Für mich als Europäer klingt das nach massiv rassistischen und sozialdarwinistischen Motiven.
Das ist noch nicht alles. Die monetäre Oberschicht erwartet sich von lohngedumpten, rechtlosen Landarbeitern, billigen Arbeitern und Angestellten in Gewerbe und Industrie eine höhere Profitspanne in den Betrieben, und größere Chancen am Weltmarkt. Sie glauben an einen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Ausbeutung der Armen – und verwenden dafür sehr schicke Begriffe wie „Flexibles Arbeitsrecht“ oder „Flexibilisierung der Arbeit“.
Vielen Dank für die Bestätigung meiner Vermutung. Aber, wie kann diese kleine Minderheit so viele Demonstranten auf die Straße bringen, und in der Öffentlichen Diskussion die Meinungsführerschaft gewinnen?
Hier kommt die brasilianische Medienoligarchie ins Spiel. Der Medien-“Markt“ wird von einer handvoll Familien kontrolliert, zum Beispiel besitzt die Marinho Familie 69 verschiedene Medienformate, mit der bekanntesten und größten Marke „O Globo“. Mit 27 Fernsehsendern kommt die „Central Record de Comunicação” des evangelikalen Bischofs Edir Macedo auf den zweiten Platz. Die SBT-Gruppe der Familie Silvio Santos liegt am dritten Platz, die “Grupo Bandeirantes” der Saad Familie liegt mit 47 TV Sendern an der vierten Stelle.
Die verdrehten Aussagen dieser Medien ist grundsätzlich dieselbe: Es ist keine internationale Krise, sondern die Schuld der brasilianischen Regierung. Dilma Rousseff ist eine schlechte Präsidentin, die schlechteste der Geschichte. Es ist ihre Schuld, dass die Wirtschaft am Boden ist. Auch ein guter Witz: Wenn die Arbeiterpartei (PT) abgesetzt ist, verschwindet die Korruption endgültig aus Brasilien.
Tragischerweise gibt es keine ernstzunehmenden alternativen Medien, weder im Printbereich noch im Fernsehformat. Der öffentlich-rechtliche Sender „TV-Brasil“ wurde 2007 gegründet, und hat seitdem permanent niedrige Einschaltquoten. Gegen aufstrebende alternative Medien im Internet haben die Rechtspolitiker bereits eine Antwort parat: Das Internet soll limitiert werden. Eine Forderung, die nach einem möglicherweise erfolgreichen Putsch bestimmt wiederholt zu hören sein wird, wenn sich der zivile Widerstand im Internet formiert und organisiert.
Was sind die interessantesten, und relevantesten Rohstoffe in Brasilien?
Brasilien hat einen großen Vorrat an Bodenschätzen, hier seien Eisen und das seltene Niob (Columbium, ein sogenanntes „Konfliktmineral“) genannt. Die interessanteste Ressource ist aber ohne Zweifel der Ölvorrat des Landes.
Seit der Entdeckung des „Libra“ Ölfeldes, 150km von der Küste Rio de Janeiros, ist der Ölvorrat um weitere 12 Milliarden Barrel Öl gestiegen. Jose Serra von der PSDB, der Senator Sao Paulos, ist einer der stärksten Befürworter einer Privatisierung der staatlichen Ölgesellschaft Petrobras.
Es ist eine Hauptforderung dieser sogenannten „Elite von Brasilien“, alles zu privatisieren was sich im staatlichen Besitz befindet. Sie möchten die ertragreiche Banco do Brasil S.A. privatisieren, die Brasilianische Zentralbank sollte „unabhängig“ werden. Von was sie unabhängig werden soll, verraten sie nicht. „Für eine größere Auswahlmöglichkeit und eine gesteigerte Effizient“ sollte das öffentliche Gesundheitssystem privatisiert werden.
Diese Argumente sind uns auch in Europa bestens bekannt. Zum Ende dieses Interviews, wie sieht deine persönliche Prognose für die nächsten Monate in Brasilien aus?
So wie die Dinge stehen, wird Dilma für 180 Tage suspendiert, dafür sind lediglich die Hälfte der Senatoren plus eine Stimme (41) notwendig. Während dieser Zeit wird der Senat die Anschuldigungen prüfen und über eine Amtsenthebung abstimmen.
Wenn der Vizepräsident Michel Temer tatsächlich an die Macht gelangt, wird er diese Gelegenheit nutzen um seine neoliberale Agenda durchzubringen, wie er sie bereits angekündigt hat: Schwächung des Arbeitsrechts, radikale Kürzung des Sozialsystems, Pensionseinschnitte und so weiter. (Schocktherapie)
Das schlimmste Szenario tritt ein, wenn die rechte Interimsregierung Geld vom Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnimmt, und diesen Kredit mit der Finanzierung des Sozialsystems begründet. Mit dieser Argumentation würde er große Proteste gegen ihn und die Weltbank vermeiden, und hätte zeitgleich sein Ziel erreicht, den IWF ins Land zu lassen. Diese neue Strategie scheint besonders perfide, da sich der IWF seines Images in Lateinamerika durchaus bewusst ist. Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt.
Vielen Dank für das Interview, Grazielle.
Die nächsten Wochen in Brasilien bleiben spannend. Die Gesellschaft ist durch die politische Kampagne, die wirtschaftliche Krise und die hetzerische Presse polarisiert. Auch wenn die Mauer in Brasília eines Tages wieder abgebaut wird, die gesellschaftliche Spaltung wird bestehen bleiben. Während des Interviews wähnte ich mich mitten in einem hochbrisanten Politkrimi. Dieser Krimi ist jedoch keine Fiktion, sondern die traurige Realität eines Landes mit 200 Millionen Einwohnern. Die finale Entscheidung über Dilma Rousseffs Amtsenthebung fällt am 17. Mai, man kann nur gespannt auf den Ausgang dieser unwürdigen Schauspiels warten. Der Druck der Straße wird hier ebenso eine Rolle spielen wie die internationalen Beobachter.
Stefan Salzmann ist technischer Angestellter und Gemeinderat in St. Paul im Lavanttal
Grazielle David hat einen Masterabschluss in Public Health Economics und ist eine Expertin der brasilianischen Gesundheitsgesetzgebung (Fiocruz) und der Bioethik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Gesundheitsbudget und der Staatshaushalt Brasiliens, innerhalb INESC ist sie als Politische Beraterin tätig und befasst sich mit Budgetanalysen sowie Steuergerechtigkeit.
INESC – wird neben vielen anderen Partnerschaften auch von der German Heinrich Boell Stiftung, Oxfam, Unicef und der Europäischen Union unterstützt.
The wall in Brasilia – Das Interview auf Englisch zum Download (pdf)
Fotos: Grazielle David (fito.edu.br); Titelbild: O muro de Brasília (Quelle: paraibanoticia.com, Foto: DIDA SAMPAIO/ESTADÃO CONTEÚDO)