Mittelmeer oder Stacheldraht

Reinhard und Daniela auf Spurensuche für wen und für was sich die Tore nach Afrika und Europa öffnen und für wen sie geschlossen bleiben.

Ceuta – Während in Europa die Flüchtlingsthematik das politische Tagesgeschehen bestimmt, wird an der Grenze zur spanischen Enklave Ceuta im Norden Marokkos aus der europäischen Sicherheitspolitik bittere Realität. Seit dem Schengener Abkommen verläuft hier die Außengrenze der Europäischen Union auf dem afrikanischen Kontinent und ist heute einer der bestgesichertsten Grenzübergänge der Welt, um Geflüchtete an Asylansuchen zu hindern. Nur wenige Kilometer weiter befindet sich der 2007 fertiggestellte und um zwei Milliarden Euro aus dem Boden gestampfte Containerhafen Tanger Med, eine Anlaufstelle für Waren aus aller Welt. Wir begeben uns auf Spurensuche für wen und für was sich die Tore nach Afrika und Europa öffnen und für wen sie geschlossen bleiben.

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Die Straße von Gibraltar

Das Tor zu Afrika

Daniela und ich starten unsere Reise in Tanger. Tanger, das Tor zu Afrika war bis zur Unabhängigkeit Marokkos 1956 eine Freihandelszone, was der Stadt Reichtum und große wirtschaftliche Bedeutung bescherte. Aber die besondere Lage zog auch Aussteiger, Künstler und Schmuggler an, weshalb sie als verführerisch und gefährlich galt. Davon ist heute wenig geblieben. Nur die Medina, das Zentrum der Altstadt, und deren Plätze zeugen noch von dieser Zeit. Die Viertel rund um die Altstadt wirken modern und die Stadt scheint aus allen Nähten zu platzen. Hatte die Stadt 1994 noch 497.147 EinwohnerInnen waren es 2014 bereits 947.952. Wie in vielen Regionen der Erde ziehen auch hier die Menschen in die Zentren, mit der Hoffnung in der Stadt Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Am Abend vor unserer Reise nach Ceuta treffen wir im altehrwürdigen Café Fuentes auf Mohammed. Der ältere Herr hat sein ganzes Leben in der Gegend verbracht und kennt diese wie seine Westentasche. Das Café Fuentes ist eines aus der großen Zeit der Stadt und es scheint sich seit dieser Zeit kaum etwas verändert zu haben. Mohammed bietet uns an, mit uns gemeinsam nach Ceuta zu fahren, wenn wir das Taxi seines Bekannten nehmen würden – wir nehmen das Angebot an.

Die Mauer um Europa

Wir fahren die Küstenstraße durch das Rif-Gebirge Richtung Ceuta. Die Stadt gehört wie die weiter im Osten gelegene Stadt Melilla bereits seit dem 15. Jahrhundert zu Spanien. Marokko beansprucht die Gebiete zwar für sich, akzeptiert aber mangels Optionen den Status quo. An der Straße von Gibraltar trennen Europa und Afrika nur 14 Kilometer Mittelmeer. Wir lassen den Hafen Tanger Med hinter uns und fahren weiter Richtung spanischer Enklave. Wie bedeutend diese Region für die Regierung und den König Marokkos ist, können wir an der hohen Polizeipräsenz sehen. Zwar gibt es im ganzen Land Check-Points der Polizei, um Einheimische und Touristen  zu kontrollieren, hier sind sie aber noch offensichtlicher und häufiger. Als wir kurz vor Ceuta sind, sehen wir am Straßenrand einige Menschen laufen. „Refugees – Flüchtlinge“, sagt Mohammed, aber das wissen wir bereits, es ist offensichtlich – den Menschen sind die Strapazen und die Verzweiflung anzusehen.  An der Grenze angekommen setzt Regen ein. Auf acht Kilometern grenzt hier also die EU an Marokko, der sechs Meter hohe Zaun mit NATO-Stacheldraht hat allerdings sechzehn Kilometer. Zwei Zäune laufen hier parallel im Abstand von fünf Meter. Es erinnert ein wenig an die innerdeutsche Grenze mit dem Todesstreifen zu Zeiten des Kalten Krieges, auch wenn es hier, zumindest für scharfe Munition, keinen Schießbefehl gibt. Die Lage an der Grenze ist chaotisch. Die MarokkanerInnen, die in den Grenzstädten wohnen, dürfen die Grenze ohne Visum überqueren, allerdings nur wenn sie Schikanen über sich ergehen lassen. Auf einer Mauer sitzen gut 100 MarokkanerInnen und warten im Regen bis zu 24 Stunden auf den Übertritt, wie uns Mohammed erzählt. Neben uns kommt es zu einem Handgemenge zwischen den Grenzbeamten und den wartenden Menschen, die Stimmung wirkt sehr angespannt. SchwarzafrikanerInnen sind hier kaum zu sehen, nur eine Handvoll scheinen die Situation zu beobachten.  „Die leben im Wald und greifen dann zu mehreren Hundert an“ sagt uns Mohammed. In den Wäldern unweit der Grenze leben mehrere Tausend Flüchtlinge aus den Ländern südlich der Sahara. Vom marokkanischen Staat verfolgt leben sie hier in notdürftig zusammengebauten Zelten, gegessen wird das, was es im Müll der umliegenden Städte zu finden gibt oder im Wald gejagt werden kann. Wer es bis hierher geschafft hat, hinter dem liegen bereits tausende Kilometer durch Wüsten und Krisenregionen. Hier ist für sie Europa in Sichtweite und ihr Traum vom besseren Leben zum Greifen nahe. Doch nur Wenige schaffen es. Zu bestimmten Zeiten versuchen sie die Grenze zu stürmen. Viele Menschen in den Camps haben Schnittwunden durch den Stacheldraht und andere haben den Versuch mit ihrem Leben bezahlt. So versuchten im Februar 2015 zum Beispiel mehrere hundert Menschen von der marokkanischen Seite nach Ceuta zu schwimmen. Die spanische Polizei feuerte mit Gummigeschossen und Tränengas auf sie, 15 von ihnen verloren ihr Leben. In Europa werden diese Menschen oft als Wirtschaftsflüchtlinge denunziert, doch welche Wirtschaft kann das sein, dass sie den Weg über das Mittelmeer oder durch Stacheldraht vorziehen?

