215.500 Kinder leben in Österreich in beengten Wohnungsverhältnissen

Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Reduktion der Ausbreitung des COVID-19 bedeuten auch für Kinder deutliche Einschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit. Kindergärten, Schulen, Horte und Spielplätze sind geschlossen. Diese Einschränkungen stellen insbesondere dann eine extreme Belastung dar, wenn die Wohnverhältnisse beengt sind. Das betrifft in Österreich 215.500 Kinder. Aufgrund der Corona-Krise ist ihr Wohlergehen in einem besonderen Ausmaß gefährdet. Maßnahmen zur Reduktion dieser Belastungen und Gefährdungen sind erforderlich.

Von Johann Bacher, Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Johannes-Kepler-Universität Linz.

Betroffenheit bei Kindern besonders hoch

Untersucht man, wie viele Kinder in Österreich in beengten Wohnverhältnissen (Definition laut Statistik Austria) leben, ergibt sich der in Tabelle 1 zusammengefasste Befund. Von den 1,3 Millionen Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren leben 215.500 in beengten Wohnverhältnissen. In Prozent ausgedrückt sind das 17,1 Prozent aller 0- bis 14-Jährigen. Rechnet man noch die 15- bis 18-Jährigen hinzu, sind 261.100 Kinder bzw. 16,2 Prozent aller 0- bis 18-Jährigen von Wohnungsenge betroffen. Die Betroffenheit ist damit mehr als doppelt so hoch wie jene der Gesamtbevölkerung von 7,5 Prozent.

Tabelle 1: Von Wohnungsenge betroffene Kinder

Altersgruppe Gesamt in 1.000 davon in beengten Wohnverhältnissen
    absolut in 1.000 in %
0 bis 2 Jahre 259,6 49,7 19,1%
3 bis 5 Jahre 253,3 46,4 18,3%
6 bis 9 Jahre 332,0 59,3 17,9%
10 bis 14 Jahre 418,7 60,1 14,4%
0 bis 14 Jahre 1.263,5 215,5 17,1%
15 bis 18 Jahre 346,6 45,6 13,1%
0 bis 18 Jahre 1.610,2 261,1 16,2%
Gesamt 8.678,4 653,2 7,5%

Quelle: Mikrozensus 2018, eigene Berechnungen. Als „beengt“ gilt entsprechend Statistik Austria, die den Begriff „überbelegt“ verwendet, eine Wohnung mit: (a) Nutzfläche unter 35 Quadratmetern, zwei und mehr Personen in der Wohnung, (b) Nutzfläche von 35 bis unter 60 Quadratmetern, drei und mehr Personen, (c) Nutzfläche von 60 bis unter 70 Quadratmetern, vier und mehr Personen, (d) Nutzfläche von 70 bis unter 90 Quadratmetern, fünf und mehr Personen, (e) Nutzfläche von 90 bis unter 110 Quadratmetern, sechs und mehr Personen. Bei einer Wohnfläche ab 110 Quadratmetern wird kein Überbelag angenommen.“

Den in beengten Wohnverhältnissen lebenden Kindern zwischen 0 und 14 Jahren stehen im Durchschnitt 14,2 m2 (inklusive Küche, Bad, WC, Gang, …) pro Kopf zur Verfügung, bei jenen, die nicht beengt wohnen, sind es dagegen 33,4 m2. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Räume pro Person liegt bei beengten Wohnverhältnissen – unabhängig, welche Altersgruppe man betrachtet – unter 1,0. Auf zwei Personen kommen in etwa 1,5 Räume, auf vier Personen drei Räume (inklusive einer Küche!).

Höheres Risiko bei geringer Bildung

Von beengten Wohnverhältnissen häufiger betroffen sind Kinder in Städten, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder, deren Eltern eine geringe Bildung haben, sowie Kinder mit vielen Geschwistern. Während österreichweit nur 7 Prozent der autochthonen Kinder von 0 bis 14 Jahren in beengten Wohnverhältnissen leben, sind es 46 Prozent bzw. 45 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund (1. Wert = erste Generation, 2. Wert = zweite Generation), also fast jedes zweite Kind mit Migrationshintergrund, wobei zwischen erster und zweiter Generation keine Unterschiede beobachtbar sind (siehe Abbildung unten, linker Teil). Verfügt die Haushaltsreferenzperson (früher Haushaltsvorstand/-vorständin) über maximal Pflichtschulabschluss, steigt das Risiko, in einer beengten Wohnung zu leben, auf 51 Prozent an (siehe Abbildung unten, rechter Teil ). Ebenfalls ein Risiko von über 50 Prozent tritt bei Kindern auf, die mit drei oder mehr Geschwistern unter 18 Jahren zusammenleben. Mit der Gemeindegröße erhöht sich das Risiko kontinuierlich von 6 Prozent in Gemeinden bis 10.000 Einwohner*innen auf 19 Prozent in Gemeinden mit 10.001 bis 100.000 Einwohner*innen. In Städten zwischen 100.001 und 500.000 beläuft es sich auf 30 Prozent und nimmt für Wien einen Wert von 39 Prozent an. Der Anstieg ist durch höhere Migrationsanteile in größeren Gemeinden und den Wohnungsmarkt mitbedingt.

