Ein politischer Reisebericht von Dario Tabatabai
Die östlichen, „neuen“ Länder der Bundesrepublik Deutschland gelten als Hochburgen des Neonazismus und Rechtsradikalismus. Gerade die Flüchtlingskrise wird von der AfD und NPD genutzt, um Menschen, die vom Staat im Stich gelassen wurden, an den rechten Rand zu locken. Doch wie steht es tatsächlich um die politische Meinung der arbeitenden Leute? Im Sommer konnte ich im Rahmen meines Ferienjobs einen tiefen Einblick in den Alltag der Mecklenburger, sowie der Touristen aus ganz Deutschland gewinnen.
Mein Arbeitsplatz war ein Restaurant/Hotel im Zentrum von Grevesmühlen – einer kleineren Stadt in Nordwest-Mecklenburg, keine 20 Kilometer von den Ostseebädern und Tourismuszentren entfernt. Etwa 10.000 Menschen leben hier. Nach dem Ende der DDR wurde die Stadt von Grund auf saniert und ist sehr sauber und gepflegt. Politisch gesehen ist Grevesmühlen eine typisch ostdeutsche Stadt. CDU und SPD bilden die Mehrheit, darauf folgt die Linke usw. Die NPD hat ein Mandat in der Stadtvertretung.
Bisher nicht wirklich spektakulär. Aber ein näherer Blick in den Alltag der Grevesmühlner zeigt, dass sie alles andere als zufrieden sind. Zwar ist die Stadt auf dem ersten Blick „im Aufschwung“, aber die Wirtschaft ist abhängig vom Ostseetourismus. Und wenn das Wetter mal nicht mitspielt schreiben die lokalen Kleinunternehmen rote Zahlen. Das Restaurant, in dem ich gearbeitet habe, war fast gänzlich auf den Tourismus abgestimmt. Und auch die Preise waren an konsumfreudige Urlauber angepasst. Deshalb kamen die Einheimischen fast ausschließlich zum Mittagsangebot.
Meine Arbeitskollegen waren alle Mecklenburger und arbeiteten nicht nur zur Saison, sondern das ganze Jahr in der Firma. Mit der Zeit sprachen wir über die Arbeit, aber auch über Persönlicheres. Der Lohn wird zu sehr besteuert, dazu kommen Stunden, die nicht direkt als Arbeitszeit gelten und daher nicht ausgezahlt werden, schwache Sozialleistungen, fehlende Infrastruktur und die Angst, den Job zu verlieren, falls man sich mal krankschreiben lässt. Auch die Situation als alleinerziehende Mutter wird immer schwieriger: Kinderbetreuung ist entweder schwer bezahlbar oder das Angebot an Kindertagesstätten reicht nicht aus. Die Krankenversicherung kommt nicht für alle Arztbesuche und Behandlungen auf. Kurz gesagt: die soziale Situation der arbeitenden, „einfachen“ Menschen wird von Jahr zu Jahr schlimmer, während die Politik tatenlos zusieht.
