Von Mladen Savić
Die Welt hat sich gewandelt. Den meisten ist es längst zu Ohren gekommen. Was dieser Wandel tatsächlich beinhaltet, abgesehen von Klimaerwärmung und Internettechnologie, wissen die wenigsten. Für den Einzelnen bedeutet er wirtschaftlich: Teilzeitjobs, Leiharbeit, Werkverträge, Konkurrenzkampf und prekäre Beschäftigung. Existenziell heißt das: Kaufkraftschwäche, Kreditfallen, Wohnungsnot, Zeitmangel und gesundheitlicher Niedergang. Auch politisch lädt die neoliberale Wende der letzten Jahrzehnte zum Stirnrunzeln ein: alter Imperialismus zur neuen Weltmarktaufteilung, ohne aber einen Begriff davon, aus dem Ärmel geschüttelte Bankenrettungen, Notstandsgesetze ganz ohne Notstand, Geheimverhandlungen trotz Demokratie, legale Korruption in Form von Lobbying und eine recht phrasenhafte Selbstinszenierung der Mitte, aus der letztlich der Rechtsruck kommt.
Laut Forsa, einer Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen, haben in Deutschland 72 Prozent der AfD-Wählerschaft ein Haushaltsnettoeinkommen von über 2.000 Euro, gegenüber einer DieLinke-Wählerschaft, deren Haushaltsnettoeinkommen zu 37 Prozent unter 2.000 Euro liegt. Der eigentliche Wähler von Donald Trump verfügt, was einige durchaus überraschen mag, über ein durchschnittliches Jahreseinkommen von rund 72.000 Dollar. Da ist, entgegen den geläufigen medialen Erklärungsversuchen, nichts zu spüren von den „Abgehängten“ der Gesellschaft und von bedrohter Arbeiterschaft. Diese geht, wenn überhaupt, viel seltener wählen, nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht mehr das Gefühl hat, im Parteiensystem vertreten zu werden, geschweige denn, über den Formalakt des Ankreuzens eines Zettels etwas Wesentliches verändern zu können. Das Schlusslicht unter den Nichtwählern, den Resignierten, stellen die Langzeitarbeitslosen und Armen dar. Doch auch das muss nicht unbedingt sein. Hätte Bernie Sanders seine fortschrittlichen Positionen nicht um jeden Preis in einer ihn sabotierenden Partei verfolgt, wäre seine Kandidatur als Unabhängiger vielleicht imstande gewesen, das Schlimmste zu verhindern – den Multimillionär Trump, angeblich einen Mann der kleinen Leute, jedenfalls einen instabilen Typen mit Nuklearcodes.
Nun, die Rechten kopieren, in klassischer Verkürzung aller Argumente, die Linken und punkten durch aufgesetzte Radikalität. Auf allen Fronten nehmen sie Privilegienverluste als gezielte Benachteiligung wahr. Von den Meinungsmachern der Leitmedien werden sie zuweilen mit Nachsicht behandelt und mit Verweisen auf ihre „Besorgtheit“ indirekt gerechtfertigt. Wenn sie auf Abgrenzung nach außen und auf hergebrachte Identitäten setzen, worauf auch jeder Nationalstaat baut, wählen sie in Wirklichkeit nur reißerische, vereinfachte Antworten auf komplexe Fragen und Lebenslagen und glauben noch immer, dass sich globale Probleme auf nationaler Ebene lösen ließen. Die „kulturelle Linke“ wiederum, wie der Philosoph Richard Rorty sie einmal genannt hat, biedert sich mehr und mehr am Bürgertum an. Zwar versteht sie es, differenziert über Ethnie, Gender, Queer und LGBT zu diskutieren, aber vom realen Kampf um soziale Gerechtigkeit ist sie Welten entfernt. Ihr fällt, nachdem sie ihren Kerngedanken aufgegeben hat, auf revolutionärem Wege eine klassenlose Gesellschaft zu erkämpfen, unverhofft die recht undankbare Aufgabe zu, von außen den bürgerlichen Rechtsstaat und sein Sozialwesen zu retten.
