„Es ist notwendig, ein linkspopulistisches Projekt zu organisieren“

Hanna Lichtenberger: Linke Politik muss sich stärker an den Lebensrealitäten der Menschen orientieren

kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, sprach mit der Politikwissenschaftlerin Hanna Lichtenberger über die Zusammensetzung aktueller rechter Projekte und über die Notwendigkeit, linke Alternativen wieder stärker mit einem Klassenstandpunkt zu verknüpfen.
 

kritisch-lesen.de: Unser Thema ist die Neue Rechte in Europa. Welche Entwicklungen siehst du in Europa allgemein, aber auch spezifisch mit Blick auf Österreich und Deutschland?

Hanna Lichtenberger: In der EU ist das Feld rechter Strömungen breit. Ich denke wir können fünf Strömungen ausmachen: Erstens die klassischen Neonazis und traditionell rechtsextreme Gruppen – die „Stiefelnazis“. Dazu gehört etwa die deutsche NPD. In Österreich und Deutschland gibt es zweitens die deutschnationalen, schlagenden Burschenschaften, die vor allem in Österreichs Politik eine wichtige Rolle spielen. Drittens können wir die Organisationen der Neuen Rechten wie etwa die Identitären in Österreich oder Frankreich anführen. Viertens kann man auch einen Anstieg dessen beobachten, was in der Literatur „Rechtspopulismus“ genannt wird. Und schließlich fünftens sieht man eine gesellschaftliche Rechtsbewegung: Ein Anstieg von antimuslimischem Rassismus, von Antisemitismus und autoritären Tendenzen in der Gesellschaft. Besonders an Österreich ist wohl die enge Verbindung zwischen Identitären, deutschnationalen Burschenschaftern und der FPÖ, der Freiheitlichen Partei Österreichs. Die Burschenschaften sind so etwas wie das ideologische und organisatorische Rückgrat der Partei. So hat zum Beispiel die FPÖ-Jugendorganisation, der Ring Freiheitlicher Jugend Österreichs, im Burgenland Veranstaltungen mit den Identitären organisiert. Und einige Identitäre haben bei den österreichischen Hochschüler_innenschaftswahlen auf der Liste der Freiheitlichen Studenten kandidiert.

Die FPÖ wird vielerorts mit anderen rechten und rechtspopulistischen Parteien gleichgesetzt. Wie ordnest du die FPÖ inhaltlich ein?

Ähnlich wie Marine Le Pens Front National versucht die FPÖ, die soziale Frage rassistisch zu beantworten. Mit dem Einstieg über soziale Sicherungssysteme und Wohlfahrtsstaatlichkeit stützen sie einen Diskurs, in dem es dann auf einmal um jene geht, die das vermeintlich bedrohen. Insbesondere die Strategie, mit antimuslimischem Rassismus zu argumentieren, funktioniert für die FPÖ sehr gut. Damit schaffen sie es, das „strategische Mehr“ zu erreichen: Ihre Wahlerfolge gehen über ihre traditionelle Wählerschaft, das deutschnationale Altnazi-Lager, das vielleicht 10 Prozent ausmacht, hinaus. Die Wahlerfolge der FPÖ sind durch ihre Strategie als „soziale Heimatpartei“, wie sie es nennen, möglich. Die Regierungsbeteiligung der FPÖ in den Jahren 2000 bis 2005 macht jedoch deutlich: bei der Betonung sozialer Themen handelt es sich um bloße Rhetorik. Gemeinsam mit der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) hat die FPÖ Privatisierungen von Staatseigentum beschlossen, wie der Post, der Telekom, der Austria Tabak. Auch die VOEST Alpine, der größte österreichische Stahlbetrieb, wurde teilprivatisiert. Da ging es also um den Kern der österreichischen Volkswirtschaft. Sie haben außerdem das Rentensystem angegriffen und die erforderlichen Beitragsmonate erhöht.