Immer wieder unterhielt ich mich mit den Gästen und Kolleginnen über die DDR. Die Meinungen sind klarerweise sehr unterschiedlich. Aber grundsätzlich sehen die Ostdeutschen die DDR nicht als Unrechtsstaat, geschweige denn auf einer Ebene mit dem Dritten Reich. Man hatte zwar nicht die „Freiheiten“ der Marktwirtschaft (oft wird damit lediglich die Reisefreiheit und der Konsum von Kaffee und Bananen gemeint), aber jeder hatte einen Job (mit ausreichender Bezahlung), es gab mehr als genug Kinderbetreuungsplätze, der öffentliche Verkehr wurde gewährleistet und man konnte eigentlich alles kaufen, was man für den Alltag so brauchte. Aber leider nicht mehr. Das „Leider“ kam immer mit dazu. Die Menschen bedauern die DDR als vergebene Chance auf eine gerechtere Gesellschaft und können sich zum Teil immer noch nicht mit der BRD anfreunden. Um einen meiner Arbeitskollegen zu zitieren: „1989 wollten die Leute den Kapitalismus, jetzt haben sie ihn! Damit muss man leider leben.“
Zufälligerweise war ich zu einer sehr interessanten Zeit im Nordosten Deutschlands: Mecklenburg-Vorpommern war eines von mehreren Ländern, die sich mitten im Landtagswahlkampf befanden. Und gerade im Land an der Ostseeküste war die Wahl umso interessanter, da NPD und AfD sich viele Stimmen erhofften; aufgrund der rechten Ressentiments und der Flüchtlingskrise war diese Prognose gar nicht so abwegig. Und die ersten Hochrechnungen erschütterten das gesamte Land. Die AfD erreichte auf Anhieb 20,8% und überholte somit die CDU, und das in Merkels Heimat. Die NPD jedoch erreichte (nur) 3% und verlor somit die Hälfte ihrer Wähler, vermutlich an die AfD. Die Linke, eigentlich immer eine präsente und ernstzunehmende Kraft in „MeckPom“, landete abgeschlagen mit 13,2% auf Platz 4. Scheinbar sah man sie nicht mehr als systemkritische, rebellische und sozial engagierte Partei, sondern als Teil des politischen Establishments.
Aber um das Wahlergebnis zu verstehen muss man auch die Menschen verstehen. Stattdessen werden alle Bewohner pauschal für Nazis gehalten und vor allem die hiesigen konservativen Medien leisteten ihren Beitrag. So titelte „Der Spiegel“ kurz vor der Wahl: Das passiv-aggressive Land. Mecklenburg-Vorpommern lässt Populisten und Extreme gedeihen. Wer konnte, hat die Region längst verlassen – so wie unsere Autorin. Da sich die meisten den Artikel gar nicht durchlesen, sondern nur die Schlagzeile und das Foto anschauen, wurde das natürlich sofort von AfD und NPD ausgenutzt, um die „Lügenpresse“ zu entlarven, die wieder die Nazikeule schwingt und das ganze Land pauschal als Nazi-Hochburg bezeichnet. Tatsächlich fühlen sich die Leute betrogen. Man hat einfach das Gefühl, dass Menschen aus dem Nichts auftauchen und der Staat einfach so für ihren Lebensunterhalt sorgt; und das ohne Leistung. Natürlich kommt sich da die alleinerziehende Mutter, die zwei Jobs auf Mindestlohnbasis annehmen muss oder der Leiharbeiter, der gerade mal die Hälfte des Festangestellten (für die gleiche Arbeit!) verdient, dumm vor. Und diese vor allem emotional verursachte Unzufriedenheit ist ein gefundenes Fressen für emotionalen Wahlkampf durch die AfD, ohne dabei zu erwähnen, dass diese Leute deshalb flüchten mussten, weil auch deutsche Waffen auf beiden Seiten ganze Städte dem Erdboden gleich machen. Ohne zu erwähnen, dass Freihandelsabkommen ganze Wirtschaftszweige ruinieren und den Markt mit billigen Abfallprodukten fluten. Ohne zu erwähnen, dass Regenwälder hektarweise vernichtet werden um dort Palmöl und andere Zuchtpflanzen billig für den europäischen Markt zur Verfügung zu stellen. Alle diese Fakten sind bei emotional geführten Wahlkämpfen völlig irrelevant. Und nicht wenige bleiben in diesem rechten Spektrum und sind davon überzeugt, dass es einen Kampf der Kulturen in Deutschland gäbe. Wie ein paar kahlrasierte Jungs, die sich spät abends in unser Restaurant gesetzt haben und beim anstoßen ihrer Schnapsgläser „Heil Hitler“ riefen. Eine Erfahrung, die ich so schnell nicht vergessen werde. Die drei bedrohlich wirkenden Männer saßen gemütlich auf der Terrasse und bekamen einen Schnaps nach dem anderen – und ich war die einzige Servicekraft. Plötzlich fragte der Eine, ob ich mich nicht dazugesellen will, was mich sehr überraschte. Zwar wirkte sich meine österreichische Herkunft sehr positiv auf das Gespräch aus, jedoch war mir die Situation äußerst unangenehm. Trotzdem entwickelte sich ein facettenreiches Gespräch über Gott und die Welt. Ihrer Meinung nach gibt es drei Hauptverantwortliche für die Probleme der Welt: Die Pharmaindustrie, die Waffenindustrie und die Finanzunternehmen/Banken. Man müsste den Menschen vor Ort helfen und die Kriege dort beenden. Kritikpunkte, denen Linksorientierte ebenso zustimmen würden, auch wenn das Ganze Großteils vereinfacht dargestellt wurde. Dann kamen die typischen Verallgemeinerungen von Syrern, die im Schwimmbad alle Frauen belästigen oder nicht arbeiten wollen. Dass zu viele Kulturen an einem Ort zu Konflikten führen und jedes Volk seinen eigenen Staat haben sollte. Da waren sie wieder, die Ideen der Rechten. Auf meine bewusst naive Frage: „Seid ihr denn Nazis?“ antworteten sie: „Wir sind zu jung um Nazis zu sein. Die gibt es seit 1945 nicht mehr. Wir sind national!“. Nach diesem Statement verging mir die Lust auf Diskussionen.
