[3K – Massenmedien am Montag: Folge 51]
Mein liebster Geschichtslehrer Herr K. (ein netter Christlich-Liberaler) erzählte einmal schmunzelnd, er sei mit seiner Gattin aneinandergeraten, weil er sich ernsthaft den Brockhaus bestellen wollte. Die Gesamtausgabe des Nachschlagewerks hatte damals den Preis eines guten Gebrauchtwagens. Wenn ich mich recht entsinne, verwies irgendwer darauf, er könne doch die Wikipedia nutzen.
Mein verhasstester Ex-Geschichtslehrer Herr W. (ein verschrobener, islamophober Reaktionär) erzählte gerne von seiner Flucht aus der SBZ. Dann merkte W., dass er gut 2000 Jahre mit dem Lehrplan hinterher war und trug uns auf, den Stoff in Referaten abzuhandeln. Alle nutzten die Wikipedia zumindest zur Orientierung. Herrn W. war das Weltnetz, wie es Deutschtümler nennen, herzlich unbekannt, damit auch die Wikipedia.
An der Wiener Publizistik ist sie als wissenschaftliche Quelle offiziell unzulässig. Zeitgleich nutzen Lehrende an diesem und anderen Wiener Instituten wie im Ausland die Plattform für akademische Zwecke. Beide Linien sind nachvollziehbar.
Wurde das World Wide Web einst als endgültige Demokratisierung der Massenkommunikation gefeiert, so galt Jimmy Wales Erfindung bei der Gründung 2001 als endgültige Demokratisierung des bekannten menschlichen Wissens. Verlage und Herausgeber zitterten wie sonst nur Herr W. vor Fatima und dem Russen. Viele WissenschaftlerInnen gehen stärker als je zuvor dazu über, ihre Studien und Theoriebeiträge frei zugänglich zu machen, anstatt ihre Verwertungsrechte an Konzerne wie Springer abzutreten (Diese verstecken Artikel hinter horrenden Paywalls). Freischaffende oder befristet angestellte ForscherInnen verschärfen so die eigene Prekarität ohne gesicherte Reichweite.
KritikerInnen verweisen auf die krassen Qualitätsunterschiede innerhalb der Wikipedia. So gehen einige Artikel kaum über den Kurzinfokasten oder das Verzeichnis hinaus. Das ist das zwangsläufige Symptom einer frei zugänglichen Nonprofit-Plattform, an der (Internetanschluss vorausgesetzt) alle Menschen auch ohne Kenntnis wissenschaftlicher oder der Wikipedia-Prinzipien mitwirken können. Dafür ist nicht das Tool verantwortlich, sondern die Bildung, welche Medienkompetenz zu vermitteln hat. So könnten Wikipedia-Artikel als spielerische Erklärungsschablone wissenschaftlicher Praxis dienen, da sie grundsätzlich niemals fertig sind.
Im selben Maße, in dem das Web keine freie Spielwiese mehr ist, sondern durch die Monopole Facebook und Google kolonisiert wird, bleibt auch die Wikipedia von Angriffen kommerzieller und staatlicher PR sowie Verschwörungstheorien nicht verschont. Unternehmen und Regime löschen Unliebsames oder schreiben es mit etwas Geduld und Übung um. Mal fällt das auf, mal weniger, je nachdem, wie geschickt die beauftragten UserInnen sind. Dennoch bleibt das Modell beliebt und erfolgreich: Nazis, Nerds und Normalos nutzen Wikis – allen voran die Wikipedia. Und bis auf die Nazis, PR und Propaganda ist das auch okay.
Foto: Martin Fisch – Happy Birthday (#cc) (Lizenz: CC BY-SA 2.0)