Für Juni 2017 hat die FPÖ ein neues Wirtschaftsprogramm angekündigt – bisher ist das eher die Suche nach dem Yeti. Einige Aspekte daraus sind aber schon publik geworden. Das wurde von Lobbyisten, Politikern und Vertretern der Industriellenvereinigung ausgearbeitet. Ich deute es vor allem als Vorbereitung für ein Projekt „Schwarz-Blau“, also eine mögliche Koalition mit der ÖVP. So gibt es in diesem Wirtschaftsprogramm ein klares Bekenntnis zur EU. Das ist interessant, weil die FPÖ ja sehr gerne damit kokettiert, aus der EU austreten zu wollen, oder zumindest den Euro in Frage zu stellen. Kurz: Je nachdem, wie die öffentliche Stimmung ist, hat die FPÖ eine andere EU-Position. Für die österreichische Exportstrategie ist es natürlich zentral, Teil des europäischen Binnenmarkts zu sein, und noch mehr, sich am deutschen Exportmodell (also die Orientierung auf Exportüberschüsse) zu orientieren. Denn Österreich exportiert vor allem Maschinen, Metalle, Papier und Nahrungsmittel, ersteres vor allem an Deutschland. Dementsprechend ist Deutschland mit 37,2 Prozent der größte Exportabnehmer Österreichs, gefolgt von Italien mit nur 6,2 Prozent. Zugleich ist Österreichs Volkswirtschaft in vielerlei Hinsicht von der Zulieferung an die deutsche Automobilindustrie abhängig. Eine Schwächung dieser Beziehung auf Grund eines „Öxits“ wäre für die österreichischen Kapitalfraktionen daher fatal.

Im Wirtschaftspapier der FPÖ geht es ganz klar darum, Lohnabhängige anzugreifen. Die FPÖ spricht sich für die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern (Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer, Landwirtschaftskammer, etc.) aus. Das ist vielleicht für den deutschen Kontext nicht ganz einfach zu verstehen: In Österreich gibt es die Arbeiterkammern (AK), die so etwas wie der wissenschaftliche Arm der Gewerkschaften sind. Jede Arbeitnehmerin, jeder Arbeitnehmer ist Pflichtmitglied in der AK. Die AK ist damit die stärkste Interessensvertretung für österreichische Arbeitnehmer_innen. Schafft man die Pflichtmitgliedschaft ab, ist das ein massiver Angriff auf die Gewerkschaften. An der Frage der Kammerpflichtmitgliedschaft hängt aber auch die Frage der Kollektivverträge. In Österreich haben wir eine 97-prozentige Tarifvertragsabdeckung, an die die Unternehmer_innen gebunden sind. Diese Bindung würde sich aufheben, wenn die Wirtschaftskammerpflichtmitgliedschaft fällt. Das wäre der massivste Angriff auf Arbeitnehmer_innenrechte in der Zweiten Republik.

Welche Interessen vertritt die FPÖ also?

Sie vertritt auf jeden Fall nicht die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Doch bei der Frage, welche Kapitalfraktionen sie vertritt, wird es komplexer. Mit dem neuen Wirtschaftsprogramm orientieren sie sich an transnational agierenden und exportorientierten Kapitalfraktionen, während sie beispielsweise in der TTIP-Debatte eine stärker national ausgerichtete Position einnehmen. Das ist paradox – und zeigt vor allem die Widersprüche innerhalb der FPÖ auf. Ihre Standpunkte sind aber in jedem Fall keine, die irgendwie klassenkämpferisch im Sinne von unten gegen oben sind.

Und wer wählt rechts in Österreich?

Die Frage ist nicht ganz leicht und auch in der Linken relativ umstritten. Die 10 Prozent, die die FPÖ sowieso wählen sind eher das deutschnationale Klientel. Es sind eher bürgerliche, tendenziell auf den österreichischen Binnenmarkt orientierte Unternehmer, Anwälte, Juristen – vor allem Männer. Aber die wichtige Frage aus linker Perspektive ist ja: Wer sind eigentlich die 20 Prozent, die sie wählen, obwohl sie keinen Bezug zum deutschnationalen Gedankengut haben? Man kann in Österreich sehen, dass das in der Tendenz Arbeiterinnen und Arbeiter sind, die momentan nicht explizit von Arbeitslosigkeit betroffen sind, die nicht explizit prekär arbeiten, sondern Angst davor haben, dass ihnen das passiert. Da sind Facharbeiter_innen dabei, für die Reallohnverluste Realität sind. Das sind die ökonomischen Aspekte. Andererseits lohnt es sich, auf die ideologischen Verhältnisse zu schauen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten verschoben haben. Hier spielen etwa der antimuslimische Rassismus und rassistische Sicherheitsdiskurse eine große Rolle.

