Arbeiten, Partys, Shoppen und noch mehr arbeiten. Vicky lebte ein ganz normales Leben und fühlte sich wohl im kapitalistischen System. Heute will sie es abschaffen und erklärt, warum.
Nachdem mir klar geworden ist, dass nicht nur die „typischen Linken“ meinen Blog lesen, sondern eventuell auch fest im kapitalistischen System verankerte Menschen, habe ich mich dazu entschieden, zu erklären, warum ich mich selbst als linksradikal bezeichnen würde und das bestehende System abschaffen will.
Hierzu würde ich gern die am häufigsten auftretenden Klischees und Vorurteile gegen eine Systemänderung angehen. Doch vorab eine grundsätzliche Frage, die mir bisher kein Kapitalist und keine Kapitalistin beantworten konnte:
Wie soll Wachstum auf einem Planeten funktionieren, der nicht mitwächst?
Ich hoffe, es findet sich jemand, der zumindest versucht, dieser Frage eine Antwort zu geben.
1. Der Kapitalismus ist alternativlos.
Das ist schlichtweg eine Lüge. Wir Menschen existieren seit ca. 300.000 Jahren, grob geschätzt, auf dem Planeten Erde. Der Kapitalismus, von Menschen erschaffen, existiert erst seit ca. 200 Jahren. Auch vorher war Leben möglich. Nun werden die Kritikerinnen und Kritiker natürlich sofort von ihren Stühlen aufspringen und schreien:
„Ja, aber wir wollen doch nicht ins Mittelalter zurück.“
Das müssen wir auch gar nicht, denn die meisten technologischen Entwicklungen ließen sich ohne Probleme in ein neues System übertragen. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass in einem System was nicht auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation aufgebaut ist, die Entwicklung von Fortschritt ganz neue Dimensionen entwickeln könnte. Frei nach dem Motto: Sharing is caring oder Sharing is not stealing könnten wir, wenn wir uns unser Wissen und unsere Ressourcen untereinander zur Verfügung stellen, relativ schnell einen Großteil unserer bestehenden Probleme lösen.
2. Andere Systeme haben, seitdem es den Kapitalismus gibt, nicht funktioniert.
Falsch, sie hatten gegen den Kapitalismus schlichtweg keine Chance. Nehmen wir die DDR, die gerne als Beispiel herangezogen wird. In meinen Augen war die DDR kein Sozialismus, sondern Staatskapitalismus. Offiziell gehörte zwar alles dem Volk, doch es hatte keinerlei Möglichkeit, darüber frei zu verfügen.
Und wann immer Länder oder Gebiete versucht haben, alternative Systeme aufzubauen, oder zu erhalten, wurden sie dabei von außen, von den Supermächten des Kapitalismus massiv unter Druck gesetzt. Siehe Kuba, Spanien im Bürgerkrieg, etc. Dies ist ein weiterer Beweis für die Aggressivität des Kapitalismus, der, weil er auf Konkurrenz aufgebaut ist, keine Alternativen neben sich zulässt.
3. Ich will nicht auf meinen Luxus verzichten.
Ein für mich unfassbares Argument, wenn man sich das Leid und Elend der Menschen anschaut, auf denen unser Luxus aufgebaut wurde. Weil wir hier rund um die Uhr billigen Kaffee trinken wollen, müssen Menschen in anderen Ländern unter den unmenschlichsten Bedingungen für so gut wie keine Bezahlung bis zum Umfallen schuften. Weil wir jeden Tag Fleisch essen wollen, müssen Tiere einen unfassbar grausamen Leidensweg gehen, den die meisten der Fleischkonsumentinnen und Fleischkonsumenten sich nicht mal anschauen wollen.
Weil wir hier nicht bereit sind, auf den Überfluss zu verzichten, geht es Menschen und Tieren in anderen Teilen der Welt schlecht. So einfach ist das. Wer also gegen das ganze Elend, dass der Kapitalismus produziert, etwas tun will, sollte zuerst die eigene Konsumhaltung überdenken.
Aber müssten wir denn wirklich auf so viel Luxus verzichten, wenn wir den Kapitalismus abschaffen? Nun, wir müssten ganz sicher unsere Ernährung umstellen. Aber wäre das so verkehrt? Es gibt schon zahlreiche Studien, die belegen, dass die Ernährung der sogenannten „Erste-Welt-Länder“ unglaublich ungesund ist. Wir pumpen uns nicht nur rund um die Uhr mit Chemie voll, wir essen auch einfach zu viel, weil uns die Werbung ständig vorgaukelt, dass Essen zu einem guten Lifestyle dazugehört. Weil die Portionen immer größer werden, damit die Konzerne noch mehr an uns verdienen können.
Bis zu 50 Prozent unserer Lebensmittel werden weggeschmissen. In Buchstaben: fünfzig Prozent. Oder anders ausgedrückt, die Hälfte! Und das, obwohl wir dank des technischen Fortschritts heute ohne Probleme in der Lage wären, alles gerecht zu verteilen. Warum passiert das nicht? Weil Konzerne Geld damit verdienen, dass es diese Ungerechtigkeiten gibt.
