Ausgelernt: Warum das österreichische Schulsystem seine Aufgabe nicht erfüllt

Schule, Verzweiflung

Ein Nachruf eines Maturanten auf das österreichische Schulsystem.

von Moritz Ettlinger

Es ist 8:22 Uhr an einer BHS in Innsbruck. Acht Minuten noch, dann wird das Kuvert geöffnet, in dem sich die Aufgabenstellung für die diesjährige Deutsch-Zentralmatura befindet. Nervöses Gemurmel aus den hinteren Reihen, unentspannte Gesichter auf den vorderen Plätzen. Die Stimmung ist angespannt an jenem Dienstagmorgen im Mai, niemand weiß, welche Aufgabenstellungen sich das Bildungsministerium dieses Mal ausgedacht hat.

8:29 Uhr, der Direktor platzt herein, sichtlich gelassener als die jungen Erwachsenen vor den Laptops. Nach der obligatorischen Frage nach der physischen und psychischen Bereitschaft der Noch-Schüler*innen, öffnet er, endlich, das Kuvert. Die Erleichterung ist groß, als die Textsorten bekannt werden. Nur ein Themenpaket enthält die gefürchtete Textinterpretation, und die anderen beiden mit Zusammenfassung und Erörterung bzw. Zusammenfassung und Meinungsrede lassen den Puls der Maturant*innen erheblich sinken. Dann wird geschrieben, maximal fünf Stunden sind erlaubt, die meisten sind vorher fertig. Um 13:30 Uhr ist es dann auch offiziell vorbei: Die erste Zentralmatura des Jahres 2019 ist vollbracht.

So wirklich vorbei ist es dann aber natürlich nicht, stehen doch in den darauffolgenden Tagen noch weitere schriftliche, etwas später dann noch etliche mündliche Prüfungen auf dem Programm. Danach ist aber endgültig Schluss, Anfang Juli haben es (hoffentlich) die meisten Schüler*innen geschafft. Die Schule ist ein für alle Mal Geschichte, und ein neues Kapitel des Lebens eröffnet sich. Und dann?

Das ist wohl die Frage, die sich die jungen Absolvent*innen in den letzten Wochen und Monaten am häufigsten gestellt haben. Offiziell stehen ihnen nun alle Türen offen. Studieren, arbeiten, reisen, Träume verwirklichen: Alles das wartet nach der Matura. So zumindest das Narrativ. Doch ganz so einfach ist das nicht.

Wo bleibt der Fokus auf Stärken und Talente?

In der Schule lernt man so manche Dinge. Wie man den Flächeninhalt unter einer Kurve berechnet, zum Beispiel. Oder wie man Gedichte „richtig“ interpretiert. Selbstredend lernen dabei alle Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger dasselbe, es sollen ja alle auf die Zentralmatura vorbereitet werden.

Für Individualität bleibt da weder Zeit noch Platz, genauso wenig wie für Stärken oder Talenten. Ganz im Gegenteil: Der Fokus liegt vor allem auf den Schwächen, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht so wirken mag. Denn anstatt die jeweiligen Stärken und Talente der einzelnen Schüler*innen zu suchen, zu entdecken und zu fördern, wird großer Wert darauf gelegt, dass alle möglichst ohne Probleme „durchkommen“. „Vier gewinnt“ lautet da ein bekanntes, altbewährtes Motto. Aber kann das unser Ziel sein?

Der absolute Großteil aller Schüler*innen weiß spätestens mit Beginn der Oberstufe, welche Fächer ihnen mehr und welche ihnen weniger liegen. Doch während sich viele vor allem mit den schwächeren herumplagen müssen, um das Jahr positiv abschließen und damit in die nächste Schulstufe aufsteigen zu können, geht genau die Energie verloren, die diese Jugendlichen in ihre Interessen, ihre Stärken investieren könnten. Unser Schulsystem ist nicht darauf konzipiert, das Beste aus uns herauszuholen; es zielt darauf ab, alle auf den gleichen Stand zu bringen, allen die gleichen Dinge beizubringen und vernachlässigt dabei die Einzigartigkeit jeder Persönlichkeit. So war es schon vor hundert Jahren, und so ist es mit marginalen Veränderungen auch heute noch.