Als ich meinem Arbeitskollegen von dieser Erfahrung erzählte, sagte er nur, dass diese „Nationalen“ relativ viel Akzeptanz in der Gegend genießen. Für medialen Aufschrei sorgte das sogenannte Thinghaus der NPD – ein mit Stacheldraht umzäuntes Grundstück inklusive Wachturm. Ein Kohlegrill mit der Aufschrift „Happy Holocaust“ wurde angeblich vor einiger Zeit entfernt. Leider konnte ich keine Fotos machen, mir wurde nämlich dringendst davon abgeraten. Zu diesem Thema kann ich diverse Dokumentationen empfehlen, die sich mit dem Thema Neonazismus in Mecklenburg-Vorpommern beschäftigen. Beispielsweise die Vice-Doku „Nazidorf Jamel – Schwarze Schar Wismar“ oder die folgende ARD-Reportage „Michel Abdollahi: Im Nazidorf“ treffen sehr auf meine persönliche Erfahrungen zu.
Berlin geteilt – Wahlkampf in der Hauptstadt
Nicht nur Mecklenburg-Vorpommern befand sich im Wahlkampf. Auch in Berlin wurde gewählt und die ganze Stadt war voll mit Wahlplakaten. Ich hatte das Glück eine Woche zu meiner Freundin nach Berlin zu fahren und konnte auch dort einige Eindrücke gewinnen. Natürlich ist das dicht besiedelte, internationale Berlin ein ganz anderes Pflaster als das ländliche Mecklenburg-Vorpommern. Aber auch dort konnte ich die absurdesten Wahlplakate sehen. Die CDU titelte zum Beispiel: „Mehr Polizei und mehr Videotechnik“. Oder die AfD mit ihrem neuesten Modell: „Damit Deutschland nicht zerstört wird“. Was mich allerdings einige Tage später erwartete ist an Geschmacklosigkeit nicht zu übertreffen… Als wir einen netten Spaziergang durch Berlins Zentrum machten, konnte ich, als wir zum Holocaustdenkmal kamen, meinen Augen nicht trauen: „Zufälligerweise“ hingen überall NPD-Plakate und das in unmittelbarer Nähe des Denkmals. Den Schock verdauend bemerkte ich ebenso, wenig überraschend, dass die Plakate nahe des ehemaligen Führerbunkers montiert wurden. Und da ich sonst kaum NPD Plakate in Berlin gefunden hatte, kam mir diese Entdeckung wirklich seltsam vor. Wobei die NPD keinerlei politische Bedeutung genießt, zumindest nicht mehr; weder in Berlin noch in Mecklenburg-Vorpommern, da sie diesmal nicht im Landtag vertreten sein wird. Dieses „rechte Vakuum“ hatte bereits die AfD gefüllt und das sehr üppig, obwohl das Wahlergebnis in Berlin nicht ganz so rechts ausfiel wie im Nordosten.
