Die ÖVP-FPÖ Regierung und ihre Retro-Politik: Wird das Erwachsenenschutzgesetz gekippt?

Am 1. Juli 2018 hätte das neue Erwachsenenschutzgesetz in Österreich in Kraft treten sollen. Damit verbunden wären direkte Verbesserungen für Menschen mit Behinderung: Mehr Autonomie, Selbstbestimmung und unterstützte Entscheidungsfindung. All das könnte nun in unerreichbare Ferne gerückt sein. 

Von Hannah Wahl

Die Retro-Politik der amtierenden Regierung verheißt nichts Gutes für behindertenpolitische Anliegen: Die Sonderschulen sollen ausgebaut werden, das Taschengeld in Werkstätten lediglich erhöht werden – und das, obwohl beides der von Österreich ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention (2008) widerspricht. SelbstvertreterInnen haben die als „Beschäftigungstherapie“ verkaufte, unentlohnte Arbeit von Menschen mit Behinderung längst als Farce enttarnt und die Folgen der Aussonderung in Sonderschulen angeprangert. Auf Regierungsseite scheint dies aber nicht registriert zu werden. Stattdessen greift man nun einen weiteren rechtlichen Meilenstein an.

Die „Sachwalterschaft ist bewährt aber veraltet“

Die Sachwalterschaft sei bewährt, aber veraltet, heißt es in der offiziellen Broschüre, die noch vergangenes Jahr vom Bundesministerium für Justiz herausgegeben wurde. Denn die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet mit Artikel 12 die gleichberechtige Rechts- und Handlungsfähigkeit anzuerkennen und zu ermöglichen. In diesem Sinne sollte mit dem neuen Erwachsenenschutzgesetz die gesetzliche Vertretung von Menschen mit Behinderung durch SachwalterInnen endlich abgelöst werden. Damit hätte ein seit 1984 geltendes und wegen seines grundsätzlich bevormundenden Charakters kritisiertes Konzept im Sinne der Menschenrechte endlich Geschichte sein können. Auch der politische Grundsatz der SelbstvertreterInnen – „Nichts über uns – ohne uns“ – wurde beim neuen Erwachsenenschutzgesetz berücksichtigt: SelbstvertreterInnen wurden ebenso eingebunden wie involvierte ExpertInnen im politischen, juristischen und sozialen Bereich .

60.000 Personen würden im alten System gefangen bleiben

Das Justizministerium äußert auf Anfrage der Austria Presse Agentur (APA) lediglich, das Erwachsenenschutzgesetz sei Verhandlungsgegenstand der laufenden Budgetverhandlungen. Für Volksanwältin Gertrude Brinek (ÖVP) sei dies nicht nachvollziehbar: „Die Finanzierung wurde vor einem Jahr zugesichert. Ich gehe davon aus, dass das gesetzeskonform umgesetzt wird“, so Brinek gegenüber der APA. Hingegen scheinen die  SelbstvertreterInnen bereits heute morgen über eine Verschiebung aus Budgetmangel informiert worden zu sein und kritisieren das Vorhaben aufs schärfste. Monika Schmerold, stellvertretende Vorsitzende von Selbstbestimmt-Leben-Österreich (SLIÖ), verweist in einer aktuellen Presseaussendung auf die Verpflichtung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ohne dem neuen Erwachsenenschutzgesetz würden rund 60.000 Personen im alten System der Sachwalterschaft gefangen bleiben.

Vorhaben löst Welle der Kritik aus

Auch die Oppositionsparteien protestieren vehement. „Ich bin entrüstet, dass dieses Gesetz, das so vielen Menschen den Weg zu mehr Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung geebnet hätte, mit einem Federstrich vom Tisch gefegt wird“, so die grüne SozialsprecherIn LAbg. Kimbie Humer-Vogl. Die Bundesregierung spare auf dem Rücken jener, die kaum eine Lobby haben: Hochbetagte Menschen, psychisch kranke Menschen, Menschen mit Behinderungen.

Entsetzt über die Sparmaßnahmen zeigt sich auch Ulrike Königsberger Ludwig, SPÖ-Sprecherin für Menschen mit Behinderung: „Bundeskanzler Kurz und seine Regierungsmitglieder nehmen das Recht auf Würde und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung nicht ernst.“ Dass das neue Erwachsenenschutzgesetz an fehlenden Budgetmitteln scheitern soll, sei völlig inakzeptabel.

Die Behindertenanwaltschaft verweist auf den Umstand, dass Österreich bei der Staatenprüfung über die Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention bereits heftig für die veraltete Rechtslage kritisiert wurde. „Es ist erschütternd, welchen Stellenwert die Bundesregierung den Rechten von Menschen mit Behinderung einräumt“, so Behindertenanwalt Hansjörg Hofer weiter.

Laut Peter Kolba, Klubobmann der Liste-Pilz, sei es empörend, „dass diese Regierung beschlossene Gesetze offenbar reihenweise wieder ändern, abschaffen oder verschieben will. Er bezeichnet das Vorhaben der Regierung als einen „Schlag ins Gesicht“ für Menschen mit Behinderung. Irmgard Griess, Justizsprecherin der NEOS fordert die Regierung zur Umsetzung des neuen Erwachsenenschutzgesetzes auf: „Die Reform, die letztes Jahr einstimmig im Nationalrat beschlossen wurde, hätte nun endlich ein flexibles Sachwalterrecht gebracht, das die Freiheit und Selbstbestimmung betroffener Personen bestmöglich schützt.“ Es sei unverständlich, dass die ÖVP-FPÖ-Regierung nun einen Rückzieher mache.

Der Österreichischische Behindertenrat schließt sich dem breiten Protest an. Eine Überarbeitung der Sachwalterschaftsgesetzgebung sei bereits lange überfällig, um eine Rechtslage gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention zu schaffen, heißt es in einer Presseaussendung. Herbert Pichler, Präsident des Behindertenrates stellt fest, dass eine Verschiebung um zwei Jahre ein Schritt in die absolut falsche Richtung sei.

Diakonie-Direktor Michael Chalupka verweist darauf, dass Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung auch finanzielle Ressourcen erfordere. Verbauen wir Menschen mit Behinderung nicht die Zukunft, sondern ermöglichen wir sozialen Fortschritt, so Chalupka weiter. Besorgt über die möglichen Regierungspläne ist auch die Lebenshilfe Österreich und appelliert, das “vorbildliche Gesetz” wie geplant umzusetzen.

Der Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention lobt den partizipativen Prozess, der schließlich zum einstimmig beschlossenen Erwachsenenschutzgesetz führte. In Hinblick auf die Staatenprüfung 2019 setze die Regierung mit einer Verschiebung ein “denkbar schlechtes Zeichen” die menschenrechtliche Entwicklung in Österreich betreffend.

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