In Zeiten des Coronavirus

SARS-CoV-2 tötet Menschen, aber das kapitalistische Wirtschaftssystem hat das Potenzial, die gesamte Zivilisation auszulöschen und den Planeten unbewohnbar zu machen.

Ein Kommentar von

Ich bin kein Wissenschaftler, kein Mediziner oder Forscher. Ich bin ein einfacher Mann, der im Laufe seines Lebens durch Begebenheiten, Interesse, Neugier, Erfahrungen und Beobachtungen immer kritischer geworden ist. Das hat wahrscheinlich dazu geführt, dass ich die derzeitige Situation zwar als sehr besorgniserregend empfinde, aber sich bis jetzt kein echtes Angstgefühl einstellen will. Mein Kopf hat nicht aufgehört zu arbeiten und versucht, so gut es geht, sich einen groben Überblick über die Lage zu verschaffen. Das Ergebnis versuche ich in Worte zu fassen.

Keine Verschwörung

Das Corona-Virus ist meines Erachtens kein Ergebnis einer Inszenierung oder Verschwörung, nein, es ist schlicht und einfach ein Ereignis, wie es seit Urzeiten in der Natur vorkommt. