Eine Analyse von Gerhard Kovatsch (Nicaragua-Nachrichten)
Am 18. April begannen StudentInnen zusammen mit PensionistInnen in einem Geschäftsviertel von Managua Protestaktionen gegen die gerade von der Regierung beschlossene Reform der Sozialversicherung. Nach Zusammenstößen mit Stoßtrupps der Sandinistischen Jugend, welche den DemonstrantInnen den öffentlichen Raum nicht überlassen wollten, kam es zum Einsatz der Bereitschafts- und Anti-Aufruhrpolizei und den ersten Verletzten. Ab Donnerstag 19. April weiteten sich die Proteste auf mehrere Universitäten der Hauptstadt aus, ab 20. April auf die wichtigsten Städte der Pazifikregion, ab diesem Tag schlossen sich auch zahlreiche BewohnerInnen der Barrios (Stadtviertel) den Protesten an. Zu Redaktionsschluss werden über 30 Tote beklagt. Daniel Ortega hat die Reform zurückgenommen und zu einem inklusiven nationalen Dialog eingeladen. Er ersuchte die katholische Bischofskonferenz um Vermittlung und Moderation. Noch sind die Auswirkungen der Krise auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung nicht absehbar. Nicaragua hofft auf eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Dynamik und den Erhalt bzw. Ausbau des Sozialstaates.
Anlass: Reform der Sozialversicherung
Der Anlass war der Beschluss einer Reform der Sozialversicherung, den die Regierung des Präsidenten Ortega nach gescheiterten Verhandlungen mit dem Unternehmerverband COSEP einseitig fasste und am 17. April als Dekret des INSS im Amtsblatt veröffentlichen ließ. Die Regierung hatte die Reform der Sozialversicherung zusammen mit einer neuen Steuerreform mit dem Unternehmerverband verhandelt, aber in dieser Verhandlungsrunde ausnahmsweise keine Einigung erzielt. Wegen der Dringlichkeit der Sanierung der Sozialversicherungsinstituts INSS entschied sie schließlich allein und rechnete damit, dass vor allem die Gewerkschaftsverbände und die Sandinistische Jugend die Reform verteidigen würden, da diese weder die Anzahl der notwendigen Mindestbeitragsmonate noch das Antrittsalter der Sozialversicherten erhöhte und außerdem die Mindestsicherung für SeniorInnen, die nicht genug Beitragsmonate gesammelt hatten, aufrechterhielt. Im Moment des Ausbruchs der Proteste ergab sich die absurde Situation, dass die Regierung, die eine brutale Reform des COSEP und des Internationaler Währungsfonds verhindern wollte, dafür von den StudentInnen „geprügelt“ wurde und sich die, welche eigentlich die Verelendung der Alten planen, nun plötzlich auf der Seite der Guten einreihten.
Ausweitung der Proteste auf die Departementsstädte
Die Proteste und deren schnelle Ausbreitung auf die größten Universitäten Managuas sowie in der Folge auf die Provinzhauptsädte habe die Regierung und alle anderen überrascht, gibt der frühere Comandante de la Revolución Bayardo Arce, heute wirtschaftspolitscher Berater der Regierung Ortega, in einem Interview mit dem mexikanischen Fernsehkanal Univision zu. Die Polizei, der exzessive Gewaltanwendung gegenüber den anfangs friedlichen DemonstrantInnen vorgeworfen wird, habe in dieser schwierigen Konfliktsituation vielleicht falsch reagiert und die Kontrolle verloren. Ab der Ausbreitung der Proteste waren die Fernsehkanäle 12, 15, 23, 51 und der Kanal 100% Noticias im Kabelfernsehen nicht mehr zu empfangen. Die Betreiber beschuldigten die Regierung, sie abgedreht zu haben.
Über 30 Tote und Brandlegung in öffentlichen Gebäuden und Zentren der FSLN
Ab diesem Moment wurden die Proteste immer gewalttätiger, am ersten Tag waren drei Tote zu beklagen, am dritten Tag bereits über zwanzig. Bereits am Freitag 20. April hatten sich zahlreiche Nicht-StudentInnen, vor allem BewohnerInnen der Barrios und der Provinzhauptstädte, den Protesten angeschlossen. Dabei wurden staatliche Gebäude (Einrichtungen der Sozialversicherung, Universitätsgebäude, Gesundheitszentren, Polizeistationen, Bürgermeisterämter) und Einrichtungen der FSLN (Parteilokale, Radiostationen) in Brand gesteckt oder verwüstet.
