Von Anne Rieger
Nach der von der WHO geltenden „Internationalen Klassifikation der Krankheiten“ (ICD-10) kann Burnout nicht als Krankheit diagnostiziert werden. Burnout gilt als Zustand physischer und psychischer Erschöpfung und fällt unter die Diagnosegruppe „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“. Anders als die Arbeitswissenschaftlern Gusy u.a. sieht die WHO die Ursache des Burnouts offensichtlich überwiegend beim Menschen, nicht in den Arbeitsbedingungen.
Kein individuelles Problem
Ist Burnout also ein individuelles, persönlich verursachtes Problem von vielleicht besonders labilen Menschen? „Knapp 100.000 Menschen mit insgesamt mehr als 1,8 Millionen Fehltagen wurden … im Jahr 2010 wegen eines Burn-outs krankgeschrieben“, berichtet Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO. Bei so vielen Kranken muss es wohl andere Ursachen geben. (Zwar können Ärzte Burnout nicht als eigenständige psychische Krankheit codieren, zunehmend aber geben sie die Gruppe „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen“ als Zusatzinformation an.)
Hunderte Medien, TherapeutInnen, ÄrztInnen, Sanatorien, Gewerkschaften, Krankenkassen, Wissenschaftler, Angehörige, Beschäftigte, Unternehmen, Betriebsräte beschäftigen sich mit dem Burnout betroffener Menschen. Der quantitative und qualitative Schwerpunkt liegt dabei auf der individuellen Ebene. Therapien zu Bewältigungsstrategien – teilweise verbunden mit dem Rat sich zu outen oder dem Rat den Arbeitsplatz zu verlassen – werden angeboten. Ein therapeutischer Geschäftsbereich ist entstanden. WissenschaftlerInnen erforschen individuelle Voraussetzungen oder Dispositionen. Persönlichkeitscharakteristika wie sogenanntes „Überengagement“ (wer nie gelodert hat, kann auch nicht ausbrennen) werden als Ursachen beschrieben. Einige diskutieren, ob es sich denn wirklich um eine Krankheit handele, andere ob es eine Form der Depression sei oder nicht. In Medien wird das Leiden der Menschen teilweise sogar als „Modekrankheit“ diffamiert oder die Frage gestellt, ob wir in einer Burnout-Gesellschaft leben.
Langfristig oder fortschrittlicher Denkende schlagen individuelle Prävention vor. Es werden Tipps veröffentlicht, wie man Warnsignale bei sich selber oder nahestehenden Personen möglichst frühzeitig identifizieren kann um gegenzusteuern, den Prozess des Ausbrennens möglichst frühzeitig zu stoppen. Häufig wird die Dualität von familiären, persönlichen Problemen in Verbindung mit den Bedingungen und Anforderungen am Arbeitsplatz als Ursache vermutet. Wieder andere untersuchen, ob es bestimmte Berufsgruppen wie Dienstleistungsberufe oder helfende Berufe gibt, in denen sich die Gefahr des Burnouts verstärkt verbirgt. Von der Entfremdung von der Arbeit, von der Kluft zwischen Unternehmen und Person wird gesprochen. Selten wird über eine kollektive Prävention – also eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen – nachgedacht, wie es die IG Metall in ihrer hervorragenden Broschüre tut. (1)
Keiner dieser Herangehensweisen soll ihre Berechtigung abgesprochen werden. Die Menschen in Not brauchen sie. Aber fast alle bleiben an der Oberfläche, befassen sich lediglich mit den Erscheinungsformen, erfassen jeweils nur Teilaspekte. Kaum eine dringt zum Kern des Problems vor: den inhumanen Arbeitsbedingungen und -verhältnissen, wie sie dem Kapitalismus immanent sind.
Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen
Hohe Arbeitsintensität, lange und unplanbare Arbeitszeiten, bezahlte und unbezahlte Überstunden, Vertrauensarbeitszeiten, Schicht- und Nachtarbeit, Arbeitsplatzunsicherheit, widersprüchliche Arbeitsaufgaben bzw. –aufträge, keine klare Prioritätensetzung, zu geringe Qualifikationsmöglichkeiten – also qualitative und/oder quantitative Überforderung -, Unterforderung, mangelnde Anerkennung, mangelnde Unterstützung, permanente Umstrukturierungen, ununterbrochenen Ausdünnung der Belegschaften, schleichendes stückchenweises Draufpacken zusätzliche Arbeitsaufgaben prägen den Arbeitsalltag der meisten Beschäftigten. Internet, E-Mails, Facebook, Twitter u.a., Handys und Smartphones ermöglichen den Unternehmern die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen, ja verschwinden zu lassen.