Dieses System zerstört die Freude am Lernen

Doch das ist bei Weitem nicht die einzige Schwachstelle in diesem System. Da wäre erstens das Konzept des Frontalunterrichts, das leider noch immer von vielen Lehrpersonen als (einzige) Unterrichtsmethode bevorzugt wird und nicht gerade die Selbstständigkeit der Schüler*innen fördert. Warum stattdessen nicht mehr auf Teamarbeiten fokussieren, warum nicht mehr selbstständiges Arbeiten unterstützen, warum nicht mehr auf Projekte setzen? Apropos Projekte: Auf solche sollte ebenfalls viel mehr Wert gelegt werden anstatt nur in Fächern zu denken: So funktioniert unsere Welt nicht. Vor allem die großen globalen Probleme wie beispielsweise der Klimawandel lassen sich schwer erklären, wenn nur in Fächern gedacht und das große Ganze vernachlässigt wird. Hinzu kommt das stumpfe Auswendiglernen von Fakten, die in Sekundenschnelle im Internet abrufbar sind: So wird die Freude am Lernen von allen Kindern und Jugendlichen nachhaltig zerstört.

Davon ausgehend, dass dieses System wohl in naher Zukunft nicht völlig auf den Kopf gestellt werden wird, welche Möglichkeiten der kurzfristigen Veränderungen gibt es? Wie bei vielen Dingen gibt es wohl auch bei diesem Thema nicht die eine richtige Antwort. Sicherlich Sinn machen würde allerdings beispielsweise die Einführung des Faches Ethik, verpflichtend für alle und statt Religion, nicht als Wahlmöglichkeit. Um zumindest ein bisschen besser auf die Bedürfnisse der Jugendlichen eingehen zu können, würde sich ein Wahlsystem ab der Oberstufe anbieten, demzufolge die Schüler*innen wählen können, welche Fächer sie besuchen wollen und welche nicht. Außerdem muss die Matura, so, wie sie momentan aufgebaut ist, dringend hinterfragt werden. Macht es wirklich Sinn, gewisse Fächer verpflichtend für alle vorzugeben? Was macht Mathe wichtiger als Geschichte? Was Deutsch wichtiger als Informatik? Das alles sind Dinge, über die wir nachdenken und die wir nicht als utopisch abtun sollten.

Die Aufgabe der österreichischen Schule
Die Aufgabe der österreichischen Schule nach §2 SchOG

Eigentlich soll die Schule Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf das Leben danach vorbereiten. Laut §2 des Schulorganisationsgesetzes (SchOG) hat die österreichische Schule u.a. die Aufgabe, „die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen“. Als die Schule noch auf die Arbeit in Fließband-Jobs vorbereiten sollte, hätte man diese Aufgabe mit diesem System vielleicht noch irgendwie rechtfertigen können. Mittlerweile sieht die Arbeitswelt aber ganz anders aus. Es wird viel mehr Wert gelegt auf Kreativität, Selbstständigkeit, Teamfähigkeit und das Lösen von komplexen Problemen. Die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht zuletzt durch die Digitalisierung stark verändert. Es wird Zeit, dass sich unser Schulsystem daran anpasst.

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Moritz Ettlinger

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1 Kommentar

  1. Franz Josef Lindner

    Ist es überhaupt so, daß die Schüler auf das Leben vorbereitet werden sollen? Sind nicht gewisse Leader in Staat und Wirtschaft vielmehr an geduldigem Stimmvieh interessiert? Wozu die Menschen groß werden lassen? Damit sie einem auf der Nase herumtanzen? Die Leute sollen doch einfach funktionieren, sie werden fürs Arbeiten und nicht fürs Denken bezahlt. Gewiß gibt es auch andere, doch vor allem so manche Wohlhabende dürften kein Interesse an mündigen Bürgern haben. Populisten haben kein Interessen an mündigen und mitdenkenden Bürgern, denen kann man kein X für ein U vormachen. Die fragen zu kritisch nach.

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