Vorverlagerte Grenzen, Anti-Terrorkampf und Militarisierung als Lösung der EU-Krise?

Mit der neuen EU-Kommission erhält nun auch ein Projekt ein Gesicht, das bisher wenig im Zentrum der Öffentlichkeit stand: Durch den Aufbau eines EU-Sicherheitsregimes soll das im Anschluss an die ökonomische Krise geschwundene Vertrauen zurückgewonnen werden. Doch durch Abschottung und Militarisierung lassen sich die Herausforderungen unserer Zeit nicht lösen.

Von Lukas Oberndorfer, Referent für Europarecht, Binnenmarktpolitik und Europaforschung in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien

Eine Kommission zur Verteidigung der europäischen Lebensweise?

Als die neue deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen nach Brüssel verabschiedete, würdigte sie deren Verdienste um die deutsche Rüstung. Der designierten EU-Kommissionspräsidentin sei es gelungen, den Verteidigungshaushalt in ihrer Amtszeit um rund 40 % zu steigern. Darüber hinaus habe sie PESCO, eine Art „militärisches Schengen“ der EU, „aus dem Dornröschenschlaf erweckt“ und den „Einstieg in die EU-Verteidigungsunion“ auf den Weg gebracht.

Bei der Vorstellung ihres Teams in Brüssel meinte Ursula von der Leyen dann, dass sie eine geopolitisch ausgerichtete Kommission anstrebe und verkündete die Schaffung einer neuen „Generaldirektion für die europäische Verteidigungsindustrie“. Sie wolle aber auch für Sicherheit an den Grenzen und im Inneren der EU sorgen und richte daher einen neuen Kommissar zum „Schutz der europäischen Lebensweise“ ein. Die Bezeichnung des Ressorts und der Umstand, dass der neue Kommissar dazu die Agenden von Migration und „grenzüberschreitenden Bedrohungen“ koordinieren soll, stießen auf heftige Kritik.

Die Berufung von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der „europäischen Regierung“ scheint einer Entwicklung Ausdruck zu verleihen, die sich in den letzten Jahren an den Knotenpunkten der Europäischen Integration immer mehr verdichtet hat: Indem innere und militärische Sicherheit sowie Ausbau und Vorverlagerung der europäischen Grenzen in den Mittelpunkt gerückt werden, soll das Vertrauen in die EU zurückgewonnen werden. Ein Vertrauen, dass nicht zuletzt durch die anhaltende Krise der neoliberalen Globalisierung und die dadurch verursachte Arbeitslosigkeit und Abstiegsangst gelitten hat.

Mit einem EU-Sicherheitsregime aus der Krise?

Während eine soziale oder weitere ökonomische Integration abgelehnt wird oder blockiert ist, sollen nun die Sicherheits-Apparate ineinander verschränkt und ausgebaut werden. Immer deutlicher zeichnet sich ein Bauplan für ein neues hegemoniales EU-Projekt ab. Seine zentralen Achsen sind eine militarisierte Union, Sicherheit im Binnenraum und ein qualitativ vertieftes Grenzregime. Ein Blick auf seine Dimensionen zeigt, dass es einen Vergleich mit der Wirtschafts- und Währungsunion nicht scheuen muss.  Das Leitmotiv bildet die Überschrift der Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Lage der Union 2016: „Hin zu einem besseren Europa, das schützt, stärkt und verteidigt.“

Die Strategie scheint darauf zu zielen, die für das neoliberale Projekt entscheidende Globalisierung bzw. Europäisierung gegen Angriffe abzusichern, rechtspopulistische Akteure europäisch einzubinden und so einen neuen Konsens „für Europa“ zu schmieden. Laut des ehemaligen deutschen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble etwa muss die „Handlungsfähigkeit der EU […] heute in Problemfeldern verbessert werden, in denen auch in den Augen europaskeptischer Bevölkerungsteile keine allein nationalstaatlichen Lösungen möglich sind“, durch eine „europäische Armee“, ein „einheitliches Regime für die Außengrenzen“ und „europäische Lösungen in der Sicherheitspolitik“.