Mit den perfidesten Methoden wird immer mehr Output aus den Menschen gepresst. Der Druck ist subtil, immer öfter werden sie indirekt gesteuert. Die Selbstständigkeit, der eigene Willen der Beschäftigten werden instrumentalisiert für den Unternehmenszweck. Sie sollen agieren wie Unternehmer. Mehr und mehr Verantwortung wird ihnen übertragen, ohne das sie wirklich Handlungs- und Entscheidungsfreiheit haben. Denn Rahmenbedingungen wie Termine, Kosten, Personal, Qualität legt die Unternehmensleitung fest. Dazu werden teilautonome Einheiten, Profitcenter und kleinere GmbHs organisiert. Der Taktgeber für die zur Verfügung gestellte Zeit für die Erfüllung der Arbeitsaufgabe ist und bleibt der Unternehmer. Bezahlt wird nicht mehr nach Arbeitszeit. Was zählt, ist das Ergebnis, und Ergebnis ist nur ein anderes Wort für höheren Profit. Etwas anderes wird nicht geduldet.
Folge ist, dass immer mehr Arbeitsstunden in Projekte gesteckt, nicht angeordnete, unbezahlte Überstunden erbracht werden. Weil das nicht reicht, um die Motivation der Beschäftigten anzutreiben, wird unverhohlen gedroht, nicht mehr in den Arbeits- bzw. Unternehmensbereich zu investieren oder das Team/die Abteilung aufzulösen. Um die Konkurrenz untereinander anzustacheln, werden nicht nur Vergleichswerte als Referenzgrößen (Benchmarks) mit anderen Unternehmen angeführt, sondern auch mit anderen Werken, anderen Abteilungen. Systematisch vergrößert der Unternehmer die Kluft zwischen vorgegebenen Zielen und Arbeitsaufgaben einerseits und deren Machbarkeit in der vorgegebenen Zeiteinheit andererseits. Wer da nicht mithalten kann, weiß, dass letztlich seine berufliche Existenz auf dem Spiel steht. Zukunftsangst hat seit Hartz IV Einzug in die einstmals relativ sichere Arbeitswelt genommen. Arbeitsplatzzerstörungen wie jüngst für 10.000 Schlecker Frauen oder Sony führen durch die zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit zu weiterem Stress.
Die Angst vor Kurz- oder Langzeitarbeitslosigkeit als existenzielle Bedrohung für eine gesicherte Lebens- und Familienplanung, die eigene Altersabsicherung und die kostenintensive Versorgung und Pflege von Angehörigen drängt Menschen in eine Position, in der sie genötigt sind, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Besonders für Frauen führt die schwierige Vereinbarkeit von Familie, Kindererziehung oder Pflege mit dem Beruf zu lang dauernden, oft nicht zu lösenden Konflikten, schreibt der Arzt Jürgen Hölzinger von der Ärztekammer Berlin im Deutschen Ärzteblatt.
Die Belastung in den Betrieben trifft fast alle. Sie kann ähnlich oder gleich sein, dieselbe schwierige laute Schulklasse, dasselbe Projektteam, dieselben Zielvorgaben, und doch sind die Folgen nicht für jeden gleich. Man stelle sich eine Schubkarre vor: Ein großer, kräftiger Mensch bewegt sie mit Leichtigkeit, ein kleiner wird die gleiche Last ungleich schwerer empfinden. Ähnlich ist es mit psychischen Belastungen. Der schlechte Führungsstil und die Probleme im Team führen bei einem/er KollegIn zu Stress, eine/n anderen scheint es weniger zu berühren.
Burnout ist eine Antwort. Wenn Menschen die systematische Überlastung durch die Anforderungen am Arbeitsplatz individuell nicht überleben können, zwingt sie ihr Körper in den Prozess des Burnouts. Gusy u.a. (2) beschreiben Burnout als „defensiven Umgang mit empfundenen Arbeitsbelastungen … wenn berufliche Anforderungen die verfügbaren Ressourcen übersteigen“.
Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit
Wie im Brennglas wird im Burnout die verschärfte Ausbeutung der Menschen durch die Intensivierung der Arbeit im Arbeitsprozess sichtbar. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist angeblich beendet. Die Beschäftigten aber sind dauerhaft in der Krise in Fabrikhallen, Werkstätten, Büros, Verwaltungen, Callcentern, Forschung, Sozialen und pädagogischen Bereichen – auf allen Arbeitsplätzen gleichermaßen. Burnout kann jede/n treffen.
Keineswegs handelt sich um Kollateralschäden der betriebswirtschaftlichen Effizienz. Leistungs- und Konkurrenzdruck sind keine leidige Folge von Managementmethoden, sie sind gewollt. Sie sind das System. Immer mehr Beschäftigte sind überfordert, leiden unter chronischer Ermüdung bis hin zum Burnout schreibt die IG Metall.
Hier vollzieht sich, was Marx die „dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit“, d. h. wachsende Arbeitsintensität nannte, die „zugleich vergrößerte Arbeitsausgabe in derselben Zeit, erhöhte Anspannung der Arbeitskraft, dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit, d.h. Kondensation der Arbeit dem Arbeiter zu einem Grad aufzwingt, der nur innerhalb des verkürzten Arbeitstags erreichbar ist. Diese Zusammenpressung einer größren Masse Arbeit in eine gegebne Zeitperiode zählt jetzt als was sie ist, als größres Arbeitsquantum. Neben das Maß der Arbeitszeit als „ausgedehnter Größe“ tritt jetzt das Maß ihres Verdichtungsgrads“ (3). Folge ist ein erhöhter Mehrwert und damit erhöhter Profit.
Werwolfs-Heißhunger der Kapitals
„In seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit, überrennt das Kapital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximalschranken des Arbeitstags“ (4).
Karl Marx schrieb das 1867. Heute, 150 Jahre später, überrennt das Kapital in seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger die psychischen Grenzen der Intensivierung der Arbeit und des verlängerten Arbeitstag durch bezahlte und nicht bezahlte Überstunden und Flexibilisierung. Der systematische Verschleiß von menschlicher Arbeitskraft erhöht den Profit.
In den letzten 22 Jahren wurde die Ausbeutung massiv von Jahr zu Jahr verschärft. Seit der Versuch, in Europa eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen, abgebrochen und vorerst beendet wurde, hat das zu einer enormen Schwächung der Arbeiterbewegung, ihren Gewerkschaften, der Arbeiterklasse geführt. Resultat sind die faktische Verlängerung von Tages-, Wochen- und Lebensarbeitszeit mit ihrer Kehrseite, der hohen europaweiten Arbeitslosigkeit, der Ausweitung der prekären Arbeitsverhältnisse. Reallohnrückgang, die Unterlaufung von Tarifstandards durch Absenkungstarifverträge, der Ausstieg der Unternehmer aus dem Tarifverträgen, der Rückbau der Errungenschaften des Sozialstaates, die Verringerung der Einhaltung der Arbeitsschutzgesetze sind andere Folgen.
Kräfteverhältnis
Was also geändert werden muss um Burnout zu stoppen und rückgängig zu machen ist das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Nur durch kollektive, organisierte Gegenwehr kann der Stopp des radikalen Arbeitsplatzabbaus, die zusätzliche Einstellung von Beschäftigten, die notwendige Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Verkürzung der Tages- und Wochenarbeitszeit bei vollem Lohn-, Gehalts und Personalausgleich erreicht werden. Das hilft den Beschäftigten in den Betrieben um sich vor ihrem systematischen Verschleiß zu schützen.
Nur mit einem geänderten Kräfteverhältnis kann die Regierung, die nichts anderes ist als das geschäftsführende Personal der tatsächlich Herrschenden, gezwungen werden, die Umverteilung zugunsten der herrschenden Klasse zu stoppen und Beschäftigungsprogramme statt Belastungspakete zu schnüren.