Dabei sind dem kapitalistischen Staat, der primär die Kapitalzirkulation zu gewährleisten hat, sein demokratisches Gewand und seine Sozialgesetzgebung selbst schon zu eng geworden, von innen sozusagen. Entsprechend boxt das Establishment eine kapitalfreundliche, sprich, arbeiterfeindliche Politik durch und wählt derweil den gleichsam vernünftigen, gemäßigten Ton. Ausgetragene gesellschaftliche Konflikte schaden schließlich dem Geschäft. Überhaupt ist der sogenannte Wirtschaftsstandort begrifflich zum modernen Drohwort geworden: ohne genügend Profitmacherei eben – Auslagerung auf billigere Märkte. Was folgt, sind bekanntlich Arbeitslosigkeit, Armut, Schuldenberge und die Geißel des Zinseszinsgottes. Die Sozialdemokratie, laut Richard Schuberth „zuverlässigster Butler im Hause des Kapitals“, gibt seit jeher den linken Blinker und biegt dann rechts ab. Es hat im letzten Jahrhundert kaum eine menschliche Schweinerei gegeben, die sie bislang nicht mitgetragen hat: von der Kriegshetze bis zur Marktderegulierung. Die sozialistische Partei in Frankreich beispielsweise sei eine, „deren Spitze keinen Bezug mehr zur Arbeiterklasse hat“, sagt der Soziologe Didier Eribon unlängst in einem Interview: „Das sind alles bürgerliche Technokraten.“
Auch er möchte sich „gegen die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates“ einsetzen, allerdings nicht aus burgfriedlichen, sozialpartnerschaftlichen Gründen wie sonst üblich, sondern aus Sorge um den Verlust einer zivilisatorischen Errungenschaft – das Kümmern um die Schwachen. Der Linken legt er nahe, sie müsse „aufhören, soziale Forderungen wie ordentliche Gehälter, gute Wohnungen, anständige Arbeitsbedingungen, Pensionen, Sozialversicherung und ein anständiges Gesundheitssystem zu ignorieren.“ Der implizite Vorwurf, sie würde es mittlerweile anders handhaben, muss gewiss schmerzen. So, wie infolge einer Verflechtung mit den Machtapparaten aus Gewerkschaftskadern irgendwann eine Arbeiteraristokratie entstanden ist, die sich selbst am nächsten steht, haben viele ehemalige und aktive Linke im akademischen Milieu Fuß gefasst und dort ihre Sonderstellung und Distanz, und sei sie noch so kritisch, zu einer Tugend erhoben. Die aufmüpfigen Studenten, gegen die die verknöcherten Alten einstmals gewettert haben, sind just zu jenen geworden, die uns nun regieren, meint Eribon. In seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ schreibt er: „Nach oftmals verblüffenden Karrieren sind sie politisch, intellektuell und persönlich in der Komfortzone der sozialen Ordnung angekommen und verteidigen nunmehr den Status Quo einer Welt, die ganz und gar dem entspricht, was sie geworden sind.“
Der Verdacht erhärtet sich, dass am Vormarsch der Rechten die Linken mitschuldig sind, denn sie selbst schrecken zurück vor der Logik der Konsequenz. Zudem zensieren sie sich selbst, indem sie die Eigentumsfrage nur unter Ausschluss ihrer revolutionären Antworten stellen – aus einer reinen Defensivhaltung heraus und im dementsprechenden Jargon, versteht sich. Das überzeugt die lohnabhängigen Massen freilich nicht. Warum sollte es auch! Eribon hierzu: „Wenn man ‚Klassen‘ und ‚Klassenverhältnisse‘ einfach aus den Kategorien des Denkens und Begreifens entfernt, verhindert man aber noch lange nicht, dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben.“ Objektive Strukturen und soziale Dynamiken verschwinden nicht, nur weil man aus dem öffentlichen Bewusstsein tilgt. Wenn sich die Linksliberalen also eine Bourgeoisie ohne Proletariat wünschen, ein Eintauschen der Barrikaden für das klärende Gespräch, hoffen sie insgeheim auf ein Arrangement mit den bestehenden Verhältnissen: auf sozialen Burgfrieden plus individueller Selbstverwirklichung. Ihre Mittelstandssorgen betreffen Umweltbewusstsein, Toleranzedikte, Almosenrezepte und Gleichstellungspolitik. Nicht dass dagegen etwas grundsätzlich auszusetzen wäre, doch im Lichte der Globalisierung, Digitalisierung und Robotisierung von Krieg und Arbeitswelt wirkt die linksliberale Vision trotz aller aktuellen Bezüge ein bisschen abgehoben und unzeitgemäß, um nicht zu sagen, penetrant partikulär. Erstens sind die natürlichen Ressourcen der Welt nicht endlos verfügbar und daher bei wachsender Weltbevölkerung dem unkontrollierten Zugriff der Privatwirtschaft und ihrer anarchischen Produktion zu entziehen. Zweitens lässt sich unter solchen Bedingungen die Lohnarbeit als einzige Einnahmequelle auf Dauer nicht aufrechterhalten. Sollen die Eigentumslosen, die vom Lohn allein leben, hernach einfach verhungern, oder wie sieht der linke Schwerpunktsetzung diesbezüglich aus?