So stehen spätestens seit 2016 die Themen Migration, Militarisierung und innere Sicherheit im Mittelpunkt der Tagungen der Regierungschefs und haben Themen wie den Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion in den Hintergrund gedrängt. Dementsprechend fordert der Europäische Rat eine Sicherheitsunion, die die Ängste vor Migration, Terrorismus und Kontrollverlust bearbeiten soll. Nur die europäische Ebene könne „die Sicherheit unserer Bürger gewährleisten“.

Entlang der gleichen Linie konstatiert auch das Weißbuch der Europäischen Kommission zur Vertiefung der EU eine wachsende „Unzufriedenheit mit der etablierten Politik und den Institutionen auf allen Ebenen“, auf die „Populisten“ mit „nationalistischer Rhetorik“ reagierten. Europa dürfe nicht länger naiv sein, „sondern [müsse] seine Sicherheit selbst in die Hand“ nehmen.

Diese neue Erzählung durchzieht in überraschender Einheitlichkeit die Kommission, den Europäischen Rat und die französischen und deutschen Staatsapparate und damit die zentralen Knotenpunkte der Europäischen Union. Dabei lassen sich drei Achsen des europäischen Sicherheitsregimes mit diversen Projekten identifizieren, die im Folgenden auszugsweise vorgestellt werden sollen:

  1. Gläserne Bürger für den Anti-Terrorkampf

Seit 2015 wird daran gearbeitet, bis 2020 einen umfassenden Informationsaustausch der „verschiedenen Datenbanken im Bereich Justiz und Inneres“ zu ermöglichen. Mitte 2016 kam es bei Europol zur Einrichtung eines „Anti-Terror-Zentrums“. Darüber hinaus werden entsprechende Daten in einem zentralen Einreise- bzw. Ausreisesystem (EES) miteinander verknüpft.

Sicherheitskommissar Dimitris Avramopoulos hat die Befürchtung, dass es sich bei der Datenbank um einen Testlauf zur zentralen Erfassung aller in der Union lebenden Menschen handelt, indirekt bestätigt: Das Ziel sei ein „EU-weites biometrisches Identitätsmanagement“. Der Aufdeckungsjournalist Harald Schumann warnt in diesem Zusammenhang vor einem europäischen Überwachungsstaat.

  1. Eine militärische Union

Unmittelbar nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten forderte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini die Schaffung einer „europäischen Supermacht“ ein. Nachdem in rasantem Tempo in den Institutionen ein entsprechendes Einvernehmen hergestellt war, informierte die Kommission Ende 2016 über ihren Verteidigungs-Aktionsplan. Im Zentrum steht der europäische Verteidigungsfonds, der – unter Rückgriff auf EU-Mittel – die Rüstungsforschung und die Militärausstattung unterstützen soll.

Für die Anschaffung von militärischem Gerät sollen EU-Mittel (bis 2020 0,5 Mrd. Euro, dann 1 Mrd. Euro jährlich) genutzt werden. Das soll die Mitgliedsstaaten motivieren, zusätzlich 5 Milliarden Euro jährlich in Rüstung zu investieren. All dies geschieht, obwohl die europäischen Verträge, nicht zuletzt aus Rücksicht auf die neutralen Mitgliedsstaaten, eine Finanzierung militärischer Aufgaben untersagen und ist daher klar europarechtswidrig.

Des Weiteren kam es 2017 zur Initiierung der Ständig Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ oder englisch abgekürzt PESCO). Fast alle Mitgliedsstaaten, auch Österreich im Gegensatz zu anderen neutralen Ländern, beteiligen sich an dieser vertieften Zusammenarbeit, die als „militärisches Schengen“ bezeichnet werden kann. Sie verpflichten sich darin zur dauerhaften Erhöhung ihres Verteidigungshaushaltes und zu gemeinsamen Rüstungsprojekten. Dabei handelt es sich um bindende Vereinbarungen, deren Einhaltung durch EU-Institutionen kontrolliert wird. Insgesamt gelang es innerhalb von gut einem Jahr, die militärische Achse des europäischen Sicherheitsregimes massiv auszubauen. Anlässlich der Unterzeichnung von PESCO meinte die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen: „Jetzt ist endlich das Momentum für den großen Sprung da“.