Würden wir unsere Produktion der tatsächlichen Nachfrage anpassen, würde das Wirtschaftswachstum radikal einbrechen, denn die Produktion orientiert sich schon lange nicht mehr daran, was wirklich benötigt wird. Viel eher geht es darum, etwas was nicht gebraucht wird, zu produzieren und danach eine kluge Werbestrategie zu entwickeln, mit der man den Konsumentinnen und Konsumenten weismacht, dass sie ohne dieses Produkt lebensunfähig oder zumindest nicht so hip wie der Rest sind. Also ist doch die Fragestellung gar nicht „Warum soll ich auf meinen Luxus verzichten?“, sondern viel eher „Was ist eigentlich Luxus?“ Was brauche ich, um glücklich zu sein?
4. Was soll denn stattdessen sein, wenn nicht Kapitalismus?
Bei dieser Frage erschreckt mich vor allem die mangelnde Vorstellungskraft der meisten Menschen. Es gibt bereits zahlreiche alternative Modelle zum Kapitalismus und im Grunde wäre es denkbar einfach sich all diese Modelle anzusehen, auszuarbeiten und daraus ein neues System zu entwickeln. Doch dafür bräuchte es vor allem die politische Mitbestimmung aller, oder zumindest der meisten Menschen. Und genau die hat der Neoliberalismus in den letzten 25 Jahren so gut wie ausgeschaltet.
Wir haben die Konsumhaltung in nahezu allen Lebensbereichen übernommen, auch in der Politik. Stritt man früher lautstark am Tresen der Kneipe darüber, was man wählen sollte, ist es heute verpönt in der Öffentlichkeit überhaupt zu äußern, was man wählt oder warum. Mit der Abgabe der Stimme gibt man dann auch seine Verantwortung ab und ist raus aus dem Schneider. Läuft dann was schief, kann man auf die Politiker und Politikerinnen schimpfen und sich schwören, beim nächsten Mal eine andere Partei zu wählen. Fakt ist aber, egal was man wählt, es ändert sich nichts.
Das liegt nicht an der Unfähigkeit der Menschen zu wählen, sondern am System. Entscheidungen werden nur offiziell von Politikerinnen und Politikern gefällt, hinter der Fassade ziehen die Großkonzerne, Banken und Lobbyisten und Lobbyistinnen die politischen Fäden, erstellen Gesetze und verfügen über unser aller Leben. Alles im Namen des Gesetzes und der Demokratie.
Zur Ablenkung werden dann regelmäßig Großevents organisiert wie WM, EM, etc., damit das Volk bei Laune bleibt. Und gibt es doch hier und da mal einen Aufstand, wie um Beispiel in Stuttgart gegen den neuen Bahnhof, wird der einfach niedergeknüppelt und kriminalisiert. Dies schreckt dann auch nebenbei noch Leute ab die ebenfalls mit dem Gedanken spielen aufzustehen, und sich gegen die Ungerechtigkeit zu wehren.
Wer sich mit Alternativen zum Kapitalismus auseinandersetzen will, wird in Zeiten des Internets ganz schnell fündig: Gemeinwohlökonomie, anarchistische Modelle, ressourcenbasierte Wirtschaft, partizipatorische Ökonomie, Peer to Peer Ökonomie, usw. Die Liste ist endlos und vielfältig. Das Problem ist also nicht die fehlende Alternative, sondern die Unterdrückung der Entwicklung dieser durch den Kapitalismus.
Natürlich halten wir alle mit unserem Konsum den Kapitalismus am Leben. Aber es gibt einige Menschen auf diesem Planeten, die wollen, dass das auch so bleibt, und setzen alles daran, dass Alternativen in der Schublade bleiben.
Sie sind, wie die Occupy-Bewegung damals so schön feststellte, das eine Prozent. Natürlich profitieren weit mehr als ein Prozent der Leute vom Kapitalismus. Das ist genau das Perfide an diesem System. Dadurch, dass alle in Abhängigkeit gehalten werden, ist jede und jeder darauf bedacht, das System auch am Laufen zu halten. Nach oben buckeln, nach unten treten.
5. Wenn es keinen Druck gibt, geht keiner mehr arbeiten.
Falsch! Umfragen zum BGE (Bedingungsloses Grundeinkommen) haben zum Beispiel ergeben, dass sich lediglich 10 Prozent der Menschen mit einem BGE faul auf die Couch legen würden. Der Rest der Befragten gab an, entweder in gleichem Umfang wie vorher arbeiten zu gehen oder sich mehr ehrenamtlichen Tätigkeiten zuzuwenden. Und genau hier liegt auch eines der größten Probleme des Kapitalismus: Arbeit ist in unserer heutigen Zeit vollkommen falsch definiert.
