistische Gesetzgebung gliedert der Staat unterschiedliche Gruppen (InländerInnen, AusländerInnen) mit unterschiedlichen Rechten in das Produktionsverhältnis ein und gewährt ihnen je nach sozialem Status mehr oder weniger Rechte. AsylwerberInnen werden in extrem prekäre Arbeitsverhältnisse und eine verletzbare Situation gedrängt. Zudem wird die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (Lohn- vs. Reproduktionsarbeit) durch eine rassistische Arbeitsteilung ergänzt: Die soziale Reproduktionsarbeit (Hausarbeit, Sexarbeit etc.) wird zunehmend an Migrantinnen weitergereicht. Es entsteht eine Spaltung der Arbeitskräfte und die Reproduktionskosten in einem kapitalistischen System werden niedrig gehalten.

LGBTIQ

Viele Menschen müssen fliehen, weil sie in ihrem Herkunftsland trans-, inter- oder homophober Gewalt ausgeliefert sind. In Österreich treffen sie auf strukturelle Diskriminierung und Unverständnis. Oft wird homo-, bi-, trans-, intersexuellen und queeren (LGBTIQ) AsylwerberInnen das Bleiberecht verwehrt, mit der Begründung, sie könnten in ihrem Herkunftsland Verfolgung vermeiden, indem sie ihre sexuelle Orientierung verbergen. Oder ihr Fluchtgrund wird als nicht glaubwürdig oder nicht nachweisbar bewertet.

Während und nach dem Verfahren wird kein adäquater Schutzraum von Seiten der Behörden geboten, ganz im Gegenteil: LGBTIQ-Personen werden mit vielen anderen, womöglich homo- oder transphoben Geflüchteten untergebracht und laufen Gefahr Gewalt- und Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Viele Unterkünfte befinden sich außerhalb von urbanen Ballungsräumen, ohne Zugang zu Beratung und Unterstützung durch die LGBTIQ-Community oder NGOs.

Auch LGBTIQ-AsylwerberInnen werden am Arbeitsmarkt in die prekäre Sexarbeit gedrängt. Erst Anfang des Jahres wurde Hande Öncü, welche sich als Asylwerber/in, Transfrau und Sexarbeiter/in in einer extrem prekären Situation befand, in Wien ermordet.

Jasmin Kassai studiert Medizin an der MedUni Wien (der Artikel erschien zuerst auf progress-online.at, dem Magazin der österreichischen Hochschülerschaft)

Anlaufstellen und Möglichkeiten, sich zu engagieren:

Grafik: Niklas Böck
Foto: flickr.com (Masser; Lizenz: CC BY-SA 2.0)

* Im Originalartikel wurden die Begriffe Frauen, Mädchen und Männer durchgängig mit Sternchen versehen, als Zeichen für gendergerechte Sprache, die Menschen jenseits der Mann-Frau-Binarität einschließen möchte.

Asylkalender:

  1. Dezember: „Asyl-Fakten interessieren doch Rechte gar nicht.“
  2. Dezember: „Asylwerber bekommen Geld für’s Nichtstun“
  3. Dezember: Lugar: Syrer sollen „dort für ihr Land kämpfen“
  4. Dezember: „70 Prozent sind in Wahrheit Wirtschaftsflüchtlinge“
  5. Dezember: „Besonders in den vergangenen Jahren ist Kriminalität systematisch importiert worden.“
  6. Dezember: Österreich ohne Zuwanderung: Ärmer, älter und ziemlich fad
  7. Dezember: Das Märchen vom Sozialtourismus
  8. Dezember: Die irrationale Angst, die „Minderheit im eigenen Land“ zu sein
  9. Dezember: „Dutzende IS-Terroristen im Flüchtlingsstrom“
  10. Dezember: „Warum kommen nur junge Männer nach Österreich?!“
  11. Dezember: Alles Fachkräfte oder Lumpenproletariat? Wurst.
  12. Dezember: „Wir können doch nicht alle nehmen!“
  13. Dezember: Was bedeutet eigentlich „vor Ort helfen?“
  14. Dezember: Strache lügt – oder kennt die Menschenrechte nicht
  15. Dezember: 10 Mio Euro: Grenz-Zaun oder Deutsch-Kurse für 10.000 Menschen.
  16. Dezember: In der Schule zählt nicht woher du kommst, sondern wieviel du hast
  17. Dezember: Wir verschenken ein Buch gegen Vorurteile
  18. Dezember: „Warum nehmt ihr nicht Flüchtlinge bei euch zu Hause auf?“
  19. Dezember: „Die Islamisten lassen uns in ihren Ländern auch keine Kirchen bauen.“
  20. Dezember: „Asylanten haben ’ne ganz andere Religion als wir“
  21. Dezember: „Wir bringen dem Nahen Osten die Demokratie!“
  22. Dezember: „Was denken sich diese Flüchtlinge eigentlich dabei?“
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