Ceuta
Grenzübergang nach Ceuta

Meer der Armut

Von den Vereinten Nationen werden 48 Länder der Erde auf Grund von Bruttonationaleinkommen, Lebenserwartung, Bildung und weiterer Indikatoren als Least Developed Countries  klassifiziert. 34 dieser auch als „Vierte Welt“ bezeichneten Staaten liegen südlich der Sahara. Diese Länder nehmen nach dem Entwicklungsforscher Fred Scholz nur eine marginale Position innerhalb des neoliberalen Weltwirtschaftssystems ein. Er bezeichnet diese „neue Peripherie“ als Meer der Armut. In vielen Gebieten werden nur Rohstoffe abgebaut, die sich dann in unseren Smartphones, Laptops und Fernsehgeräte wiederfinden. Die Arbeitsbedingungen sind kaum besser als zur Zeit der Sklaverei. Auch Kinder werden gerne für den Abbau von Rohstoffen eingesetzt, weil sie leichter in die gefährlichen, kleinen Stollen passen. Der Gewinn aus den abgebauten Materialen geht an die Diktatoren, Wirtschaftseliten und vor allem an die Investoren aus den Industrieländern des globalen Nordens. Aber nicht nur die Rohstoffe sind begehrt, auch das Land, welches in den oft dichtbesiedelten Gebieten der reichen Länder knapp wird, ist ein begehrtes Gut. Große Landflächen werden von ausländischen Investoren, oft auch unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe mit öffentlichem Steuergeld aus Europa, angekauft oder gepachtet. Auf diesen Flächen, die über Generationen von der lokalen Bevölkerung traditionell bewirtschaftet wurden, werden nun Plantagen mit Ölpalmen oder Pflanzen für Agrotreibstoffe gebaut. Diese industriellen Anlagen schaffen nur wenige Arbeitsplätze, welche durch den Einsatz von giftigen Herbiziden und Pestiziden einerseits die Gesundheit der ArbeiterInnen bedroht und andererseits die Umwelt vergiftet. Zur Nahrungsmittelsicherheit tragen diese Cash Crops (Bargeld-Pflanzen) auch nicht bei, sind sie doch für den Export bestimmt. Dieser als „Land grabbing“ bezeichnete Vorgang wird von der Weltbank unter der Förderung von Auslandsdirektinvestitionen im Agrarsektor sogar noch unterstützt. Für die lokale Bevölkerung, die nun ihr Land nicht mehr bewirtschaften kann bleibt nur noch die Flucht in die Armenviertel der Städte oder eben nach Europa.  Mit dem Vorwand der Ernährungssicherheit investieren internationale GeldgeberInnen auch in Flughäfen und Containerterminals wie, unweit von hier Tanger Med, um die afrikanischen Märkte auch mit ihren Exporten erschließen zu können. Durch Handelsabkommen werden die Länder gezwungen ihre Zölle zu beseitigen und den Schutz ihrer lokalen Wirtschaftsstrukturen aufzugeben. Ob beim Hühnerfleisch, Milchpulver oder beim Weizen, gegen die hochsubventionierten Produkte aus Europa haben die einheimischen LandwirtInnen keine Chance. So verlieren auch jene die noch Land zu bewirtschaften haben, ihre Existenzgrundlage. Mit dieser Politik schaffen die Industriestaaten selbst die Flüchtlinge, die dann mit Stacheldraht und Tränengas aufgehalten werden sollen.

Auf dem Weg nach Tanger Med, wo wir Afrika mit der Fähre wieder Richtung Europa verlassen, hat unser Fahrer alle Mühe das, auf der regennassen Fahrbahn ausgebrochene Auto wieder abzufangen. Wir haben Glück. Dass die Grenze zwischen Glück und Pech, zwischen Gewinnen und Verlieren, oft eine sehr schmale ist wird an diesem Ort besonders deutlich.

Autor: Reinhard Fritz
Zuerst erschienen auf neoland.blog

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