Arbeitszeit ist Lebenszeit. Sie wirkt sich nicht nur auf Einkommen, Gesundheit und Wohlbefinden jeder/jedes einzelnen Arbeitenden aus, sondern beeinflusst auch die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands und die Arbeitslosigkeit. Das Ziel einer kurzen Vollzeit – als Gegenpol zur aktuell diskutierten Ausdehnung von Arbeitszeiten – muss wieder stärker in den Vordergrund rücken.
Von Bettina Csoka / Reinhard Haider / Manuela Hiesmair (blog.arbeit-wirtschaft.at)
„Verdichtung der Arbeit“, „flexible Arbeitszeiten zwischen Selbstausbeutung und Selbstbestimmung“, „Arbeitszeit fair teilen und verkürzen“ und „geschlechter- und lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung“ waren die Themen der vier Zukunftsforen der Arbeiterkammer OÖ vom November 2015 bis Juni 2016. In Kooperation mit vier Gewerkschaften (Bau-Holz, GPA-djp, PRO-GE und vida), begleitet vom Institut für Berufs- und Erwachsenenbildungsforschung, fand im Jänner 2017 die von 450 TeilnehmerInnen besuchte Zukunftskonferenz unter dem Titel „Unsere Arbeit. Unsere Zeit.“ im Linzer Designcenter statt (www.unserearbeit-unserezeit.at). Schwerpunkte wie z. B. „Digitalisierung und Arbeitszeit“ wurden in 14 Themenkreisen intensiv behandelt, internationale Experimente wie die Arbeitszeitverkürzung im schwedischen Göteborg (siehe PK-Unterlage) lebhaft diskutiert, und Stimmungsbilder der TeilnehmerInnen durch Publikumsvotings („TED-Umfragen“) im Konferenzsaal eingeholt. Ein Ergebnis daraus: Fast drei von vier KonferenzteilnehmerInnen finden, dass das geltende Arbeitszeitrecht genug flexible Gestaltungsmöglichkeiten bietet:
Arbeitszeit beeinflusst die Gesundheit
Zentrales Thema waren die Wechselwirkungen von Gesundheit und Arbeitszeit. Die gesundheitsverträgliche Gestaltung von Arbeitszeit ist ein wesentliches Merkmal, um möglichst gesund und produktiv arbeiten zu können. Im öffentlichen Diskurs über die Arbeitszeit(en) werden gesundheitsrelevante Aspekte aber häufig ausgeblendet, während über andere, wie gerade jetzt wieder die Ausweitung der Tages- und Höchstarbeitszeitgrenzen (Stichwort: 12-Stunden-Arbeitstag), sehr dominant diskutiert wird. Das liegt daran, dass die negativen Auswirkungen von unzureichender Arbeitszeitgestaltung erst mittel– bis langfristig auftreten können, während betriebswirtschaftlich kurzfristig „nachvollziehbar“ flexibel auf Auftragsschwankungen reagiert wird. Arbeitszeitgestaltung muss bzw. soll auf gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Daraus abgeleitete Empfehlungen sind ein wichtiges Instrument zur sogenannten Verhältnisprävention.
Diplom-Psychologin Veronika Kretschmer fokussierte bei ihrem Input bei der Arbeitszeitkonferenz auf gesundheitliche Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und referierte, dass lange Arbeitszeiten auf Dauer krank machen. Gesundheitliche Beschwerden – sowohl muskuloskelettale (Rückenschmerzen, Nacken- und Schulterschmerzen, Gliederschmerzen etc.) als auch psychovegetative (Kopfschmerzen, Stress, allgemeine Erschöpfungszustände etc.) – nehmen mit der Dauer der Wochenarbeitszeit zu. Je höher die Wochenarbeitszeit, desto häufiger treten negative Gesundheitseffekte auf und das Gefühl, aufgrund von Arbeitsstress „ausgebrannt“ zu sein (S. 16), nimmt deutlich zu. Längere Arbeitszeiten ab der achten Arbeitsstunde stellen auch ein signifikant höheres relatives Unfallrisiko (S. 17) dar. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ist aus diesen Gründen von überlangen Arbeitszeiten abzusehen.