Mehrfache Benachteiligung

Die beengten Wohnverhältnisse können kurzfristig nicht geändert werden. Sie sind nur ein Faktor von Benachteiligungen, die diese Kinder erleben. Kinder in beengten Wohnverhältnissen sind auch in einem höheren Ausmaß armutsgefährdet und schulisch benachteiligt, da ihre Eltern ein geringes Einkommen haben und ihre Kinder weniger bei Schulaufgaben unterstützen können. Die Befunde sind ein deutlicher Hinweis, dass dieser Aspekt in der Vergangenheit zu wenig beachtet wurde. Langfristig sollte daher die Wohnbaupolitik neben der Bereitstellung von günstigem Wohnraum auf eine Reduktion der beengten Wohnverhältnisse abzielen. Eine Möglichkeit könnte sein, dass Gemeinden bzw. Genossenschaften geeignete ältere Wohnungen, die preiswerter als Neubauten sind, ankaufen und dann zu angemessenen Preisen vermieten.

Was tun?

Die Corona-Krise wirft die Frage auf, was unmittelbar getan werden kann, da eine Verschlechterung der Lebenssituation und des Wohlbefindens dieser Kinder zu erwarten ist, weil mehr Personen dauerhaft anwesend sind, was ihren Handlungsspielraum in der Wohnung weiter einschränkt und Konflikte fördert. Es sollten daher auch unmittelbare Maßnahmen überlegt werden. Dabei kann auf Ergebnisse einer älteren Studie zurückgegriffen werden. Die Untersuchung konnte nachweisen, dass das Wohlbefinden der Kinder in der Wohnung von drei Faktoren abhängt: (1.) dem Handlungsspielraum in der Wohnung, (2.) dem Wohlbefinden in der Wohnumgebung und (3.) dem Wohlbefinden in der Familie.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse lassen sich folgende Handlungsempfehlungen ableiten:

  • Erhöhung bzw. zumindest Beibehaltung des Handlungsspielraums in der Wohnung. Dies könnte z. B. erreicht werden, indem man sich das Spazierengehen aufteilt und ein Teil der Familie zu Hause bleibt und die freien Räume für unterschiedliche Aktivitäten nutzt, einschließlich der Bearbeitung der schulischen Übungsaufgaben. Wichtig wäre dabei eine Abstimmung mit der Hausgemeinschaft, damit sich Beschwerden in Grenzen halten.
  • Erhöhung bzw. zumindest Beibehaltung des Wohlbefindens in der Wohnumgebung. Wegen der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, vor allem in den Städten, ist eine Reduktion des Wohlbefindens der Kinder in ihrer Wohnumgebung und in der Folge auch in der Wohnung zu erwarten. Eine gewisse Kompensation dafür könnten erkundende Spaziergänge in der Wohnumgebung sein, z. B. indem eine Handy-App durch die Wohnumgebung führt oder die Klassenlehrer*in einen Arbeitsauftrag an ihre Schüler*innen gibt, die Wohnumgebung zu erkunden.
  • Erhöhung bzw. zumindest Beibehaltung des Wohlbefindens in der Familie. Zunächst wirkt sich die Tatsache, dass die Eltern in vielen Fällen derzeit zu Hause sind und mehr Zeit für ihre Kinder haben, positiv auf das Wohlbefinden der Kinder aus. Das kann sich aber schnell ins Gegenteil verkehren, wenn beengte Wohnverhältnisse und/oder andere Faktoren, wie z. B. Arbeitslosigkeit, zu Konflikten zwischen den Eltern oder innerhalb der Familie führen. Die Probleme in diesem Bereich werden von der Politik, von der Öffentlichkeit und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen gesehen. Wichtig wären präventive Angebote, die Familien helfen, die Zeit produktiv zu nutzen und das Auftreten von Konflikten überhaupt zu vermeiden versuchen.
  • Niedrigschwellige, aufsuchende multiprofessionelle Unterstützung. Kinder bzw. deren Eltern, die benachteiligt sind, werden die dargestellten Handlungsoptionen nicht selbst ergreifen, sie brauchen niedrigschwellige, auf sie zugehende multiprofessionelle Unterstützungsangebote, die auf die drei Handlungsbereiche abzielen, indem zum Beispiel via Handy oder durch die Verteilung von Informationsmaterial über die Post aktiv auf sie zugegangen wird.
  • Besonderer Bedarf in Städten. Die Analysen zeigen ferner, dass in Städten ein besonderer Bedarf nach Interventionen besteht.

Schließlich sollte bei der Öffnung der Infrastruktur Kindern der Vorrang eingeräumt und es sollten z. B. zuerst die Spielplätze geöffnet werden, anschließend Kindergärten, Volksschulen und Schulen der Sekundarstufe I.

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