In dem Maße, in dem die Linke sich vom klassenkämpferischen Kollektivismus und seinen realsozialistischen Entartungen abgegrenzt hat und stattdessen für kulturelle und individuelle Diversität eingetreten ist, hat sie zugleich die materielle Ungleichheit aus dem Mittelpunkt ihres Interesses verbannt und die Konfrontation mit den international herrschenden Klassen, das berühmt berüchtigte „letzte Gefecht“, stillschweigend aus ihrem Emanzipationsprojekt gestrichen. Gesungen wird die Internationale höchstens noch auf roten Parteitagen und auf Festen politischer Folklore. Soziologisch ist das nachvollziehbar, denn in den linken Reihen finden sich immer weniger Vertreter der totgesagten Arbeiterschaft. Von Hauptwidersprüchen des Kapitalismus will diese neue, bunte Linke offenbar nichts mehr wissen, von Nebensprüchen innerhalb solcher Begrifflichkeiten und gedanklicher Rahmen nicht mehr reden. Die Realität sei, wie man gelegentlich zu hören bekommt, „ohnehin konstruiert“… Die Pluralität theoretischer Ansätze rückt diese Linke im Gegenzug in eine gefährliche Nähe zum gern geduldeten Relativismus, den manche auch als postmoderne Beliebigkeit bezeichnen, welcher aber richtiger als theoretische und praktische Wehrlosigkeit zu verorten wäre. Aus diesem Dickicht der Details, in dem der Universalismus oft für überholt oder gar totalitär erklärt wird, kommt die Linke kaum noch heraus – ebenso wenig wie aus der gelebten Diktatur des Kapitals, die sie hinnimmt, obwohl sie sie ablehnt. So führt sie ausweichend Diskurse über Diskurse. Nur in den Betrieben, in den Produktionsstätten, in den Callcentern und am Gemüsemarkt fehlt sie zunehmend.
Zu sehr, scheint es, hat sich die Linke auf eine Identitätspolitik eingeschossen und sich folglich zur moralischen Stimme der sozialen, ethnischen und sexuellen Randgruppen gemacht. Das ist zum Teil auch gut so. Immerhin streicht sie in vielen verschiedenen Bereichen den emanzipatorischen Charakter von Minderheitenrechten hervor. Die Klassengesellschaft als ein Ganzes interessiert sie indes nicht mehr, das heißt – das Los der Mehrheit. Ob ihr außer dem hohen Anspruch und der überlegenen Moral als Antithese zu diversen Rassismen oder Sexismen noch etwas bleibt, das sich auch mit den konkreten Bedingungen willentlicher gesellschaftlicher Veränderung beschäftigt, bleibt fraglich. Klassenkampf findet heutzutage hauptsächlich noch als Klassenkampf von oben statt. Schuberth unmissverständlich: „Das Kapital fürchtet den Sozialdemokraten wie der Bär den Bandwurm.“ Leider gilt diese politische Bestandsaufnahme für die gesamte Linke, die organisatorisch dem militärisch-industriellen Komplex im Kapitalismus nichts entgegenzusetzen hat als fromme Wünsche, flotte Parolen und bestürzend bescheidene Forderungen. Sie ist machtlos, zahnlos und planlos, denn sie hat es verabsäumt, die konsequente Tilgung des Klassenbewusstseins in der Gesellschaft aufzuhalten.