Bereitschaft Ortegas zu Dialog; Plünderungen von Kaufhäusern und Supermärkten
Am Samstag 21. April erklärte sich Präsident Ortega bereit, die Reform mit dem COSEP neu zu verhandeln. Am selben Tag nahmen die Proteste zu, die Forderungen der DemonstrantInnen gingen über jene der Sozialversicherung hinaus: Beendigung der Repression, Aufklärung der Todesfälle und Verletzungen sowie Rücktritt der Polizeichefin, des Heereschefs und des Präsidenten des nationalen Rates der Universitäten, sowie Einrichtung eines inklusiven Dialoges mit offener Agenda (1). Das Nicaraguanische Heer wurde zur Bewachung von staatlicher Infrastruktur und strategischen Objekten ausgesandt. Am selben und darauffolgenden Tag kam es zu massiven Plünderungen von Supermärkten und kleinen Geschäften, vor allem in Managua, sowie in der Auseinandersetzung zwischen Plünderern, sich selbst verteidigenden Händlern und der Polizei zu weiteren Toten und Verletzten. Ortega erklärte noch am Sonntag 22. April die offizielle Rücknahme des Reformdekretes, die dann auch im Amtsblatt publiziert wurde. Er lud nun zum von mehreren Gruppierungen der nicaraguansichen Gesellschaft verlangten nationalen Dialog ein und ersuchte die Bischofskonferenz der katholischen Kirche in diesem Dialog zu vermitteln. Die Bischofskonferenz akzeptierte das Angebot. Am 23. April rief der Unternehmerverband COSEP zu einer friedlichen Demonstration für den Dialog auf, dem sich zahlreiche andere Organisationen, unter anderem auch die demonstrierenden StudentInnen, anschlossen. An der Demonstration, bei der es keine Zwischenfälle gab, nahmen mehrere tausend Personen teil. Seit dieser Kundgebung wurden keine Gewalttaten mit Toten oder Verletzten mehr gemeldet. Ab Montag 23. April übergab die Nationale Polizei im Rahmen der Proteste Festgenommene an die katholische Kirche. Einige StudentInnen wurden auch direkt aus dem Gefängnis La Modelo in Tipitapa freigelassen. Es gibt keine offiziellen Daten bezüglich der Anzahl der Festnahmen und Freilassungen.
Einrichtung einer Untersuchungskommission und Rücktritt der Polizeichefin
Am 26. April gab das nicaraguanische Justizministerium bekannt, es werde die im Zuge der Proteste begangenen Gewalttaten untersuchen und die Schuldigen vor Gericht bringen. Am selben Tag beschloss das nicaraguanische Parlament die Einsetzung einer unabhängigen Wahrheitskommission zur Aufdeckung der Gewalttaten. Diese wird von den protestierenden StudentInnen als parteiisch abgelehnt, verlangt wird eine unabhängige Kommission unter internationaler Leitung.
Bischofskonferenz stellt Rückzug vom Dialog in Aussicht, wenn dieser innerhalb eines Monats keine Fortschritte zeigt
Die Bischofskonferenz hat ihre Teilnehmer als Vermittler festgelegt, es sind dies der Erzbischof von Managua Kardinal Leopoldo Brenes, sein Weihbischof Silvio Baez, der Bischof von León Bosco Vivas und der Bischof von Matagalpa Rolando Álvarez. Bei einer landesweiten Prozession am 28. April gab der Erzbischof von Managua Kardinal Leopoldo Brenes bekannt, dass die Bischofskonferenz nach einem Monat den Dialog und seine Resultate evaluieren würde. Wenn es bis dahin keine signifikanten Fortschritte gebe, würde sie ihre Rolle als Vermittlerin aufgeben und sich vom nationalen Dialog zurückziehen.
Die blutigste Auseinandersetzung seit Ende des Krieges
Die Gewalttätigkeiten der Proteste gegen die Sozialversicherungsreform sind in der 28-jährigen nicaragunaischen Nachkriegsgeschichte unübertroffen. Noch steht die genaue Anzahl der Toten nicht fest: Die Menschenrechtsorganisation CENIDH (Centro Nicaraguense de Derechos Humanos) zählte nach Ende der Gewalttaten 34 Tote, die CPDH (Comisión Permanente de Derechos Humanos) meldet am 26. April 63 Todesopfer, nachdem sie zuvor 38 verzeichnet hatte. Die Tageszeitung La Prensa veröffentlichte am 27. April das Porträt von 34 getöteten Personen, darunter sind 11 Schüler und Studenten, ein Polizist, eine Polizistin, ein Jounalist, 12 ArbeiterInnen und acht BewohnerInnen von Barrios ohne Berufsangabe. Letztere haben Gruppen der Konfliktparteien unterstützt oder sind als Unbeteiligte ums Leben gekommen. Der Jüngste ist 15 Jahre alt, der Älteste 42. Laut La Prensa sind 21 von ihnen in Managua ums Leben gekommen, vier in Masaya die übrigen in anderen Provinzhauptstädten. Fast alle starben durch Schussverletzungen. Eine Zurechnung der Verantwortung ist auf der Grundlage der vorhandenen Angaben nicht möglich. Es ist nachgewiesen, dass die Protestierenden über Schusswaffen verfügen, über selbstgebastelte sogenannte Morteros, aber auch über Hand- und Faustfeuerwaffen. Die Beteiligung von Scharfschützen wird von Medien und Beobachtern vermutet. Auf wessen Befehl sie schossen ist zur Zeit nicht nachweisbar.
