Ihm wird vorgeworfen wie ein Geographielehrer auszusehen, aber innerhalb und außerhalb des Parlaments setzt Corbyn den Schwerpunkt auf Politik und lehnt das Kasperltheater von Westminster klar ab
Von Dave Westacott [english version]
Am morgigen Samstag wird am Parteitag in Liverpool das Wahlergebnis für die Führung der britischen Labour Partei bekanntgegeben – die zweite solche Wahl innerhalb von einem Jahr. Und es ist eine, die Jeremy Corbyn, der amtierende Vorsitzende, allen Erwartungen nach wieder gewinnen wird. Möglicherweise mit einer noch größeren Mehrheit als zuvor. Und dass trotz Gegnerschaft und Beleidigungen von dreiviertel seiner eigenen Abgeordneten, trotz ständiger Verunglimpfungen in den Medien, und trotz unverschämter Versuche des Parteiapparats mutmaßliche Anhänger von Corbyn mit den fadenscheinigsten Vorwänden zu entrechten.
Wie ist es so weit gekommen? Und welches Phänomen führte nicht nur zum ersten Sieg eines linken Überraschungskandidaten sondern auch zu einem massiven Zuwachs in der Mitgliedschaft der Partei? Mit über 500.000 Vollmitgliedern ist sie jetzt die größte Partei Europas. Mehr als 200.000 dieser Mitglieder sind beigetreten, nachdem Corbyn im letzten Jahr Vorsitzender wurde.
Einer der maßgeblichen Faktoren für Corbyns Erfolg war das offensichtliche Versagen des “Blairismus” – die moderne, neoliberale Fassung von Rechtssozialdemokratie, die die Labour Partei und die Mehrheit der europäischen sozialdemokratischen Parteien seit den 1980er Jahren dominiert.
Ein zweiter Faktor ist die Änderung des Wahlsystems für den Parteivorsitz. Paradoxerweise wurde diese zuerst von den Rechten selbst in der Partei eingeführt, um die Macht der linken Gewerkschaften zu untergraben. Nun ist dies spektakulär in ihren eigenen Händen explodiert.
Um das zu verstehen hilft es etwas über die Geschichte der Labour Partei zu wissen. Im Gegensatz zu den europäischen sozialdemokratischen Parteien, wurde die Labour Partei ursprünglich von den Gewerkschaften gegründet, nicht umgekehrt. Von 1900 bis 1918 gab es nicht einmal die Einzelmitgliedschaft in der Partei.
Bis 1980 wurde die Führung vom Parteitag gewählt. Auf diesen hatten die Gewerkschaftsdelegierten den sogenannten “block vote”. Damit stimmten sie sowohl für die Führung wie auch über die allgemeine Politik der Partei ab. Das heißt, die Gewerkschaftsstimmen entsprachen der Anzahl ihrer Mitglieder, und für was und wen sie stimmten wurde durch ihre eigenen demokratischen Prozeduren im Vorfeld entschieden.
Solange die Gewerkschaftsführungen den rechten Flügel unterstützten – auch wenn sie dadurch die Wünsche ihrer eigene Mitglieder krass ignorierten – war das in Ordnung. Erst als die größeren Gewerkschaften etwas linkere Politik und deren Kandidaten unterstützten, während die Parteiführung sich noch weiter nach Rechts bewegte, wurde das zu einem Problem, und zu einem Schwerpunkt für Attacken innerhalb und außerhalb der Partei.
1980 wurde das Wahlkollegium (electoral college) eingeführt, mit der die Stimmen verteilt wurden: ein Drittel für Gewerkschaften, ein Drittel für Wahlbezirksmitglieder und ein Drittel für Labour-Abgeordnete des Parlaments und des Europaparlaments. Der Parteitag selbst wurde total untergraben und zu nichts mehr als einem orchestrierten Medienereignis degradiert.
Nachdem 2010 Labour die Macht verlor, startete die Führung eine neue Runde vermeintlicher „Demokratisierung“. Zusammen mit Berater aus der US Demokratischen Partei haben sie wie in den US Primaries ein breiteres Stimmrecht vorgeschlagen: Anhänger, die nicht Parteimitglieder sind, sollten auch eine Stimme bekommen und das Wahlkollegium und der Gewerschafts-Block-Vote sollten abgeschafft werden.
Überraschenderweise haben die Gewerkschaften dem zugestimmt, sogar die moderat linke Metallarbeiter und allgemeine Gewerkschaft Unite. Ab jetzt würde „eine Person eine Stimme“ gelten. Kein block-vote für die Gewerkschaften mehr, aber zusätzlich zu den Vollmitgliedern sollte jedes Mitglied einer labourverbundenen Gewerkschaft die Möglichkeit auf assoziierte Mitgliedschaft (für eine ermäßigte Gebühr von 3 Pfund) bekommen. Zusätzlich wurde eine neue Kategorie von „registrierten Unterstützern“ eingeführt, die auch abstimmen dürfen.