Darum werden immer wieder auch Linke dem Politologen Mark Lilla auf den Leim gehen, wenn er reaktionäre Ideen von heute auf subjektive Ängste und vage Konzepte des Missbehagens zurückführt. Derlei lässt sich auch unter Linksliberalen zeitweise vernehmen. Den Sieg Trumps in der Präsidentschaftswahl erkennt Lilla, wohlgemerkt, nicht in der Allianz der amerikanischen Demokraten mit den Multimillionären und ihren elitären Anliegen, sondern im Multikulturalismus, der dann die Fremdenfeindlichkeit hervorgebracht hätte. Doch das ist letzten Endes nebensächlich. Weil für ihn „die Geschichte nie stillsteht“, wären wir selbst ja „nur Gäste auf Zeit“. Abstrakte Allerweltsweisheiten dieser Art gehören prompt zu jener ideologischen Diversion, die ein bürgerliches Publikum zu seiner Beruhigung braucht. Diese zur Schau getragene Gelassenheit angesichts gravierender globaler Probleme spiegelt gedanklich zweifellos eine enorme materielle Sicherheit wider.
Es handelt sich, alles in allem, um die Früchte eines antikommunistischen Konsens aus dem Kalten Krieg, einer wirtschaftlich motivierten Erziehung im Geiste des Konsums und Egoismus, derzufolge der Kapitalismus nicht nur durchwegs natürliche Erscheinung und einziger Freiheitsgarant – frei, um zu raffen – wäre, sondern auch das alternativlose Ende der Geschichte. Die Masse der eigentumslosen Lohnabhängigen hat, weil sie sich in der Linken weder klassenmäßig noch thematisch wiederfindet, weil sie sich von ihr tendenziell nicht mehr vertreten sieht, anderswo Ausschau gehalten nach Rettern in der Not, zum Beispiel in der Rechten. Die erfolgreiche Zerkleinerung und Zerschlagung der Arbeiterbewegung, ihrer gegengesellschaftlichen Infrastruktur und ihrer früheren Informationsorgane haben dazu sicherlich beigetragen. Der Anteil der kapitalistischen Demokratie an dieser Entwicklung wirft selbige daher auf ihre Verantwortung für den steigenden Rechtspopulismus zurück. Die Erinnerung an und das Wissen um die Kämpfe von gestern, um ihre geschichtliche Dimension und ihre taktischen Fehler und Siege ist unterdessen weggewischt worden.
Neben der Lüge, es gäbe keinen Klassenkampf mehr, kommt hinzu, dass die modische Identitätspolitik, sich um diese oder jene diskriminierte Gruppe kümmern zu wollen, die ökonomische Kategorie des Klassenbewusstseins sorgfältig aus ihren Debatten herausgebrochen und in eine philosophische Abstellkammer zu den linken Klassikern gelegt hat. Oberflächenprobleme dominieren seither die Sichtweise und den Zugang vieler zeitgenössischer Linker. Mehrwertproduktion, Warenfetisch und Kapitalakkumulation erscheint ihnen schlichtweg zu platt und zu marxistisch. Wie fragmentiert ihr Fokus, so kraftlos ist auch ihr Kampf. Es wird fortwährend schwieriger, ihnen ins Gedächtnis zu rufen, was Jean Améry in seinem Werk „Die Grenzen liberaler Toleranz“ betont hat: „dass es formale Freiheiten gibt, die notwendige, aber nicht ausreichende Bedingungen materialer sind“. Ideologiekritik steht, wie Améry sagt, traditionell links und Utopiekritik eindeutig rechts. Zur Letzteren bekennen sich, wie gesagt, auch die demokratische Staatlichkeit und ihre legalistischen Ausläufer. Auch ein linksliberaler Wohlfahrtsstaat und seine humanen Elemente innerhalb des Kapitalismus werden dahingehend „ihre Erbsünden nicht los: die Menschenschinderei“. Und linke Spiegelfechtereien gegen das politische Establishment und ominöse, nicht ökonomisch definierte Eliten werden daran wohl wenig ändern.
Mladen Savić, geb. 1979 in Zagreb, ist Philosoph und freier Autor („Mücken und Elefanten“, Drava-Verlag, 2016). Der Beitrag erschien zuerst auf seinem Blog umainsensible.blogspot.co.at
Foto: Mladen Savić/textfeldsuedost.com; Titelbild: Unsere Zeitung