Ein weiteres, im öffentlichen Diskurs noch wenig beleuchtetes Phänomen ist „Hirndoping“, in der Fachsprache als pharmakologisches Neuroenhancement (S. 18) bezeichnet. Es meint den missbräuchlichen Konsum von verschreibungspflichtigen Medikamenten, den gesunde Menschen betreiben, um die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns und ihr psychisches Wohlbefinden zu verbessern. Vorliegende Forschungsergebnisse zeigen, dass Personen mit hoher Wochenarbeitszeit (mehr als 40 Stunden) ein deutlich höheres Risiko haben, leistungssteigernde Substanzen einzunehmen, als Personen, die zwischen 20 und 40 Wochenstunden arbeiten. Gute Arbeitsbedingungen, ausreichende Ressourcen bei der Erfüllung der Arbeit – wie Handlungsautonomie, Unterstützung durch Vorgesetzte und KollegInnen usw. – können die negativen Auswirkungen von überlangen Arbeitszeiten teilweise zwar abschwächen, aber nie die langfristigen Spätfolgen von überlangen und „atypischen“ Arbeitszeiten (z. B. Nacht- und Schichtarbeit) kompensieren.
Klare Regeln gegen grenzenloses Arbeiten
Neue Formen der Erreichbarkeit, durch den vermehrten Einsatz digitaler Technologien ermöglicht und in dieser Dimension relativ neu, stellen für die Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen eine enorme Herausforderung dar. Nicht nur Betriebe, sondern auch MitarbeiterInnen selbst hegen oftmals den Wunsch nach flexiblerer Handhabung von Arbeits-/Anwesenheitszeiten und nach flexibleren Möglichkeiten, von unterschiedlichen Orten aus zu arbeiten, wie die Präsentation von VW-Betriebsrat Gunter Wachholz im Themenkreis „Mobile Arbeit bei der Volkswagen AG“ zeigte. Aus Sicht der VW-Belegschaftsvertretung sind eindeutige Regeln, die in einer Betriebsvereinbarung festgehalten werden, Voraussetzung, um die Chancen von mobilen Arbeitsformen bestmöglich zu nutzen und die Risiken weitestgehend oder zur Gänze zu eliminieren. Bei VW in Deutschland konnten sich die Belegschaftsvertretung und die Geschäftsführung auf folgende Kerninhalte einigen:
- doppelt freiwillig: Niemand darf gezwungen werden, die Teilnahme ist freiwillig.
- Erhalt des betrieblichen Arbeitsplatzes.
- Arbeitsaufgabe muss sich für mobile Arbeit eignen.
- Unveränderte individuelle Arbeitszeit. Recht, nicht erreichbar zu sein.
- Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bleiben unberührt.
Nicht geregelte Formen der Erreichbarkeit können zur gesundheitlichen Belastung der Betroffenen werden. Häufige Störungen der Freizeit durch Arbeit bedeuten Konflikte zwischen Berufs- und Privatleben, häufigere Krankschreibungen wegen psychischer Beschwerden, emotionale Erschöpfungszustände bei häufigem Diensthandygebrauch, Burnout- oder Depressionssymptome und insgesamt hohe wahrgenommene Arbeitsanforderungen. Wenig verwunderlich daher, dass beinahe 40 Prozent der Beschäftigten auch in der Freizeit an die Schwierigkeiten bei der Arbeit denken müssen. Geistiges Abschalten, ein Loslösen von der Arbeit während der arbeitsfreien Zeit, als psychologisches Detachment (S. 36) bezeichnet, fällt immer mehr ArbeitnehmerInnen schwerer, vor allem dann, wenn lange Arbeitszeiten, viele Überstunden und chronischer Zeitdruck in der Arbeit vorherrschen.
6-Stunden-Arbeitstag erhöht Wohlbefinden und Produktivität
Eine mögliche Maßnahme für mehr Wohlbefinden der arbeitenden Menschen – und für höhere Produktivität – stellt die Verkürzung der Tagesarbeitszeit dar. Ein 6-Stunden-Arbeitstag würde zu einem besseren Arbeitsumfeld am eigenen Arbeitsplatz führen, war eine rund 80-prozentige Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden KonferenzbesucherInnen der Meinung:
Das entspricht auch den positiven Erfahrungen mit dem zwei Jahre dauernden Experiment der schwedischen Stadt Göteborg, wo in einem kommunalen Pflegeheim die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich auf sechs Stunden pro Tag verkürzt wurde, wie der Göteborger Kommunalpolitiker Daniel Bernmar ausführte. Die vorläufigen Evaluationsergebnisse dieses Pilotprojektes zeigen, dass durch den kürzeren Arbeitstag die Krankenstände um zehn Prozent zurückgingen und sich die Pflegekräfte gesünder fühlen. Der Arbeitsdruck ist deutlich niedriger und die Pflegequalität merklich besser geworden. Für die zu betreuenden Älteren kann mehr Zeit und eine höhere Aufmerksamkeit aufgebracht werden. Das liegt auch an der Beschäftigungsausweitung: zusätzliche 15 Pflegekräfte wurden eingestellt (siehe dazu auch die PK-Unterlage). Das von der schwedischen Linkspartei befürwortete Experiment wird trotz der positiven Ergebnisse nach zwei Jahren nicht mehr weitergeführt. Die mit dem Lohnausgleich sowie der Personalerhöhung verbundenen Ausgaben (etwa 630.000 Euro im Jahr) dienen dabei als Rechtfertigung. Dabei wurde rund die Hälfte dieser Ausgaben durch den Rückgang bei den Krankenständen und Ausfallszeiten kompensiert. Und es ist zu bedenken, dass diese Berechnungen noch keinerlei Langfristeffekte berücksichtigen. Bernmar appellierte in der Diskussion mit ÖGB-Präsident Erich Foglar und IV-Präsident Georg Kapsch daran, dass beim Thema Arbeitszeitverkürzung nicht nur einseitig über Kosten gesprochen werden solle, sondern vielmehr über den – auch ökonomischen – Nutzen. Aus seiner Sicht ist es gerechtfertigt, dass die öffentliche Hand dabei Kosten übernehme, da Staat und Gesellschaft auch die durch eine Arbeitszeitverkürzung entstehenden Vorteile (weniger Kranke, geringere Arbeitslosigkeit, bessere Arbeitsqualität) erhalten.
Lohnsenkung erzeugt Arbeitslosigkeit
Laut Kapsch, der aus Kostengründen eine generelle Arbeitszeitverkürzung ablehnt, gehe es den Menschen gar nicht darum, ob sie in der Woche zwei Stunden länger oder weniger arbeiten. Foglar kritisierte, dass die Unternehmen bei – unter dem Schlagwort „Arbeitszeitflexibilisierung“ firmierenden – weiteren Ausweitungen der Möglichkeiten von 12-Stunden-Arbeitstagen ein einseitiges Direktionsrecht erhalten, dem die vielen Mitbestimmungsebenen weichen sollen. Für die ArbeitnehmerInnen wichtig sei aber vielmehr der Faktor Zeitsouveränität. Problematisch sei, dass es in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen ist, den enormen Produktivitätsfortschritt in eine sinnvolle Arbeitszeitverkürzung umzuverteilen. Gemäß Heiner Flassbeck, dessen Themenkreis sich mit gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen auseinandersetzte, braucht eine generelle Arbeitszeitverkürzung nachfragefördernde Begleit-Politik, die die Nachfragelücke ausgleicht. Andernfalls entsteht Arbeitslosigkeit, da die aggregierten kaufkräftigen Einkommen und somit die Nachfrage nicht ausreichend steigen.
Flassbeck stellt klar: „Lohnsenkung ist das Dümmste, was es gibt, weil es Arbeitslosigkeit erzeugt.“ Lohnzurückhaltung wirkt über zwei Kanäle: Erstens über den Exportkanal, in dem niedrigere Löhne die Exportpreise senken, wodurch der Absatz gesteigert werden kann. Zweitens aber über den Binnenmarktkanal, in dem niedrigere Löhne die Kaufkraft und somit Konsumnachfrage reduzieren, was den Absatz der Unternehmen und deren Investitionen dämpft. Dieser Nachfrageausfall erzeugt Arbeitslosigkeit. Der allgemeinen Furcht vor der „Roboterisierung“ könne dadurch begegnet werden, dass der Reallohn mit der im Zuge der Digitalisierung steigenden Produktivität wächst – nur dann führt Rationalisierung nicht zu Arbeitslosigkeit.
Digitalisierung und Verfügbarkeit der menschlichen Arbeitskraft
Für den – an der Konferenz teilnehmenden – Sozialminister Alois Stöger verändert sich mit zunehmender Digitalisierung die Verfügbarkeit der menschlichen Arbeitskraft. Daher ist es zentral, wer die Flexibilität bestimmt. Gehört es zur Betriebskultur, dass das Handy nach Dienstschluss eingeschaltet bleibt oder abgeschaltet wird? Herrscht im Betrieb Anwesenheitskultur? Stöger empfiehlt, dass in den Aufsichtsräten die Höhe der Überstunden auf die Tagesordnung soll. Überschreiten diese ein gewisses Maß, dann solle das als Indikator für schlechtes Management gelten. ÖGB-Präsident Foglar will diese Veränderungen mitgestalten, insbesondere, was die Verteilung der enormen Produktivitätsgewinne der Digitalisierung anbelangt („Digitalisierungsdividende“). Aufgrund des Machtungleichgewichts in Arbeitswelt und Gesellschaft braucht es, so AK-OÖ-Präsident Johann Kalliauer, für die Arbeitenden echte Spielräume und Mitbestimmung. Es sind – auch neue – Spielregeln erforderlich, deren Einhaltung geprüft und sanktioniert wird. Das Arbeitszeitrecht mit kollektiven Schutznormen müsse dabei wesentliche Grundlage bleiben.
Scheindebatte Flexibilität
Die aktuell stattfindenden Flexibilisierungsdiskussionen vulgo Verlängerungsforderungen hält vida-Chef Roman Hebenstreit für eine Scheindebatte, mit der die Unternehmen Arbeit auf Abruf und „Lohnraub“ durchsetzen wollen, da noch weniger Überstunden als derzeit nicht mehr bezahlt werden würden. Ähnlich argumentiert WIFO-Chef Christoph Badelt. Schließlich arbeitet rund jede/r Zweite gelegentlich oder häufig „atypisch“ (siehe WIFO-Studie), mit deutlichen Branchenunterschieden:
Kurze Vollzeit für alle!
Anzustreben ist die Angleichung der Arbeitszeiten – nicht überlange Arbeitstage für die Einen, ungewollt kurze oder zerstückelte Arbeitstage oder gar Arbeitslosigkeit für die Anderen, sondern eine kurze Vollzeit für alle. Möglichkeiten zur Verkürzung (wie die Freizeitoption) oder Rechtsansprüche auf einen Wechsel zwischen Voll- und Teilzeit (wie bei der Elternteilzeit) müssen zum Beispiel in Richtung Bildungsfreistellung ausgebaut werden. Dass der Mensch arbeiten muss, um zu leben, ist wohl unvermeidlich, so Philosoph Robert Pfaller, der auf der Konferenz zu „Her mit dem ganzen Leben!“ referierte. Das heiße aber nicht, dass der Mensch lebt, um zu arbeiten. Es gelte, jene Momente in der europäischen Kultur zu verteidigen, in denen wir merken, dass das Leben für uns da ist. So erzeugen wir glückliche, gesellige und solidarische Menschen, die sich nicht alles gefallen lassen. Ein Beitrag dazu ist wohl Arbeitszeitverkürzung – schon für Kurt Rothschild war sie „ein wesentlicher Teil des Kampfes der Arbeiterklasse für eine höhere Lebensqualität“ und „immer auch ein Ziel für sich selbst“.
Dieser Blogartikel ist eine Kurzfassung des Beitrages in der WISO-Ausgabe 1 / 2017 des ISW-Linz.
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