Was kann dabei schon schief gehen? Die Rechten in der Partei glaubten fest daran, dass diese Änderungen den gewerkschaftlichen Einfluss schwächen würde und, dass sie die neue breitere Mitgliedschaft die sogenannten „Modernisierer“ weiter unterstützen würde.
Was zuerst schief ging war, dass Ed Milliband mit einer Politik von „Blairismus-lite“ die Parlamentswahlen 2015 verlor und sofort zurücktrat. Die Führungskandidaten, die ihn ersetzen wollten, kamen alle aus der gleichen politischen Generation, die die Partei seit 20 Jahren dominierte: Berufspolitiker und Rechtsanwälte, die ihre Karriere unter Blair gemacht haben und deren ganzes politisches Kredo sich auf die Suche nach der politischen Mitte konzentrierte und auf keinen Fall Medienbarone wie Rupert Murdoch verstimmen wollten.
Nur weil sonst niemand in der kleinen linken Gruppe der Parlamentsfraktion (PLP) dachte, dass sie kandidieren könnten, ist Corbyn auf den Wahlzettel gekommen. Seine Reaktion war: „Ich denke das ist nun meine Zeit.“ In letzter Minute konnte er mit der Unterstützung von wenigen MPs, die für ihn in der Wahl eigentlich nicht stimmen würden, die notwendigen 35 Unterstützungserklärungen zum Kandidieren bekommen.
Aber es wurde bald klar, dass sich die Rechten verkalkuliert hatten. Sie hatten keine Basis, und die Mehrheit der Mitglieder hatte vom Blairismus und seinen Nachfolgern die Nase voll.
Corbyn gewann mit einem Erdrutschsieg von knapp weniger als 60 Prozent. Er gewann in allen Parteisektionen außer in der PLP. Ein entscheidender Punkt vor seiner Wahl war, als die Interim-Vorsitzende Harriet Harmann, sich dafür aussprach, dass sich die Labour-Abgeordneten bei der von der Regierung geforderten Sozialhilfereform, der Stimme enthalten sollten, weil es in den Medien „schlecht aussehen“ könnte einige der Maßnahmen abzulehnen. Bei diesem Gesetzesentwurf, der im wesentlichen ein Angriff auf die Ärmsten war, hat von den VorsitzkandidatInnen nur Corbyn dagegen gestimmt. Insbesondere waren die anderen Kandidaten auch diskreditiert durch ihrer Unterstützung für den Irak Krieg. Corbyn hingegen war als ehemaliger Vorsitzender der „Stop the War“-Koalition und führendes Mitglied der „Palestine Solidarity Campaign“ von Beginn an einer der prominentesten Kriegsgegner.
In nur einem Jahr seiner bisherigen Amtszeit ist es ihm gelungen den Schwerpunkt der politischen Debatte innerhalb der Partei und im Parlament nach links zu verschieben. Er konzentrierte sich auf die Themen Armut, Ungleichheit, den Mangel an erschwinglichen Wohnungen, Niedriglöhne, Null-stunden Arbeitsverträge und das Fehlen von gut bezahlten Jobs. Gefragt, ob er als Premierminister, unter allen Umständen den Befehl erteilen würde, die britischen Nuklearraketen zu starten, sagte er einfach: „Nein“.
Im Gegensatz zu seine Vorgängern und seinen Gegnern in der PLP, sprach er sich klar für eine Wiederverstaatlichung der Eisenbahn aus. Trotz aller Meinungsumfragen, die eine klare Mehrheit aller Wählerinnen für die Umkehrung dieser desaströsen Privatisierung zeigen, hat sich kein Labourvorsitzender bis jetzt so etwas zu fordern getraut.
Nun sagen seine Gegner in der PLP, dass es nicht seine Politik sei, sondern seine Persönlichkeit, die gegen ihn spricht: Er sei ein ehrlicher, anständiger Mensch, aber könne nie eine Wahl gewinnen. Natürlich ist das nur eine Ausrede von Leuten, die ihn von Anfang an nicht akzeptiert haben und alles dafür getan haben, um seine demokratische Legitimation zu untergraben. Und es gibt allen Grund zur Annahme, dass ihr größter Albtraum die Aussicht darauf wäre, dass er tatsächlich gewinnt.
Ein Putschversuch war offenkundig nur eine Frage der Zeit. Seine Gegner haben das Brexit-Ergebnis als Chance dafür genutzt. Corbyn, sagten sie, habe nicht stark genug für die remain-Kampagne gekämpft. Es ist bekannt, dass er ein langjähriger Gegner der EU ist, aber diesmal, als Parteivorsitzender, hatte er für einen Verbleib und eine Reform argumentiert. Er selbst meinte, er würde nur mit 7 von 10 Punkten für einen Verbleib in der EU stehen.
Aber der Putschversuch hat nur dazu geführt, dass Labor-Mitglieder verärgert waren. Sie sahen Abgeordnete, die zu jedem Mittel greifen würden um Corbyn zu stürzen. Sein massiver Rückhalt bei den Mitgliedern war es, der ihm half den Angriff zu überstehen.
Der Putsch fing mit eine Reihe inszenierter Rücktritte führender Labour-PolitikerInnen an – im etwa Zweistundentakt für einen maximalen Medien-Effekt. Es folgte eine PLP-Sitzung in Westminster mit einem (nicht bindenden) Mißtrauensvotum, Vorwürfe und Aufforderungen nach seinem Rücktritt – alles weitergeleitet an die Presse draußen.
Eine seiner Verbündeten, die Abgeordnete Dianne Abbott sagte, die Putschisten wollten ihm psychisch zerstören, ihm zum Rücktritt ohne Kampf zwingen. Aber sie sind gescheitert. Er blieb bemerkenswert standfest, und sagte, er könne nicht das Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder, die ihn vor einem Jahr gewählt hatten, verraten.
Als nächsten Schritt haben sie versucht durchzusetzen, dass er die Mindestanzahl von MP-Unterstützungserklärungen brauchen würde, um wieder auf dem Wahlzettel zu stehen, obwohl er schon amtierender Vorsitzender war. Das wurde vom Gericht abgelehnt. Was nicht abgelehnt wurde ist der Stichtag für die Wahlberechtigung – jeder der oder die erst seit Jänner 2016 beigetreten war, hat kein Stimmrecht (außer sie zahlen noch 25 Pfund innerhalb eine sehr kurze Frist).
Trotz alledem scheint es, dass Corbyn wieder gewinnen wird. In Klein- und Großstädten quer durch das ganze Land hat er vor überfüllten Hallen und vor Tausenden gesprochen. In Ortschaften, wo kein anderer Politiker solche Massen zusammenbringen könnte. Dabei ist er nicht einmal charismatisch und die Zuhörer sind oft nicht normale Labour-Unterstützer. Er wird bei der nächsten Wahl schon 69 Jahre alt sein, und ihm wird vorgeworfen wie ein Geographielehrer auszusehen, aber er setzt innerhalb und außerhalb des Parlaments den Schwerpunkt auf Politik und lehnt das Kasperltheater in Westminster klar ab. Und das ist tatsächlich Teil seines Erfolges.
Die Frage ist, was passiert jetzt, falls er wie es aussieht wiedergewählt wird? Das Problem der feindlichen Abgeordneten wird bleiben. Für viele davon aber wird die Wiederwahl unmöglich werden, wenn im nächsten Jahr die landesweiten Änderungen der Wahlkreisgrenzen in Kraft treten.
Ein Schlüssel für die Zukunft wird die Organisierung der vielen neuen Unterstützer sein, sowohl im „Momentum“ – der Kampagnen-Gruppe für Corbyn – als auch in der ganzen Partei.
Natürlich wurde „Momentum“ vorgeworfen nur eine trotzkistische, entristische Gruppe wie die „Militant“ damals in den 80er-Jahren zu sein. Tatsächlich gibt es aber nicht einmal so viele Trotzkisten in Großbritannien. Die Leute die jetzt in Scharen zu Labour zurückkehren und neu beitreten, sind meist ältere Mitglieder, die während der Blair-Jahre desillusioniert wurden, aber auch eine Menge junger Leute, die vorher überhaupt nicht in der Politik involviert waren.
Die organisatorisch wichtigste Sache, die Corbyn versprochen hat, ist die Rückgabe der demokratischen Macht über die politischen Entscheidungsprozesse an die Mitglieder der Partei – an die Parteikonferenz. Zweitens, die Möglichkeiten die mit „Momentum“ gegeben ist, um eine gezielte Kampagne in jeder Stadt des Landes aufzubauen.
In der Verwendung von Social Media haben sie schon ihre Fähigkeiten gezeigt, um die Feindlichkeit der Mainstream Medien zu umgehen. Und sie haben auch viel von Bernie Sanders‘ Kampagne in den USA gelernt. Natürlich werden sie gerne verglichen mit Organisationen wie Podemos. Aber hier geht es um eine bestehende, ursprüngliche Arbeiterpartei, und eine die immer noch eng mit den Gewerkschaften verbunden ist.
Vor allem, wie Corbyn und seine UnterstützerInnen betonen, geht es über Corbyn selbst hinaus. Labour bleibt eine sozialdemokratische Partei, jedoch eine die jetzt unter großen Anstrengungen versucht die Krankheit des Rechtsopportunismus loszuwerden.
Jetzt geht es nicht mehr darum Ämter zum Selbstzweck zu gewinnen, die danach zu Enttäuschung und Desillusion führen, sondern um echte Fortschritte. Im Kern geht es um die Rückeroberung einer Bewegung für seine Mitglieder – oder ehrlich gesagt um die erste Eroberung.
Dave Westacott ist britischer Kommunist, Mitglied der Partei der Arbeit (PdA) und lebt derzeit in Wien
Foto: David Martyn Hunt (flickr.com; Lizenz: CC BY 2.0), Titelbild: Garry Knight (flickr.com; Lizenz: CC BY 2.0)
Beim Brexit hat er schlechte Figur gemacht. Solche Figuren braucht GB nicht.