Am vergangenen Montag-Abend, 2. Mai 2016, wurde Mark Selby zum zweiten Mal in seiner Karriere Snooker-Weltmeister. In seiner Heimatstadt, Leicester in den englischen Midlands, ging das zu diesem Zeitpunkt ein bisschen unter: Nur ein paar Augenblicke zuvor hatte nämlich der Leicester City Football Club erstmals die englische Fußballmeisterschaft gewonnen.
Die Jungs aus Leicester „gewannen“ den Titel vor dem TV-Bildschirm. Da Verfolger Tottenham im Montagsspiel der Premier League nur ein 2:2 bei Chelsea erreichte, sind die „Foxes“ in den letzten beiden Runden nicht mehr von der Tabellenspitze zu verdrängen. Womit wohl eine der größten Überraschungen der englischen Fuballgeschichte realisiert wurde. Erst vor zwei Jahren der zweiten Leistungsstufe entsprungen, in der Vorsaison knapp dem Abstieg entronnen, in die nunmehrige Saison als Abstiegskandidat und 1:5000-Außenseiter gestartet, hält Leicester gegenwärtig bei nur drei Meisterschaftsniederlagen und sieben Punkten Vorsprung auf die zweitplatzierten „Spurs“ aus Nordlondon. Ein Fußballmärchen, das in Zeiten der Scheich- und Oligarchenvereine erfrischend und beruhigend wirkt – und das doch, wie es mit dem Wahrheitsgehalt eben so ist bei Märchen, nur bedingt eine tatsächliche Antithese darstellt. Aber eines nach dem anderen.
Leicester ist für sich genommen schon eine interessante Stadt: Eine römische Gründung, sächsisch wiederbesiedelt, zwischenzeitlich dänisch erobert, schließlich normannisch übernommen; bedeutender Standort der industriellen Revolution, im 20. Jahrhundert entsprechender Niedergang – bis hierhin ein Spiegelbild englischer Geschichte. Die 300.000-Einwohner-Stadt hat auch einige bekannte Persönlichkeiten geboren, darunter u.a. Graham „not the Messiah“ Chapman (Monty Python), Jon Lord (Deep Purple), Joseph Merrick (der „Elefantenmensch“), der bereits erwähnte Selby sowie einige Fußballspieler, hierunter sodann Torhüterlegende Peter Shilton sowie niemand geringerer als das angehende Unterhosenmodel Gary Lineker. Der Leichnam von König Richard III. wiederum wurde, nach der entscheidenden und für ihn tödlichen militärischen Niederlage in der Nähe, in Leicester geschändet und verscharrt, erst vor vier Jahren unter einem Supermarktparkplatz wieder entdeckt. Der Sänger Engelbert (Humperdinck), der in Wirklichkeit natürlich ganz anders heißt, gehört auch zu Leicester, wenngleich er in Indien geboren wurde. Einen – im Gegensatz zu Engelbert – tatsächlichen indischen Migrationshintergrund haben übrigens an die 40 Prozent der Bevölkerung von Leicester. Das ist in Großbritannien einzigartig – wie auch der jüngste Siegeszug des Leicester City F.C.
Viele Akteure von Leicester City waren – ein wenig respektlos gesagt – in gewisser Weise gestrandet, aussortiert oder zumindest unterschätzt. Torwart Kasper Schmeichel stand im Schatten seines Übervaters Peter. Schmeichels australischer Backup Mark Schwarzer befindet sich in der Gleitpension. Der jamaikanische Mannschaftskapitän Wes Morgan (nein, keine Verbindung zu „Captain Morgan“-Rum) verbrachte lange Jahre unterklassig. Top-Torjäger Jamie Vardy spielte vor ein paar Jahren noch mit elektronischer Fußfessel in Liga 7 bis 8. Andere Spieler, darunter Danny Drinkwater, Robert Huth und auch ÖFB-Teamkapitän Christian Fuchs, wechselten zu Leicester, als sie andernorts auf dem Abstellgleis gelandet waren. Selbst der italienische Trainer Claudio Ranieri ist vom Fußballleben gezeichnet: Gerade mal zwei Pokalsiege waren auf der verblassten Habenseite seiner langen Karriere, seinen vorherigen Job als griechischer Teamchef verlor er nach nur vier Spielen und einer abschließenden 0:1-Niederlage in der EM-Qualifikation gegen die Färöer (Pepi Hickersberger lässt grüßen).