  1. Vorverlagerte Grenzen und Lager

Die Schließung von Grenzen innerhalb der EU durch einzelne Regierungen wurde von WirtschaftsvertreterInnen scharf kritisiert. So meinte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Kramer zur Grenzschließung durch einzelne Nationalstaaten innerhalb des Binnenmarktes: „Was da an Kollateralschäden akzeptiert wird, um den Stammtisch zu befriedigen, ist abenteuerlich.“ Auch die Bertelsmann-Stiftung warnte vor einem so eingeleiteten Ende von Schengen, da dieses in der gesamten EU Kosten von jährlich rund 52 Milliarden verursachen würde.

Aus Sorge um die freie Zirkulation von Waren und Arbeitskräften bestand die Strategie deshalb darin, die europäische Außengrenze möglichst rasch zu entlasten und unter Kontrolle zu bekommen. Zentral dafür war der EU-Türkei-Deal, der die Türkei als Grenzwächterin der EU einsetzt.

Die Türkei verpflichtete sich im Zuge dessen im März 2016 dazu, jegliche Migration in die EU zu unterbinden. Die Konsequenz ist eine massive Verschärfung der Repression gegen Geflüchtete durch Abschiebungen ohne Asylverfahren. An der türkischen Grenze zu Syrien wurde 2017 eine gigantische Mauer fertiggestellt, an der scharf geschossen wird. Allein 2016 starben so über 160 Menschen auf der Flucht.

Das Abkommen mit der Türkei gilt mittlerweile als „Best Practice“ und Referenz für eine weitere Vorverlagerung des Grenzregimes bis in die Sahelzone. Seit 2016 wird dies von der Kommission bzw. vom Europäischen Auswärtigen Dienst durch sogenannte Migrationspakte verfolgt.

Die gesamten Beziehungen sollen primär von der Bereitschaft des Landes zur Zusammenarbeit bei der „Migrationssteuerung“ und „Rückübernahme irregulärer Migranten“ abhängen. Wer nicht kooperiert, erhält keine finanzielle Unterstützung und wird in der Handels-, Entwicklungs- und Visapolitik benachteiligt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung sieht darin u. a. einen Missbrauch von Entwicklungsgeldern für Migrationsabwehr.

Die Folgen solcher Vereinbarungen lassen sich bereits heute an den menschenrechtswidrigen Zuständen in den lybischen Lagern für Geflüchtete ablesen. Denn ein Element beim Aufbau von „Kapazitäten zur Migrationssteuerung“ ist die verstärkte europäische Kooperation mit der lybischen Grenz- und Küstenwache, deren Ausbildung, Gerät und Arbeit mit EU-Mitteln finanziert wird. Die aus Milizen zusammengesetzte „Behörde“ bringt Menschen oft unter Einsatz von Schusswaffen in die Lager zurück. Amnesty International hat daher die EU und die europäischen Staatschefs als „wissende Mitschuldige in der Folter und Ausbeutung von Geflüchteten“ bezeichnet.

Gekaufte Zeit statt gelöste Probleme

Warum das Sicherheitsthema auf EU-Ebene so attraktiv ist, lässt sich leicht nachvollziehen. Die Staats- und Regierungschefs können damit den Eindruck erwecken, dass sie auf tiefgehende gesellschaftliche Herausforderungen, die mit der Vielfachkrise (Weltordnung, Ökonomie, Klima) verbunden sind, Antworten haben und über Handlungsfähigkeit verfügen.

Gleichzeitig soll so dem Neo-Nationalismus der Wind aus den Segeln genommen werden. Militärische Bedrohungen, Terrorismus und Migrationsströme ließen sich nur europäisch unter Kontrolle bringen, wird argumentiert. Wer Sicherheit will, müsse sich mit Europa abfinden. Der Rückzug ins Nationale koste in einer immer instabileren Welt nicht nur Wohlstand, sondern auch Sicherheit.