Es ist wissenschaftlich belegt, schreibt die WHO, dass Länder, die die Folgen einer Wirtschaftskrise durch ein starkes soziales Netz abfedern, ihre Bevölkerung wirksamer vor den Risiken für ihre psychische Gesundheit schützen und so eine schnellere wirtschaftliche Erholung ermöglichen. Als wirksame soziale Schutzmaßnahmen kommen in Frage: aktive Arbeitsmarktprogramme, Unterstützung der Menschen bei der Erhaltung ihrer Arbeitsplätze bzw. einer schnellen Wiederbeschäftigung; Unterstützungsmaßnahmen für Familien; Beschränkungen der Verfügbarkeit von Alkohol; Schuldennachlassprogramme; Zugang zu Angeboten der psychischen Gesundheitsversorgung (5).
Was ist zu tun?
Die IG Metall fordert die Betriebsräte auf, sich zu Experten des Burnouts zu machen. Nicht als Therapeuten, sondern als Experten im Selbstschutz, im Erkennen krankmachender Arbeitsbedingungen und gefährdeter KollegInnen. Sie sollen Burnout im Betrieb zum öffentlichen Thema machen, es aus der Tabuzone holen, aufklären über die Ursachen, die in den Arbeitsbedingungen liegen und ihre Mitbestimmungsrechte nutzen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das sind richtige Notwehrmaßnahmen, die sofort eingeleitet werden müssen, um bereits kranken KollegInnen zu helfen und alle anderen zu schützen. Als Lotse sollten sie den Kontakt zu Beratungsstellen und TherapeutInnen herstellen.
„Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen“
…schrieb Hegel. Heute, wo Arbeit, wie wir sie unter kapitalistischen Verhältnissen vorfinden, physisch und psychisch krank macht, ist das nur schwer vorstellbar. Und doch ist richtig, was Wilhelm von Humboldt vor 200 Jahren feststellte: „Nie ist das menschliche Gemüt heiterer gestimmt, als wenn es seine richtige Arbeit gefunden hat.“ Und doch! Jede/r von uns weiß, dass, wenn wir eine Arbeit verrichtet haben, die uns Freude gemacht hat, Erfolg und Anerkennung brachte, waren wir heiter gestimmt. Wir sollten uns stärker mit dem Gedanken vertraut machen, dass Widerstand gegen das herrschende ausbeuterische, unsere Lebensgrundlagen und unsere Gesundheit zerstörende System eine Form von Arbeit ist, die unser Gemüt heiter stimmen kann.
Unser Ziel kann dabei nicht sein, die Arbeit abzuschaffen, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu fordern, damit wir wieder gesund leben können. „Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen (6), erläuterte Engels 1876. Also muss der Kampf um menschliche Arbeitsbedingungen gehen – und wenn er noch so aussichtslos erscheint. In Wirklichkeit haben wir keine andere Wahl, wenn wir nicht in der zivilgesellschaftlichen Barbarei enden wollen.
Sind wir selber überzeugt, dass politische, widerständige Arbeit, Freude machen kann, zu Selbstbewusstsein und Anerkennung führt, gelingt es uns leichter, unsere Mitstreiter in den Betrieben zu überzeugen. Um sich gegen Burnout zu wehren, schreibt Claus Leggewie, müssen Menschen nicht nur „widerstandsfähiger, sondern auch widerständiger gemacht werden, gegen Verhältnisse, die sie immer wieder krank machen werden“.
(gekürzte Fassung, gesamter Beitrag erschien zuerst in den Marxistischen Blättern (4-12) und auf bildungstmk.wordpress.com)
Anne Rieger, Dipl. Psychologin, hat als Arbeits- und Betriebspsychologin gearbeitet, ehem. Bevollmächtige der IG Metall
Fußnoten:
(1) IG Metall: Burnout – Ausgebrannt – Betriebsräte als Lotsen für Burnout-Betroffene, 2011
(2) Gusy, B. & Kleiber,D.: Burnout in Handbuch Betriebliche Gesundheitsförderung, Göttingen 1998
(3) K. Marx, Kapital I, 432.
(4) K. Marx, Kapital I, 280
(5) Schutz der psychischen Gesundheit in ökonomischen Krisenzeiten, WHO Regionalbüro für Europa, 17-03-201
(6) F. Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, 1876, MEW 20, 444
Titelbild: Burnout (pixabay.com; public domain)