Offene Fragen
Das erschreckende Ausmaß und die unglaubliche Intensität der Gewaltanwendung haben NicaraguanerInnen und AusländerInnen schockiert. Sie scheint das Bild eines friedlichen und sicheren Nicaraguas, Voraussetzung für Investitionen und Entwicklung des Tourismus, Lügen zu strafen und wirft viele offene Fragen auf: Wie kommt es, dass in einer als friedfertig gefühlten Gesellschaft solche Gewaltexzesse möglich sind und dass eine Polizei, die in ganz Lateinamerika als exemplarisch in der Verbrechensbekämpfung und -prävention gilt (wir haben als Nicaragua-Nachrichten mehrmals darüber berichtet) Protestsituationen, wie jene gegen die Sozialversicherungsreform, die sich in vielen Staaten präsentieren, nicht mit adäquaten Mitteln bewältigen kann? Woher kam die Zerstörungswut gegenüber öffentlichen Einrichtungen, die sich besonders in der Verwüstung der Einrichtungen des Gesundheitswesens, im Abfackeln eines Universitätszentrums in Leon äußerte? Was war das Motiv, das Gemeindeamt von Estelí zu zerstören, die Infrastruktur einer Gemeinderegierung, deren Arbeit in internationalen Rankings höchste Bewertungen erhlaten hat und bei den Wahlen der letzten Jahrzehnte breiteste Zustimmung erlangte?
Die frühere Nummer zwei der nationalen Polizei Francisco Bautista Lara – er hätte 2005 statt Aminta Granera Polizeichef werden sollen – bemerkt in seinem Blog, dass in Nicaragua die politische und soziale Gewalt gegenüber der kriminellen, aber auch der ethnisch oder religiös motivierten, überwiegt. Das hat Vorteile, da diese politische Gewalt eher von Organisationen oder Parteien kontrolliert werden kann. Dialog und Verhandlungen können meist zu einer Reduktion der Gewaltanwendung führen. Die Plünderungen am Sonntag wurden nach einer Schrecksekunde von Polizei und organisierten Händlern und BewohnerInnen der Volksviertel gestoppt. Die Polizei konnte insbesondere bei Haushaltsgeräten und Motorrädern einen großen Teil des Diebsgutes ausfindig machen und den Kaufhäusern zurückgeben.
Die Position der Sandinisten
Das Internationale Sekretariat der FSLN veröffentlichte am 24. April ein Kommuniqué , das in voller Länge in deutsche Übersetzung auf dem Portal amerika21 eingesehen werden kann. Die FSLN vermeidet dabei die protestierenden StudentInnen und ihre anfänglichen Demonstrationen als rechts und vom Ausland initiiert zu bezeichnen, wie dies Rosario Murillo in ihrer Ansprache vom 19. April getan hatte. Die FSLN geht davon aus, dass die Proteste selbstorganisiert begannen:
„Die Proteste wurden von Studenten initiiert und angeführt (…). Ab einem bestimmten Zeitpunkt nahmen sie einen gewalttätigen Charakter an, mit Straßensperren auf der Schnellstraße Panamericana und ähnlichen Aktionen, und beim Versuch, die Ordnung wiederherzustellen, wurde die Polizei mit selbstgebauten Mörsern angegriffen (…) Auf der anderen Seite und angesichts der gewalttätigen Eskalation mobilisierte sich die Sandinistische Jugend, die in den Volksvierteln und den staatlichen Institutionen organisiert ist, und es kam zu weiteren gewalttätigen Zusammenstößen. Die Eskalation nahm zu und dann kamen überraschend Menschen aus den Volksvierteln dazu. Die Polizei handelte umsichtig, aber es war unmöglich, repressive Szenarien zu vermeiden, da es ihre Natur ist und sie die Zerstörung des Landes nicht zulassen konnte. Auf dem Höhepunkt der Ereignisse musste sogar die Armee mobilisiert werden, um die Institutionen zu bewachen.(…) Keine politische, soziale oder gewerkschaftliche Organisation nahm die Führung der Proteste für sich in Anspruch, auch wenn sie öffentlich von Cosep, einigen katholischen Kirchenführern und rechten Parteien unterstützt wurden (…).Trotz des offensichtlichen Fehlens einer Führung der Proteste fällt sehr stark auf, dass es eine perfekte Koordination, synchronisierte und gleichartige Aktionen überall gab, als ob schon etwas vorbereitet war, bereit, aktiviert zu werden, wenn die Bedingungen stimmen.“
Vorbereitung des Regime Change?
