Am 17. November stimmte der niederösterreichische Landtag unter der Führung der Parteien ÖVP, FPÖ und Team Stronach dafür, die Bedarfsorientierte Mindestsicherung bei 1.500 Euro zu deckeln. Dabei ist es egal, wie viele Menschen in einem Haushalt leben, egal, aus welchem Land die BezieherInnen kommen, egal wie ihre Vorgeschichte und ihre Motive sind. Reflexartig werden viele Leserinnen und Leser jetzt wohl denken: „Wie soll eine vierköpfige Familie von 1.500 Euro leben? Wenn man die Fixkosten abzieht (Miete, Heizung, Strom etc.) bleiben denen kaum 400 für Lebensmittel und alle anderen Einkäufe!“ Offensichtlich haben ÖVP, FPÖ und Team Stronach vor, den Sozialstaat in seinen Grundfesten niederzureißen. Warum das eine schlechte Idee ist, zeigt ein Blick in die Geschichte des Sozialstaates. Von Max Aurel
Das Motiv hinter der Etablierung
Was überhaupt ist ein Sozialstaat? Ein Sozialstaat ist ein Staat der verschiedene Politiken beinhaltet, die bei der Bewältigung sozialer Probleme helfen sollen. Er lässt seine Bürgerinnen und Bürger nicht allein im Regen stehen, sorgt dafür, dass Menschen ein gewisses Minimum an Kapital zur Verfügung haben, um ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Sozialstaat hilft Menschen, die verschuldet oder unverschuldet in eine existenzielle Krise gerutscht sind, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien können. Schlagworte, die den Sozialstaat treffend beschreiben, wären Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Unterstützung.
Der erste europäische Sozialstaat wurde in Deutschland eingeführt. Und zwar von einer politischen Figur, die man üblicherweise nicht mit progressiver Politik in Verbindung bringt: Otto von Bismarck. Dieser führte 1883 die Krankenversicherung ein, 1884 die Unfallversicherung und wenige Jahre später die Invaliditäts- und Altersversicherung. Das war das erste Mal, das ein europäischer Nationalstaat eine national umfassende, organisierte und obligatorische Solidargemeinschaft geschaffen hat. Hintergrund der Etablierung eines Sozialstaates waren vor allem gesellschaftliche Veränderung zur damaligen Zeit. Viele Menschen kamen in die Städte, um dort nach Arbeit zu suchen, während traditionelle Unterstützungssysteme wie die Familie oder die Gemeinde an Bedeutung verloren. Es war auch eine Zeit von Ausbeutung. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter mussten lange arbeiten, bekamen dafür kaum Lohn und lebten dazu noch in prekären, ärmlichen Verhältnissen. Um einen Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter zu verhindern, führte Bismarck den Sozialstaat ein. Damit hatten die Betroffenen ein Sicherungsnetz, das sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Außerdem wurden in dieser Zeit wichtige Sozialreformen durchgebracht, wie z.B. das Recht auf Gewerkschaftszugehörigkeit, Verkürzung der Arbeitstage und Verbot von Kinderarbeit.
Der österreichische Sozialstaat entstand kurze Zeit nach dem deutschen. 1888/89 wurde hier die Kranken- und Unfallversicherung eingeführt. Diese Versicherung war an die Erwerbstätigkeit des Beziehers gebunden, was den Grundstein für die österreichische Sozialpolitik legte. Zur gleichen Zeit erfolgte mit Maßnahmen wie der Festlegung des elfstündigen Höchstarbeitstages in Fabriken, mit der Regelung der Arbeit von Kindern und Jugendlichen, den Bestimmungen über die Arbeitsordnung und den Arbeitskontrakt die ansatzweise realisierte Grundlegung der staatlichen Regelung der Arbeitsbedingungen.
Ein Fels in der Brandung
Das Konzept des Sozialstaates war für viele Deutsche und Österreicher so überzeugend, dass an seinen Grundfesten jahrelang nicht gerüttelt wurde. Im Jahr 1927 wurde in Deutschland die Arbeitslosenversicherung hinzugefügt, die die negativen Effekte von Erwerbslosigkeit ausgleichen soll. Im Hinblick auf die Große Depression, die 2 Jahre später Deutschland mit voller Wucht traf, war die Etablierung dieser Versicherung vorausschauend.
Nicht einmal die Nationalsozialisten rüttelten an diesen Grundfesten. Sie machten zwar einige der arbeitsrechtlichen Errungenschaften rückgängig (Auflösung von Gewerkschaften, Abschaffung der Koalitionsfreiheit, Abschaffung des Streikrechts), führten ihre zutiefst rassistischen, anti-semitischen und chauvinistischen Prinzipien ein, am System der Versicherungen änderten sie aber nichts. Damit ließ sich schlichtweg zu wenig politisches Kapital machen.