Weil dadurch auch die Vielfachkrise der neoliberalen Globalisierung (Weltordnung, Ökonomie, Klima) überlagert und in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt werden kann, scheint ein EU-Sicherheitsregime auch für die großen europäischen Konzern- und Unternehmerverbände attraktiv zu sein. So bezeichnete Business Europe, der größte europäische Industrieverband, die Pläne für ein Europäisches Sicherheitsregime als neues „man on the moon project“, das der EU wieder Attraktivität verleihen könne. Und auch abseits der Überlagerung der Debatte über Alternativen zum Neoliberalismus eröffnen sich dadurch neue Geschäftsfelder. Akkumulation durch Repression nennt dies der US-amerikanische Wissenschafter William I. Robinson.

Doch durch Militarisierung und vorverlagerte Grenzen und Lager jenseits der EU entsteht keine nachhaltige Sicherheit. Wenn überhaupt, kann dadurch kurzfristig eine Abschottung von gesellschaftlichen Problemlagen und den Verwüstungen, die eine ausbeuterische Wirtschaftsweise anrichtet, gelingen – lösen und beheben kann man sie dadurch jedenfalls nicht.

Das lässt sich anhand der letzten militärischen Konflikte zeigen, an denen sich Mitgliedsstaaten der Union beteiligten (Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011 und Syrien ab 2011). Alle haben starke Fluchtbewegungen ausgelöst und zerfallende und unsichere Staaten sowie massives menschliches Elend nach sich zogen.

Ebenso wenig ist die Kooperation mit großteils autoritären Staaten im Rahmen der Migrationspakte zur Verhinderung von Flucht nachhaltig. Denn diese verlangt unter anderem, dass sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten in ihrer Kritik, etwa hinsichtlich der Einschränkung der Demokratie und der Kriegsführung der Türkei, mäßigen müssen und dadurch instabile Autokratien fördern.

Das haben die Entwicklungen im Sudan jüngst plastisch aufgezeigt. Obwohl gegen seinen ehemaligen Machthaber Umar al-Baschir aufgrund von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes vorliegt, kooperierte die EU aufgrund der Vorbereitung eines Migrationspakts nach dem Muster des EU-Türkei-Deals mit ihm: Seit 2015 flossen 200 Millionen Euro zur „Migrationsbekämpfung“ in den Sudan. Der Verbleib des Geldes ist nach dem Sturz von al-Baschir im April 2019 unklar. Fest steht allerdings, dass es zum Aufbau von Demokratie und Lebensgrundlagen fehlt.

Viel mehr könnte erreicht werden, wenn Fluchtursachen und nicht Fliehende bekämpft werden – vieles davon auch kurzfristig, schon  in der nächsten Periode europäischer Politik, z. B durch ein EU-Exportverbot von Waffen in Krisenregionen, den Stopp von EU-Fischereiabkommen, die zur Folge haben, das afrikanische Gewässer leergefischt werden, die Beendigung der Zerstörung von Lebensgrundlagen durch den Export subventionierter EU-Agrarprodukte und von regionalen Wirtschaftskreisläufen durch Handelsliberalisierung.

Fortschrittliche AkteurInnen sollten daher beim Thema Sicherheit weder weiterhin in Deckung gehen, noch allein den moralischen Zeigefinger erheben, sondern selbstbewusst benennen, dass das sich im Aufbau befindliche Europäische Sicherheitsregime, wenn überhaupt, nur Zeit durch menschliches Elend kaufen kann. Es ist jedoch nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, von denen eine massive Bedrohung für die Sicherheit dies- und jenseits des Mittelmeeres ausgeht: Die sich zusammenbrauende nächste Krise der Ökonomie, die steigende Armutsgefährdung und die Klimakatastrophe.

Dieser Beitrag wurde am 18.09.2019 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Ein weiterführender Beitrag des Autors zum Thema findet sich in dem jüngst erschienenen Buch „Alltägliche Grenzziehungen ­– Das Konzept der imperialen Lebensweise, Externalisierung und exklusive Solidarität“ und kann hier online gelesen werden.

Titelbild: attac-Fotoaktion “A Europe that protects nobody but the 1%” , 6. Juli 2018, Wien-Ballhausplatz (flickr.com; Lizenz: CC BY-SA 2.0)

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