Wie wir in früheren Nummern berichtet haben, bereiten Kongressabgeordnete und Senatoren aus den USA seit Monaten ein Gesetz vor, das landläufig als Nica-Act bezeichnet wird, welches die Sandinistische Regierung unter Androhung von Sanktionen zur „Demokratie“ zwingen soll. Die jetzige Situation bietet den USA und allfälligen Verbündeten mehr und größere Möglichkeiten in Nicaragua zu intervenieren.
Chuck Kaufman von der Nicaragua Network Alliance for Global Justice, einer seit dem Aufstand gegen Somoza existierenden Solidaritätsbewegung in den USA, ist „verblüfft, wie fortschrittlich denkende (US)amerikanische Menschen behaupten können, die USA hätten keine Verantwortung für die gegenwärtigen Unruhen in Nicaragua. Nur mit absichtlicher Ignoranz kann man die Parallelen zwischen Nicaragua und Venezuela und Syrien, die alle auf einen Regimewechsel abzielen, nicht erkennen.“ Auch vom Informationskanal TELESUR interviewte Politologen und Journalisten sehen in den gegenwärtigen Ereignissen in Nicaragua eine Umsetzung des von US-Strategen erstellten „Drehbuches des weichen Putschs“ (guión del golpe blando).
Die USA haben – übrigens nach (!) dem Angebot der Sandinistischen Regierung zum nationalen Dialog – eine Reisewarnung veröffentlicht, die US-Bürgern rät, das Land nicht zu besuchen und gleichzeitig den Abzug der Familienangehörigen seiner Diplomaten bekannt gegeben. Offiziell unterstützt die Adminstration Trump den nationalen Dialog.
Russland hat in einer diplomatischen Note die Situation in Nicaragua zur strikten internen Angelegenheit erklärt und vor „destruktiven“ Einmischungen von außen gewarnt. Russland sichert Nicaragua die Unterstützung der internen Stabilisierung zu und erklärt die Entwicklung zum Wohlstand als beste Lösung der exisiterenden Probleme.
Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung
Noch ist nicht klar, welche Auswirkungen die Protestaktionen und Gewalttätigkeiten auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes haben werden. Viel hängt vom nationalen Dialog und seinen Resultaten ab und von der Fähigkeit der NicaraguanerInnen, bewährte Mechanismen der Konzertierung und Konsensbildung wieder aufzunehmen. Eine Reform der Sozialversicherung à la COSEP würde gravierende Verschlechterungen für einen beträchtlichen Teil der nicaraguanischen Bevölkerung bringen, vor allem aber für die armen SeniorInnen, denen die Mindestsicherung gestrichen würde. Eine Fortsetzung der gewaltsamen Konflikte auf politischer (und sozialer) Ebene würde schwerwiegende Auswirkungen auf die Investitionen, den Arbeitsmarkt und den Tourismus haben. Dem Einbruch der Wirtschaft entsprechend würden Sozialausgaben gekürzt werden.
Der Artikel erschien in der April-Ausgabe (Nr. 471) der Nicaragua-Nachrichten, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Anmerkung:
(1) Das “Pueblo autoconvocado”, eine von mehreren von den Protestierenden in den sozialen Medien bekanntgegebenen Organisationen, nennt für den nationalen Dialog u.a folgende Themen: langfristige Sicherung des Sozialversicherungssinstituts INSS, Respektierung der Universitäten-Autonomie, Sicherung der Staatsbürger- und Menschenrechte, Rücknahme der Konzession für den Bau des Interozeanischen Kanals, neues Wahlrecht, Kampf der Gewalt gegen Frauen und Kinder und Verteidigung der Rechte der Indigenen.
Titelbild: prensa-latina.cu
Ein solcher Quatsch – nichts in diesem Artikel entspricht der Wahrheit und ist eine vollkommene Verkennung der Zustände in Nicaragua. Das Volk hat die elendige Korruption des Ortega-Clans satt – seit Jahren bereichert sich dieser Gauner auf kosten der Bevölkerung selbst und sichert die Position seiner Familie in Schlüsselpositionen des Landes. Zu behaupten, die Konflikte würden von Amerika getragen ist absurd und grotesk – nur verblendeter Idealismus kann zu einer solchen Schlussfolgerung führen