Zwei Tage vor der Berlin-Wahl konnte ich am Kurfürstendamm mehrere Parteistände finden, jede Fraktion hatte ihre Aktionisten und Flyer-Verteiler, um Wähler zu überzeugen. Interessant war dabei das Gespräch mit den AfD-Leuten. Diese waren ständig in hitzigen Diskussionen mit Passanten verwickelt, meist Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Auch ich konnte einen diese Wahlwerber zur Rede stellen. Natürlich habe ich meine wahren politischen Ansichten verborgen, um das meiste aus diesem Gespräch herauszuholen, auch was die tatsächliche politische Ausrichtung der AfD angeht. So gab man offen zu, dass die FPÖ als Vorbild dient, während man sich von der französischen Front National distanzieren möchte, da Marine Le Pen einen „marxistischen Touch“ vorweist. Regulierung der Finanzmärkte, Vermögenssteuern, Verbesserung der Sozialleistungen, all das lehnte mein Gesprächspartner ab.
Wenige Meter weiter traf ich auf sympathischere Wahlkämpfer. Die Linke hatte ebenso einen Infostand am Kurfürstendamm und warb mit ihrem Programm um Wähler. Dabei konnte ich mich unter anderem mit Volker Fischer unterhalten, der mir jede Menge Fakten zur aktuellen Flüchtlingsthematik geben konnte. So werden beispielsweise die Flüchtlingsunterkünfte und Aufnahmestellen von privaten Unternehmen errichtet. Die Kosten der berühmt-berüchtigten Flüchtlingsaufnahmestelle des LAGeSo (Landesbehörde für Gesundheit und Soziales) wurden um 150% überschritten und damit der Umsatz der Bau- und Ausstattungsunternehmen auf Kosten der Steuerzahler gesteigert. Eines der vielen Beispiele der Profiteure der Flüchtlingskrise.
Interessant war natürlich das Wahlergebnis: Fünf etwa gleich starke Parteien suchen jetzt nach Koalitionspartnern – SPD, CDU, Grüne, AfD, Linke schwanken zwischen 13% und 21%. Die Stadt ist geteilt. Ziemlich alle politischen Ansichten sind jetzt in Berlin vertreten. Ob das etwas Gutes ist bleibt abzuwarten. Die große Koalition wurde jedenfalls bei beiden Wahlen abgestraft.
Das Symptom Rechtspopulismus
Meine Reise zum „Exportweltmeister“ war tausendmal mehr wert als alle Berichte, die ich davor gelesen hatte. Die soziale und gesellschaftliche Situation im deutschen Nordosten ähnelt in vielerlei Hinsicht den Problemen anderer europäischer Staaten, auch Österreich. Der ungebremste Kapitalismus, der keine Gnade kennt, zerstört ganze Sozialsysteme und das Lebensniveau sinkt stetig. Und das in ganz Europa. Das Aufkeimen nationaler und rechtspopulistischer Bewegungen ist ein bekanntes, jedoch oft unterschätztes Symptom dieser zerstörerischen Wirtschaftsform. Trotzdem sollte man nicht dazu neigen zu pauschalisieren. Die Grünen hatten in ihren Wahlkämpfen fast ausschließlich gegen die AfD geworben, genau wie in Österreich gegen die FPÖ und Norbert Hofer, ohne die Probleme an der Wurzel zu fassen. Und ja, damit kritisiere ich den sogenannten Antifaschismus, der kaum noch für arbeitende Menschen ansprechbar ist, sondern durch seine abgehobene politische Korrektheit eher abschreckt. Die Lösung der sozialen Frage und gerechte Umverteilung ist das einzige Mittel, um rechtes Gedankengut zu stoppen.
Natürlich sind die Medien in vielerlei Hinsicht anderer Meinung. Man beharrt auf das typisch schwarz-weiße Weltbild, doch ich kann jedem, der sich objektiv mit der Materie befassen will empfehlen sich selbst ein Bild zu machen, und am besten vor Ort mit den betroffenen Menschen zu sprechen, auch wenn man nicht immer das hören wird, was man hören möchte.
Fotos: Malzfabrik Grevesmühlen (Anumberofnames; Lizenz: CC BY-SA 3.0); Titelbild und Wahlplakate: Dario Tabatabai