Wir haben die letzten 100 Jahre alles daran gesetzt, Maschinen zu entwickeln, die uns die Arbeit abnehmen, und waren dabei in vielen Bereichen auch sehr erfolgreich. Und jetzt jammern wir darüber, dass wir keine Vollbeschäftigung erreichen? Da passt doch was nicht zusammen.
Was ist mit dem Großziehen unserer Kinder? Eine der wichtigsten Betätigungsfelder in unserer Gesellschaft, wenn man es logisch betrachtet und davon ausgeht, dass wir nicht aussterben wollen. Hier könnte ich jetzt noch etliche andere Betätigungsfelder anführen, die nicht oder nur sehr schlecht bezahlt werden. Ich kürze das aber mal ein wenig ab.
In unserer Gesellschaft haben diejenigen den höchsten Wert und werden am besten bezahlt die am meisten zum Wohl des Geldes beitragen, nicht zum Wohl des Menschen.
Krankenschwestern, Pflegekräfte, Mütter und Väter, Großeltern, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen usw. verdienen nichts im Vergleich zu Bankern und Bankerinnen, Managerinnen, Managern und Co.
Ist es nicht das Ziel eines jeden Menschen sein Leben möglichst sinnvoll zu gestalten? Würde das nicht implizieren, dass jeder Mensch sich versucht so gut wie möglich in eine Gesellschaft einzubringen und dementsprechend auch einen Teil der Arbeit, die anfällt zu leisten? Natürlich wird es auch solche geben, die sich auf Kosten der anderen auf die faule Haut legen, aber wie ich weiter oben schon erwähnte ist es eine verschwindende Minderheit. Und wegen genau dieser Minderheit leidet zurzeit die Mehrheit der Menschen unter dem System Kapitalismus.
Es ist also ähnlich wie beim Thema Überwachung. Wegen einer kleinen Minderheit Krimineller werden alle überwacht. Das ist das Prinzip des Kapitalismus. Anstatt von positiven Szenarien auszugehen, Vertrauen zu haben und Eigenverantwortung zu fördern, werden alle gleichgeschaltet. Bei dieser Gleichschaltung wird sich dann am schlimmsten Übel orientiert.
Mit Sicherheit ließe sich diese Liste noch um etliche Klischees ergänzen, doch wir wollen für den Anfang mal nicht übertreiben.
Was können wir tun, um dem Kapitalismus entgegen zu wirken?
Die Möglichkeiten sind erstaunlich vielfältig, wenn man sich ein wenig damit auseinandersetzt. Wie weiter oben schon erwähnt, sollte natürlich als Erstes das eigene Konsumverhalten hinterfragt werden.
Der Verschwendungssucht kann man gut vorbeugen, durch Containern, sparsames Einkaufen und Foodsharing, das bedeutet Essen teilen, anstatt es wegzuschmeißen. Außerdem sollten wir uns fragen, was uns wirklich glücklich macht.
Nach meinem radikalen Lebenswandel stellte ich schnell fest, dass man für die wenigsten Dinge Geld braucht. Jedes Mal wenn ich mich mit meinen Freundinnen und Freunden treffe, sind wir alle pleite, trotzdem haben wir Getränke, Essen, Rauchwaren und alles andere im Überfluss.
Wer christlich eingestellt ist, dem fällt wohl jetzt die Geschichte vom Brot und Fisch teilen ein. Wer alles gibt, bekommt noch mehr zurück. Diese Lebensweisheit habe ich in den neun Monaten, in denen ich komplett ohne Geld im Occupy Düsseldorf Camp gelebt habe, gelernt. So viele Menschen waren mir dankbar dafür, dass ich mein Leben diesem Camp gewidmet hatte, dass sie auf Kleinigkeiten gut verzichten konnten, die für mich in diesem Moment die halbe Welt bedeuteten.
Kerzen, Tampons, warme Decken, Schokolade, ein Beutel Tabak, Wollsocken, beinahe alles wird zum Geschenk, wenn man nichts hat. Und beinahe alles gibt man gerne wieder ab, wenn man nichts hat. Es entwickelt sich eine Art Grundvertrauen in die Menschen, mit denen man sich umgibt. Dieses Gefühl bereichert einen mehr, als alle Euros auf dieser Welt.
Kleine autonome Strukturen, die dem Kapitalismus entgegenwirken, gibt es fast überall. Man muss sie nur ein wenig suchen. Autonome Zentren, Guerilla-Gardening-Gruppen, Garagen-Trödel sind nur einige Beispiele dafür.
Mein Tipp: Geht mit offenen Augen, aber vor allem mit offenem Herzen durch die Welt und habt Vertrauen, auch wenn ihr Rückschläge erlebt. Veränderung fängt im eigenen Kopf an!
Hinweis: Der Beitrag von Vicky erschien erstmals in einer älteren Version auf ihrem Blog und wurde für Neue Debatte, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, aktualisiert. Als Micro-Bloggerin berichtet die Autorin regelmäßig auf ihrem Twitter-Account über ihr gesellschaftliches und politisches Engagement, und beantwortet Fragen der Community.
Titelbild: Unsere Zeitung