Zu Saisonbeginn waren das am Papier denkbar schlechte Voraussetzungen, um in der Premier League den Klassenerhalt zu schaffen. Dass die Gestrandeten jedoch nochmals durchstarten konnten – freilich unter dem Zutun von entweder glücklich oder brillant gescouteten Zukunftsaktien wie Riyad Mahrez und N’Golo Kanté – und nun am anderen, oberen Ende der Tabelle landeten, ist nicht nur eine Sensation, sondern eben der Stoff, aus dem Träume und Legenden sind. An diese Saison wird man sich in Leicester noch erinnern, wenn der Klub in ein paar Jahrzehnten längst wieder ordnungsgemäß in anderen, unteren und vermutlich unterklassigen Sphären spielt. Davor spielt’s aber freilich noch in der kommenden Spielzeit Champions League.
Stellt sich unweigerlich die Frage: Schießt Geld doch keine Tore? Die Budgets im Bereich von rund einer halben Milliarde Euro, die es bei Manchester City, Manchester United, Chelsea, Arsenal oder Liverpool gibt – ein Mehrfaches der Mittel von Leicester – reichen nicht, um Christian und den anderen Füchsen die Stirn zu bieten? Kann eigentlich nicht sein. Wahre Märchen gibt es nicht, oder?
Natürlich hat Leicester auch seinen „Big Spender“. Der kommt zwar nicht aus einem Golfstaat, aus den USA oder aus Russland, sondern ist ein Märchenprinz aus Thailand: Der Milliardär Vichai Srivaddhanaprabha ist Gründer und CEO der „King Power International Group“, die ihr Geld hauptsächlich mit Duty-Free-Läden macht und in Leicester stadionnamensgebend ist. Über das Konsortium „Asian Football Investments“ ist Srivaddhanaprabha seit 2010 Eigentümer des Leicester City F.C. sowie dessen Präsident. Und es wird wie üblich agiert: Passen die hochgesteckten Ziele zeitnah nicht, wird durchregiert, wie man es von Roman Abramowitsch über Khaldoon Al Mubarak bis Dietrich Mateschitz kennt. Davon können auch prominente Ex-Manager von Srivaddhanaprabhas Gnaden wie Sven-Göran Eriksson oder Paulo Sousa ein Lied singen; Nigel Pearson musste sogar trotz PL-Aufstiegs Ranieri weichen. Die finanziellen Summen, die in Leicester im Spiel sind, sind durchaus relevant. Deutlich geringer als bei den Großklubs, die die Meisterschaft normalerweise unter sich ausmachen, aber offenbar ausreichend, um sehr wohl ein schlagkräftiges Team auf den Platz zu schicken. Der Unterschied ist, dass Leicester noch keine astronomischen Beträge für das Abwerben von Spielern und keine unmoralischen Gehälter für deren Unterhalt ausgibt, aber genau das wird sich freilich ändern (müssen), will man z.B. Vardy oder Mahrez halten bzw. ersetzen oder für die Champions League nachrüsten. Denn so läuft das Geschäft.
Geschäft ist es auch in Leicester. Freilich liest und erzählt es sich hübscher, wenn ehrlicher, kämpferischer und entschlossener „working class“-Football die hoch dotierten Star-Ensembles der Geldmaschinen aus Manchester und London aufgrund eines unbändigen Willens niederringen kann. David besiegt Goliath, natürlich – das ist höchst bemerkenswert und hoch sympathisch. Nur ist David eben auch mit „King Power“ ausgestattet. Man braucht sich nicht der Illusion hingeben, ohne Geld und Financiers wäre im modernen Klubfußball etwas zu erreichen. Das stimmt nicht einmal in Grödig, in Leicester auch nicht. So läuft der Kapitalismus. Aber es ist verständlich, derartiges Basiswissen an Tagen wie diesen einfach mal unter den Tischen fallen zu lassen. Das richtet auf und lenkt ab. „Der Fußball ist einer der am weitesten verbreiteten Aberglauben unserer Zeit. Er ist heute das wirkliche Opium des Volkes“, sagte Umberto Eco. Auch Märchen sind Opium fürs Volk, aber eben schön.
Daran anschließend ist es Zeit für (Fußball-)Weisheiten, die sich bewahrheitet haben. Da liegt die Wahrheit eben zunächst einmal auf dem Platz. Die anderen kochen auch nur mit Wasser. Es war die Hand Gottes. Man kann die Pferde zur Tränke führen, saufen müssen sie selber. Schlau und listig ist der Fuchs in der Fabel. Oder die alte asiatische Klugheit: „Es heißt in den Schriften der Weisen: Du sollst die Schlange nicht deshalb gering achten, weil sie keine Hörner hat. Niemand weiß, ob aus ihr nicht einst ein Drache wird.“ Belassen wir’s dabei. Man muss sich nicht jede märchenhafte Freude verderben lassen. Schon gar nicht durch Wahrheiten.
Fotos: Leicester landmarks (Lizenz: CC BY-SA 3.0); Titelbild: Das King Power Stadium vom Grand Union Canal aus gesehen (Bernd Jatzwauk/ Pommes104; Lizenz: CC BY-SA 3.0)