O muro de Brasília – Die Mauer von Brasília

GrazielleDie Gesellschaft in Brasilien ist tief gespalten – Interview mit Gesundheitsökonomin und Budgetexpertin Grazielle Custódio David vom Instituto de Estudos Socioeconômicos (INESC)

von Stefan Salzmann

*** ENGLISH VERSION ***

Rousseff Amtsenthebung, Rousseff Korruption, Rousseff Machtkampf – Nimmt man die sich ständig wiederholenden Überschriften der Massenmedien für bare Münze, ist die brasilianische Praesidentin Dilma Rouseff (Arbeiterpartei PT) bis über beide Ohren korrupt und wird demnächst zu Recht des Amtes enthoben.

Neben den bekanntesten Printmedien beteiligten sich die staatlichen Fernsehanstalten ARD, ZDF und ORF an der Berichterstattung, in der lang und breit über die “regierungskritischen” Demonstrationen der rechtsgerichteten Opposition berichtet wurde.

Was man in unseren Zeitschriften und Fernsehsendern jedoch nicht sah, waren die riesigen Gegendemonstrationen des Pro-Dilma Lagers, welche mit zahlreicher Beteiligung der sozialen Bewegungen Brasiliens wie z.B. Brigadas Populares, Frente Brasil Popular, Povo sem Medo…, den Gewerkschaften (CUT), den Kleinbauern (MST), den Frauenorganisationen (Marcha das Margaridas), den Vereinigungen der LGBT Community, den Farbigenvereinigungen und den Studentenverbänden (UNE) stattfanden.

Da ich zu dieser spannenden Zeit zwei Wochen in der Nähe des Regierungsviertel Esplanada in Brasilia verbracht habe, ergab sich des öfteren die Gelegenheit, mit den ortsansässigen Leuten ins Gespräch zu kommen. Dabei hat sich mein Eindruck bestätigt, dass die in der Heimat gebotene Berichterstattung einseitig, und ganz klar parteiisch ist. Besonders die älteren Brasilianerinnen und Brasilianer haben die Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 noch zu gut in Erinnerung, die tiefe Spaltung der Gesellschaft weckt berechtigte Ängste über einen neuen Putsch von rechts.

Die gesellschaftliche Spaltung manifestierte sich in der Woche vor der Abstimmung über die Amtsenthebung (Impeachment), als am Montag eine kilometerlange Stahlblech-Trennmauer durch das Regierungsviertel gezogen wurde. Diese etwas über 2 Meter hohe Mauer sollte verhindern, dass die zwei entgegengesetzen Demonstrationszüge aneinandergeraten und es zu ernsthaften, gewalttätigen Ausschreitungen kommt.

Um den Leserinnen und Lesern einen Einblick aus der Sicht einer lokalen Politikexpertin zu ermöglichen, habe ich die studierte Gesundheitsökonomin und Budgetexpertin Grazielle Custódio David von der brasilianischen NGO Instituto de Estudos Socioeconômicos (INESC), um ein Interview für Unsere Zeitung gebeten – und promt eine Zusage bekommen.

Stefan Salzmann: Grazielle, was sind deiner Meinung nach die Gründe für die derzeitigen Vorgänge, für den derzeit stattfindenden Putsch?

Grazielle Custodio David: Für die Beantwortung dieser Frage müssen wir den Fokus auf zwei Aspekte legen. Der erste Aspekt ist die Internationale Sicht dieser Vorgänge. Es scheint eine fortdauernde Attacke auf die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika zu geben, denn all diese Länder durchlaufen gegenwärtig eine Wirtschaftskrise.

Seit der Entdeckung der riesigen „Libra“ Ölfelder nahe der Küste von Rio de Janeiro, und verschärft seit der Gründung der „New Development Bank BRICS“ im Jahre 2014, sank der Ölpreis von 115 Dollar pro Barrel auf 29 Dollar pro Barrel, was eine massive Bedrohung für die Volkswirtschaften der BRICS-Staaten darstellt und die jeweiligen Staatshaushalte außerordentlich belastet. Es ist jedoch nicht nur der Verfall des Ölpreises, denn auch die wichtigsten Rohstoffpreise sind eingebrochen, was für Brasilien ein großes Problem darstellt.

Der Budgetspielraum der Regierung wurde dadurch sehr stark eingeengt, und ohne staatliche Investitionen wachsen unsere Wirtschaften derzeit nicht. Letztes Jahr schrumpfte die Brasilianische Wirtschaft sogar um 3 Prozent.Die Wirtschaftskrise ist real, und mit der negativen Außenhandelsbilanz beschleunigt sich die Abwärtsspirale zusehends.

An dieser Stelle kommen wir zur nationalen Betrachtung des wirtschaftlichen Hintergrunds der politischen Krise.

Brasilien fehlt es an wirtschaftlicher Vielfalt, durch diese unterentwickelte Diversität sind wir sehr abhängig von der internationalen Wirtschaft, brauchen Importe und sind nicht zuletzt anfällig für wirtschaftliche Angriffe.

Die Gesellschaft ist von einer immensen Ungleichheit geprägt, die sozialen Programme sowie die Bildungsoffensiven der letzten Jahre hatten nicht genug Zeit um auf größere Teile der Gesellschaft ausreichend zu wirken. Mit der zu geringen Anzahl von gut ausgebildeten Menschen fällt es uns schwer, aus den alten Strukturen herauszuwachsen und unsere Wirtschaft zu verbessern. Dadurch ist der benötigte Fortschritt erlahmt, und die so dringend benötigte Diversifikation rückt in weite Ferne.

Da unsere Krise jedoch nicht nur wirtschaftlicher, sondern zugleich auch politischer Natur ist, gehe ich auf die Anfänge der aktuellen Vorgänge ein.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen von 2014 konnte Dilma Rousseff ihren Vorsprung um 3 Prozent ausbauen, und mit insgesamt 54 Millionen Stimmen als Wahlsiegerin aus der Wahl hervorgehen. Der rechtsgerichtete Gegenkandidat Aécio Neves (PSDBPartido da Social Democracia Brasileira) hat nach der Wahl angekündigt, dass er das Wahlergebnis nicht akzeptieren wird. Und das ist es auch, was die gesamten rechten und konservativen Parteien seit diesem Zeitpunkt taten, sie akzeptierten das Wahlergebnis von Oktober 2014 einfach nicht.

Damals begann eine in der Tat verschwörerische Aktivität, die zum Ziel hatte, die gewählte Präsidentin in einem sehr gut organisierten Zusammenschluss mit der größten Partei im Senat (PMDB – Partido do Movimento Democrático Brasileiro) das Amt abzunehmen. Alles gegen die PT, das ist der Slogan dieses Zusammenschlusses.

Nach den in Serie verlorenen Wahlen sieht der Plan zur Machtergreifung nun so aus, dass Rousseff mittels Amtsenthebung entfernt werden soll, gemäß der in diesem Fall greifenden Regelung erhält der Vizepräsident Michel Temer von der PMDB für 180 Tage das Amt. Die brasilianischen Massenmedien wie O Globo, die Richterschaft, und die wirtschaftliche Elite des Landes unterstützen das Projekt massiv.

Seite 2: Gibt es überhaupt einen stichhaltigen Beweis gegen Dilma?

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