Besonders in der Nachkriegszeit wurden der österreichische und deutsche Sozialstaat kräftig ausgebaut. Dies betraf vor allem die Gesundheitsvorsorge, Familienpolitik, Rentenpolitik und Arbeitsmarktpolitik, als zum ersten Mal Maßnahmen und Methoden von staatlicher Seite entwickelt wurden, die Menschen bei der Arbeitssuche unterstützen sollten. Finanziert werden konnte diese Expansion sozialer Dienstleistungen durch immenses Wirtschaftswachstum. Das führte zu einer positiven Feedbackloop, einem sich selbst verstärkenden Prozess. Das Wirtschaftswachstum ermöglichte einen umfassenden Sozialstaat, welcher wiederum das Wirtschaftswachstum gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilen konnte. Das spiegelte sich auch wieder in der Entwicklung der Reallöhne, die nach 1945 kräftig anstiegen. Nicht umsonst wird die Nachkriegszeit in Österreich auch die „Goldene Epoche des Wohlfahrtsstaats“ genannt.
Die neoliberale Konterrevolution
Der Grundgedanke des Sozialstaats in der Nachkriegszeit war geprägt von der politökonomischen Ideologie des Keynesianismus. Dieser postulierte, dass für die Sicherung des Wohlstandes ein gewisses Maß an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage vorhanden sein muss. Diese Nachfrage sollte sichergestellt werden durch privaten Konsum. Die Konsumquote, also der relative Anteil von Konsumausgaben am Gesamteinkommen, ist bei Menschen mit niedrigen Einkommen höher als bei Menschen mit hohen Einkommen, sie nimmt bei steigendem Einkommensniveau ab. Deshalb war es ratsam, auch und gerade die untersten Einkommen zu erhöhen, um wirtschaftlichen Wohlstand für alle zu generieren.
Diese Idee herrschte vor bis in die Mitte der 70er Jahre. Dort geschah etwas, das Wirtschaftshistoriker die „Neoliberale Konterrevolution“ nannten. Die Stagflation der 1970er Jahre und das schwächelnde Wirtschaftswachstum brachte die Keynesianer in Erklärungsnot. Und auf einmal waren die Politiker fast aller Industriestaaten der Auffassung, dass es am besten für die Wirtschaft ist, wenn man die Aktivität von Gewerkschaften einschränkt, den Reichen die Steuern erlässt und Sozialausgaben im Allgemeinen kürzt. Man kann diese Politik nennen wie man will: „Supply-Side Economics“, „Trickle-Down Economics“ oder eben Neoliberalismus. Der Effekt war derselbe: Das Wirtschaftswachstum konnte die Niveaus von vor der Konterrevolution nicht mehr erreichen, und das Wachstum, das es gab, war nicht mehr gesamtgesellschaftlich verteilt. Reiche profitierten in erheblich höherem Maße als arme Bevölkerungsschichten.
Die Politik, dass man bei den Armen einspart und es den Reichen gibt, hat sich die letzten 40 Jahre am Leben gehalten, obwohl die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen verheerend waren. Ein Großteil der Bürger fühlt sich allein gelassen, sie fühlen sich, als ob sich niemand um sie kümmere. Einkommens- und Vermögensungleichheit erreichen Level wie in den 1920ern. Und ÖVP, FPÖ, Team Stronach und zu einem gewissen Teil auch die NEOS wollen offenbar an einer Idee, die gescheitert ist, immer noch festhalten. Fakt ist, die Reallöhne sind seit 40 Jahren kaum gestiegen, während die Gehälter von Managern, die Umsätze von multinationalen Konzernen und die Einnahmen aus Finanzmarktspekulationen durch die Decke gehen.
Es muss dringend ein Umdenken geben. Momentan wollen „konservative“ und rechte Parteien Arbeitslosen, Mindestsicherungsbeziehern und armen Menschen die Schuld für ein versagendes System in die Schuhe schieben. Sie wollen das Budget sanieren, indem sie bei den Ärmsten unserer Gesellschaft sparen. Über die Folgekosten denken sie nicht nach. Dass Kinder, die in Armut aufwachsen, schwächere kognitive Fähigkeiten haben, sich schlechter an Dinge erinnern können oder schwieriger auf soziale Beziehungen eingehen können, ist ihnen wohl noch nicht zu Ohren gekommen.
Zu guter Letzt möchte ich noch einen kleinen Ratschlag mit auf den Weg geben. Jedes mal, wenn ein Politiker oder eine Politikerin vorschlägt, man solle den Sozialstaat verkleinern oder man solle bei den Sozialausgaben den Rotstift ansetzen, denkt scharf nach: „Was könnten langfristige Folgekosten sein? Ist diese Maßnahme vielleicht kontraproduktiv? Kommt das Geld, das wir denen geben, die es am dringendsten benötigen, vielleicht irgendwie wieder zu uns zurück?“ Wenn unsere „christlich-sozialen“ Politikerinnen und Politiker es schon nicht tun, müssen wir das Denken übernehmen und sie damit konfrontieren!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf maxaurel.wordpress.com
Fotos: „Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer“. Karikatur aus dem „Neuen Postillon“, Zürich, Schweiz 1896. (gemeinfrei); Titelbild: Obdachloser in Paris (Eric Pouhier; Lizenz: CC BY-SA 2.5)