„1 Kilo für Sandra“ – von Michael Wögerer
Vor mehr als fünf Monaten kam Sandra nach Österreich. Ganz auf sich alleine gestellt in einem Land, wo nur wenige Menschen ihre Sprache sprechen und das so ganz anders war als ihre geliebte Insel. Nun ist sie wieder zu Hause in Havanna und musste dabei viel zurücklassen. Warum mich das zum Weinen brachte, möchte ich euch kurz erzählen:
Kuba ist ein wunderschönes Land mit einer faszinierenden Geschichte und von Menschen bewohnt, in deren Solidarität und Zärtlichkeit ich mich vor Jahren verliebt habe. Eine Liebe, die anders ist, als ich sie je für einen Menschen alleine empfunden habe. Erdiger, tiefgründiger und vor allem beständiger.
Als ihr Freund habe ich mich mit den KubanerInnen gefreut, als im Dezember 2014 die fünf Helden nach langen Jahren wieder in ihrer Heimat vereint waren; als ihr Freund fühle ich mit, wenn dunkle Wolken aufziehen und die Hurricanes über die Insel fegen. Aber auch die täglichen Sorgen meiner amigos y amigas in Kuba gehen mir nahe, manchmal ganz besonders nahe.
Sandra wusste, dass es in Österreich viele Sachen gibt, die man in Kuba nur schwer oder extrem teuer kaufen kann. Dinge, die für uns selbstverständlich sind, kosten auf der noch immer von den USA blockierten Insel oft ein Vermögen oder sind gar nicht zu bekommen. Es war völlig klar, dass die junge Kubanerin ihren einmaligen Studienaufenthalt an der Universität Wien auch dazu nutzen würde, um im von Konsumartikeln überquellenden Europa aus dem Vollen zu schöpfen. Seit Jahren wünscht sich ihre Mutter einen funktionstüchtigen Computer und der vor Kurzem tödlich verunglückte Vater hatte dazu auch ein wenig Geld zur Seite gelegt. Schuhe in ihrer Größe gibt es für Sandra in den Geschäften Havannas kaum, und auch kubanische Mädchen lieben Schuhe, ebenso wie sie gerne ihre Haare pflegen und ab und zu ein besonderes Parfüm verwenden.
Es war ein Billigflug, der die junge Psychologin aus Kuba zum ersten Mal nach Europa brachte. Die deutsche Fluggesellschaft Condor bietet günstige Tickets auf Kosten des Services an. Während die meisten Airlines einen Koffer mit 23 bis 30 kg zulassen, sind es bei Condor maximal 20 Kilogramm. Kurz vor ihrem Rückflug, beim Zusammenpacken ihrer Sachen im Studentenheim wird Sandra bald klar, dass sich das wohl nicht ausgehen wird. Aber KubanerInnen sind es gewohnt zu improvisieren.
Die teure Winterjacke bleibt in Österreich. Ich solle sie jemandem geben, wenn es wieder kalt wird, meint Sandra. Alte Schuhe und Gewand werden ausgemustert. Auch ihr ist aufgefallen, dass es in Wien einige Menschen gibt, die viel weniger haben, als sie. Danach wird es schwieriger. Nach dem ersten Wiegen des Koffers – 30 Kilo – muss sie Haarshampoos, Duschgel und die tolle Handtasche, die sie beim Besuch ihrer Freundin in Prag gekauft hatte, wieder auspacken. Auch ein paar Bücher fallen der Gewichtsreduktion zum Opfer.
Zweiter Versuch: 25 Kilo. Auf was könnte sie noch verzichten? Vermutlich reicht ein paar Schuhe? Ich spüre die Traurigkeit im Raum, denn die Teile für Mamas Computer sind einfach ziemlich schwer. Schließlich einigen wir uns darauf, dass wir am Vortag ihrer Abreise in Wien-Mitte den City Check-In probieren und hoffen, dass es die paar Kilo mehr bis nach Havanna schaffen. Endlich wieder ein hoffnungsfrohes Lächeln in ihrem Gesicht.
Wien-Landstraße – nur wenige Menschen nutzen die Möglichkeit bereits in der Innenstadt für ihren Flug einzuchecken. Sandra weist ihren Pass und die Flugbuchung vor und erzählt der Dame am Schalter, dass sie nun nach knapp einem Semester in Wien wieder nach Hause fliegt – auch um zu verdeutlichen, dass dies eine ganz besondere Reise war. Ich hieve ihr Gepäckstück auf die Waage und diese zeigt fast 26 Kilo an. Das sei eindeutig zu viel, sagt die Bürokratie und wir müssten entweder reduzieren oder 30 Euro pro Kilo zahlen plus Bearbeitungsgebühr, also knapp 200 Euro. Sandra sinkt förmlich in sich zusammen. Alle Versuche zu erklären, dass sie keine reiche Touristin sei und sich das Übergepäck nicht leisten könne, helfen nichts. Wir müssen wieder etwas auspacken.
