Robert Misik hat eine Biographie von Victor Adler verfasst. Leider verrät sie mehr über den Autor als über den Vater der österreichischen Sozialdemokratie. Von Gernot Trausmuth
Kanzler Kern streut im Klappentext seinem Freund Misik Rosen und gratuliert mit den Worten: „Großartiger Text. Ein wahrer Fundus.“ In der Tat wird beim Lesen schnell nachvollziehbar, warum die heutige SPÖ-Spitze in diesem Porträt so viel Brauchbares findet, legitimiert Misik doch mit seiner sehr selektiven Darstellung von Adlers Werk einen ganz besonderen Typus des sozialdemokratischen Politikers.
Victor Adlers historisches Verdienst war es die österreichische Arbeiterbewegung nach Jahren der Zersplitterung in einen sozialreformerischen und einen „radikalen“, revolutionären Flügel am Parteitag von Hainfeld 1888/9 wieder vereint zu haben. Durch seine Rolle als Chefredakteur der „Gleichheit“ (der Vorläuferin der „Arbeiter-Zeitung“) und sein kompromissloses Eintreten für die sozialen und politischen Interessen der Arbeiterschaft konnte Adler vom Armenarzt zur zentralen Figur an der Spitze der Bewegung werden. Seine engen Kontakte zu den Führern der internationalen Sozialdemokratie (Kautsky, Bebel, Bernstein und nicht zuletzt Friedrich Engels) gaben ihm zusätzliche Autorität. All dies ist unbestritten und wird auch in der vorliegenden Biographie gut dargestellt.
Doch bereits hier schwindelt sich Misik erstmals um die ganze Wahrheit herum, um der damaligen Sozialdemokratie ihren revolutionären Charakter zu nehmen. Dabei wärmt er noch die dummen, polemischen Sticheleien der Parteirechten gegen revolutionäre SozialistInnen auf: „Das ist kein Programm für Heißsporne, die glauben, mit ein wenig Anstachelung könne man übernächsten Donnerstag eine sozialistische Revolution lostreten“, so Misik über das Hainfelder Programm. Diese untergriffigen Seitenhiebe gegen die revolutionären Teile der Arbeiterbewegung ziehen sich wie ein roter Faden durch Misiks Text. Gleichzeitig kommen die rechten Reformisten vom Schlage eines Karl Renner, die mit ihrem Deutschnationalismus und ihrer die k.u.k.-Monarchie legitimierenden, staatserhaltenden Funktion der Bewegung großen Schaden zugefügt haben, weitgehend ungeschoren davon.
Entgegen Misiks Darstellung war das Programm von Hainfeld aber die Darlegung der zentralen theoretischen und methodischen Grundlagen des revolutionären Marxismus der damaligen Zeit, die Adler im Sinne von Engels und Kautsky in Österreich vertrat. Dabei kam ihm entgegen, dass die Arbeiterschaft unter den Bedingungen des Ausnahmezustands in ihrer Mehrheit revolutionäre Ansichten vertrat.
Im Hainfelder Programm sah die Sozialdemokratie ihr Ziel, ihre Aufgabe in der „Befreiung der Arbeiterklasse“, durch den „Übergang der Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesamtheit des arbeitenden Volkes“. Misik lässt diesen zentralen Satz geflissentlich aus und zitiert lediglich die berühmte Stelle: „Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist (…) das eigentliche Programm der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich…“ Misiks Löschtaste fällt aber nicht nur die angestrebte Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln zum Opfer, sondern auch der Zusatz, dass sich das „klassenbewusste und [in der Sozialdemokratie, Anm.] als politische Partei organisierte Proletariat“ auch „aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mitteln bedienen wird“. Vorne was gestrichen, hinten noch was weggelassen, und schon haben wir eine Sozialdemokratie, die laut Misik vor allem „volkspädagogischen Geist“ atmete und ihre Aufgabe darin sah, einen „langen Atem“ zu haben. Genauso, wie der gelernte Reformist die Partei am liebsten sieht.
In Wahrheit präsentiert sich die Sozialdemokratie im Hainfelder Programm als revolutionäre Klassenpartei, die frei von Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems entschlossen für soziale und demokratische Rechte eintritt. Selbst der Parlamentarismus wird darin als „Form der modernen Klassenherrschaft“ bezeichnet, von dem sich die Bewegung nicht täuschen lassen dürfe. All das lässt Misik tunlichst unter den Tisch fallen. Dabei war es der Geist von Hainfeld, der die Sozialdemokratie befähigte in den darauffolgenden Jahren zu einer Massenpartei zu werden, indem sie sich in allen größeren und kleineren Klassenkämpfen an die Spitze stellte. Der mit dem 1. Mai untrennbar verbundene Kampf für den Acht-Stunden-Tag steht stellvertretend für die Ausrichtung der damaligen Sozialdemokratie.