Du bist selbst in Bündnissen gegen rechts aktiv. Wie sieht die Bewegung in Österreich aus?

In Österreich gibt es die Offensive gegen Rechts, die viele Aktionen gegen die Neue Rechte und die FPÖ anstößt. Traditionell versucht sie jedes Jahr, den FPÖ-Burschenschafterball oder Akademikerball zu verhindern oder zumindest zu thematisieren. Sie besteht aus über 40 Organisationen, von linken Sozialdemokrat_innen und sozialistischen Organisationen bis zu traditionell-marxistischen und trotzkistischen Gruppen sowie Jugendorganisationen von Gewerkschaften. Die Offensive gegen Rechts schafft es ganz gut, dieses Feld von Protesten gegen die Identitären, die Deutschnationalen und die Burschenschafter abzudecken. Sie arbeitet in Wien, im Burgenland, in Vorarlberg und in der Steiermark und es gibt eine enge Kooperation mit Linz gegen Rechts. Es ist gut, dass diese Bündnisse eine gewisse Kontinuität haben, dass es diese starken Netzwerke gibt, die nicht für jede Nazi- oder rechte Demo neu organisiert werden müssen. Solche Bündnisse sind enorm wichtig, damit in der Öffentlichkeit eine Gegenposition sichtbar wird. Gegen die FPÖ-Strategie der „sozialen Heimatpartei“ wirken die Proteste allerdings nicht. Das ist ein reales Problem der österreichischen Linken.

Kannst du dieses Problem noch ein bisschen genauer beschreiben?

Ich habe oft das Gefühl, dass die radikale Linke hier der Balkon-Muppet des eigenen Untergangs ist. Es gibt mit dem Projekt Aufbruch den Versuch, die Linke zu reorganisieren. Es ist ein Versuch, das Gemeinsame in der Linken vor das Trennende zu stellen. Nicht die Schwächen der anderen in den Vordergrund zu rücken und den Finger drauf zu halten, sondern zu zeigen, was man selber gut kann, wo man besser ist als die anderen, das dann einzubringen und gemeinsam an den Dingen zu arbeiten, die man nicht kann. Eine Einschätzung, die ich nun nach zweieinhalb Jahren Arbeit als Kleinkindpädagogin für die radikale Linke mitgenommen habe: Das allerwichtigste ist, dass man aus der Organisierungsfrage nicht so einen Fetisch macht. Mit „Organisationsfrage“ meine ich jetzt mal so grob, in welcher Form man sich organisiert, mit welchem Namen, welche Farbe das Logo und welchen Rotton die Fahne hat, wer mitmachen darf – und wer nicht. Das gilt in alle Richtungen, in Richtung der Genossinnen und Genossen in der Sozialdemokratie, für die radikale Linke und auch für stärker orthodox-marxistische Gruppen. Aus meiner Perspektive ist die wichtigste Frage, die über die Form der Organisierung entscheiden sollte: Wo können wir Kräfteverhältnisse verschieben? Das ist keine ausschließliche Frage der Organisationsform, sondern eine, die man immer historisch konkret beantworten muss. Ein Teil dieser Muppet-Show ist, dass alle ihrem Fetisch nachgehen und wenig Gespür für die realen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft haben.

Es klingt danach, als bräuchte es ein anderes Verständnis von Organisierung innerhalb der Linken?