„Ach, was soll´s! Auch bisher habe ich in Kuba kein teures Parfum verwendet, auf das muss ich wohl auch in Zukunft verzichten“, meint Sandra resigniert und packt es in meinen Rucksack, der zurück in Wien bleibt. Sie verzichtet auf weitere kleine Dinge, die sie sich für sich selbst gekauft oder geschenkt bekommen hatte. Sachen für die Familie rührt sie nicht an. Das ist der Moment, wo auch mir die Tränen runter kullern, während ich ihr meine „starke“ Schulter anbiete, um sie zu trösten. Schließlich wird der Koffer mit 20,5 Kilogramm angenommen. Wir wissen nicht so recht, ob wir uns über die 500-Gramm-Toleranz der Airline freuen sollen.
Zweiter Akt: Handgepäck – Ganz persönliche Sachen, ein wenig Gewand, Laptop und ein kleiner Videobeamer für ihre Vorlesungen an der Uni in Havanna sind für den kleinen Reisekoffer vorgesehen, der als Handgepäck in den Flieger darf. Condor ist auch hier mit 6 Kilo am untersten Ende der Möglichkeiten. Als Sandra das Köfferchen zu Hause auf die Waage stellt, zeigt das Display über 10 Kilo an. „Ach“, denken wir uns, „das wird hoffentlich diesmal nicht so genau kontrolliert“.
Ohnehin schweren Herzens betreten wir am nächsten Tag den Wiener Flughafen. Vor der Schleuse zur Sicherheitskontrolle herrscht reger Betrieb. Wir schummeln uns vorerst an jenen Uniformierten vorbei, die das Handgepäck auf Gewicht kontrollieren. Ich rate Sandra zum Risiko, doch sie fragt sich, was passieren könnte, wenn sie ohne das berühmte Kontrollbändchen durch die Gepäckkontrolle geht oder vielleicht sogar bei ihrem Zwischenstopp in Frankfurt einen Teil ihrer Sachen zurücklassen muss, ohne dass wir die Möglichkeit hätten es wiederzubekommen. Sie hat recht. Ich packe den kleinen Koffer, schwinge mich zur Waage und hoffe dabei, dass der Kontrolleur nicht so genau hinsieht. Aber leider. Auch diesmal sagt die Bürokratie, dass sich Sandra auch von ein paar der letzten Dinge, die sie gerne mitgenommen hätte, trennen muss. In diesem Moment wollte ich dem Mitarbeiter dieses verfluchte rote Bändchen aus der Hand reißen, um ihr sagen zu können: „Alles gut, flieg Prinzessin!“.
Schließlich ist sie mit noch ein paar Kilo weniger über Frankfurt nach Havanna geflogen. Der große Koffer ist ebenfalls gut angekommen, doch zurück in Wien bleiben viele kleine Dinge, die schwer wiegen. Alltägliche Sachen, die es hierzulande an jeder Straßenecke zu kaufen gibt und die viele von uns als Selbstverständlichkeit betrachten.
Mir ist bewusst, dass die Geschichte von Sandra nur eine von vielen ist und ich könnte mich auf den klassischen Standpunkt des 100-prozentigen Revoluzzers zurückziehen und sagen: „Die Probleme müssen an der Wurzel gepackt werden, damit es allen besser geht!“ – Doch das kann ich in diesem Fall einfach nicht. Ich will ganz konkret helfen. Ich will, dass wir alles mögliche unternehmen, dass jedes verdammte Teil, dass in Wien bleiben musste, weil sich Airlines mit Gebühren für Übergepäck bereichern wollen, während täglich Tonnen von frischem Flugzeugessen im Müll landen, nach Havanna kommt. Ich will mit jedem Haarshampoo, dass diese reiche Stadt verlässt und Kuba erreicht, einen besonderen Menschen glücklich machen.
Deshalb starte ich die Aktion „1 Kilo für Sandra“. Jeder Mensch, der in den nächsten Wochen und Monaten von Wien nach Havanna fliegt soll sich bei mir melden. Er/Sie bekommt von mir ein kleines (oder größeres) Paket mit auf dem Weg und übergibt es vor Ort an Sandra. Die Gegenleistung: Ein strahlendes Lächeln. Unbezahlbar.
Michael Wögerer war von 2011 bis 2015 Vorsitzender der Österreichisch-Kubanischen Gesellschaft.
(Kontakt: michael.woegerer@gmail.com ; 0650/2537036)