Revolutionäre MarxistInnen unterscheiden sich von ReformistInnen nicht dadurch, dass erstere stets und unter allen Bedingungen zur sozialen Revolution aufrufen, während die anderen besonnen den Weg der kleinen Schritte gehen. Auch eine revolutionäre Führung hat zu unterscheiden, wann es für die Bewegung möglich ist in die Offensive zu gehen und wann es schlauer ist, einen geordneten Rückzug zu organisieren bzw. sich in Schützengräben zu verschanzen, um sich auf die nächste Schlacht vorzubereiten. Deswegen, so Friedrich Engels, ist es für MarxistInnen auch wichtig zu verstehen, in welcher Phase der Klassenauseinandersetzung man sich befindet, um dementsprechend mal den politischen, mal den ökonomischen oder den ideologischen Klassenkampf zu führen. Doch Misik kennt auch hier keinen Genierer und wiederholt das von Generationen von reformistischen Theoretikern wiedergekäute, aber völlig haltlose Argumente, auch Engels, der alte Kampfgefährte von Karl Marx, habe in seinen letzten Lebensjahren den Weg zum Reformismus gefunden und Victor Adler entsprechend geschult.
Zweifelsohne setzte sich aber in der zur Massenpartei erstarkten Sozialdemokratie spätestens um die Jahrhundertwende der Reformismus durch. Victor Adler verstand sich selber gewiss als Marxist, aber man kann aufgrund eigener Aussagen davon ausgehen, dass sein theoretisches Verständnis des Marxismus nicht sehr ausgeprägt war, er war immer schon eher ein Mann der Praxis. Wie die meisten seiner Zeit erkannte auch er nicht, welche Folgen die Herausbildung einer Bürokratie in den Massenorganisationen der Arbeiterbewegung haben würde, und dass diese neue soziale Schicht ganz eigene soziale und politische Interessen entwickelt, die auf eine Revision der Prinzipien von Hainfeld hinauslaufen. Der für den Austromarxismus typische Geschichtsfatalismus, der in der Ersten Republik angesichts des Faschismus zu fürchterlichen Niederlagen führte, wurde zu einem Markenzeichen der Bürokratie in der Arbeiterbewegung. Für Robert Misik scheinen solche Entwicklungen keine Erwähnung zu verdienen. Wie in der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird das Individuum mit seinen Charakterzügen weitgehend losgelöst von den großen sozialen Prozessen nachgezeichnet.
Dass Victor Adler mit den Jahren selbst zum Sprachrohr der Interessen der Arbeiteraristokratie wurde, blendet Misik aus. Dies erklärt auch, dass Adlers politische Haltungen im Wahlrechtskampf (als dieser die Forderung für das Frauenwahlrecht bewusst fallenließ), bei den Teuerungsunruhen 1911 und bei Ausbruch des Weltkriegs 1914 keiner Kritik unterzogen wird. An jedem dieser Wendepunkte sprach sich Adler für eine Linie aus, die den materiellen Erhalt der eigenen Organisation über das allgemeine Interesse der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit stellte. Misik sieht aber gerade darin Victor Adlers große Stärke und erhöht den „Hofrat der Revolution“ zum unumstößlichen Vorbild für spätere sozialdemokratische Politiker von Bauer über Kreisky bis Kern.
Ohne Worte pic.twitter.com/6MJqPn8cy6
— Robert Misik (@misik) 1. Mai 2016
Victor Adler hat die Sozialdemokratie nachhaltig geprägt. Diese Partei kann man nicht verstehen, wenn man nicht auch die politische Entwicklung Adlers versteht. Zur Massenpartei konnte die Sozialdemokratie nur werden, weil sie ursprünglich ein marxistisches Fundament hatte, das Adler mitkonstruierte. Misik leugnet dieses Kapitel der Geschichte der Arbeiterbewegung und kehrt lieber den späteren Reformismus hervor. In der reformistischen Wende der Arbeiterbewegung, die sich in der späteren Phase von Adlers Schaffen durchgesetzt hat, wurden programmatische Ansätze und organisatorische Methoden durchgesetzt, die nicht nur die historische Niederlage im Februar 34, sondern auch den Niedergang der Sozialdemokratie der letzten Jahrzehnte bis heute erklären.
Misiks Biographie von Victor Adler hilft nicht, beim Versuch aus der Geschichte zu lernen, sie dient vielmehr dem Zweck, dem Reformismus die Aura seiner längst vergangenen Größe wiederzugeben.
Ein seltsamer Held: Der grandiose, unbekannte Victor Adler, Robert Misik, Picus Verlag, 2016
Zuerst erschienen auf Gernot Trausmuth – Mit roter Feder
Cover: Picus Verlag; Titelbild: Screenshot (Google-Bildersuche nach Robert Misik, zur Wiederverwendung gekennzeichnet)