Eine Sache, die sehr relevant ist und vielleicht zum Verständnis meiner Resignation beiträgt: In dem Organisierungsprojekt rund um Aufbruch hat es nur eine Hand voll Frauen gegeben, die die gewaltige emotionale Arbeit erledigt haben, 35.000 verschiedene Befindlichkeiten zu organisieren. Es wird total unterschätzt, welche Bedeutung affektive Arbeit für ein linkes Organisierungsprojekt hat und es gibt wenige Leute, die diese Rolle einnehmen können oder wollen. Verständlicherweise, denn das ist eine unsichtbare, undankbare Rolle, in der man selbst kaum dazu kommt, Positionen zu formulieren. Man sitzt dann da und denkt „Die postautonome Person hat gerade ‚Multitude‘ gesagt, die anderen haben über die ‚Prekären‘ geredet und die dritten über die ‚Arbeiter_innenklasse’“. Es braucht einfach unglaublich viele Übersetzerinnen und Übersetzer zwischen den unterschiedlichen Teilen der Linken, die dann sagen können: „Hey, ihr meint eigentlich das Gleiche, werden wir doch konkret“. Und was man dafür braucht, sind Leute, die an unterschiedlichen Projekten beteiligt waren, die sich für die Hand- und Kopf-Arbeit bereit erklären, wenn man es trennen mag, und die unterschiedliche Spektren kennen und von ihnen respektiert werden. In einer Phase, in der sich die Klassenkämpfe von unten nicht gerade aufdrängen, braucht es gemeinsame Projekte unterschiedlicher Kräfte: Um dann gemeinsam kämpfen zu können, wenn eine Dynamik entsteht.

Welche Anknüpfungspunkte siehst du konkret, um Kräfteverhältnisse zu verschieben?

Es wäre jetzt notwendig, eine politische Kampagne auf die Beine zu stellen, die thematisieren kann, was Schwarz-Blau eigentlich bedeutet – nämlich den absoluten Angriff auf Arbeitnehmer_innenrechte, auf die Rechte von Menschen, die nach Österreich gekommen sind, um Schutz zu finden, auf die Rechte und auf die Handlungsspielräume von Frauen. Diese Kampagne dürfen wir nicht den sozialdemokratischen Wahlkampagnen überlassen, in der dann sogar Rot-Blau, also eine Koalition mit der FPÖ, als attraktives Gegenmodell gezeichnet wird. Angesichts des massiven Angriffs, der uns da bevorsteht, und angesichts des Rassismus, den Menschen – im Moment besonders Muslim_innen – jeden Tag auf der Straße erleben, braucht es nicht ein gesellschaftliches Projekt, das vielleicht um 15 Aktivist_innen im Jahr wächst. Es braucht ein politisches Angebot, das Tausende aktiviert, das in jedem Kaff in Österreich präsent ist. Für die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen man steht, ist die Linke in Österreich einfach – noch – nicht bereit. Und die Kosten dafür, dass die radikale Linke aktuell so krass versagt – und damit meine ich jetzt einfach mal alles links der Sozialdemokratie – tragen Migrantinnen, Migranten, prekär Beschäftigte und andere Marginalisierte. In gewisser Weise sollte uns das zu ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit aufrufen.

Du hast angesprochen, wie wichtig es ist, ein breites politisches Angebot zu formulieren. Wie können die Köpfe und Herzen der Leute für eine klassenkämpferische Gegenantwort gewonnen werden?

Es ist notwendig, ein linkspopulistisches Projekt zu organisieren, welches dem Rechtspopulismus etwas entgegenhält; ein Projekt, in dem Populismus eher im Sinne von popularer Politik verstanden wird. Das heißt: Politische Positionen so zu formulieren, dass sie an den Lebensrealitäten von Leuten anknüpfen. Ich halte es für notwendig, die (fast) gestorbenen Strukturen der Sozialdemokratie in den Bezirken und in den Gemeinden zu aktivieren: Die vielen Hegemonieapparate, die es früher gab, vom Arbeiter_innen-Mandolinenverein, dem Arbeiterfischerverein, die Kinderfreunde und so weiter. Es bräuchte ein gesellschaftliches Projekt, das einen ähnlich breiten Anspruch hat und das Politik wieder in jene Lebensbereiche zurückbringt, wo sie auch reale Bedeutung hat. Wir müssen aufhören, immer so klein zu denken, wie uns der Neoliberalismus das vorgibt – und anfangen, ein großes gesellschaftliches Projekt zu formulieren.

Das Interview erschien zuerst am 11. Juli bei unserem Kooperationspartner kritisch-lesen.de unter der Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz.

Titelbild: wallpaperstock.net (Author: BVD)

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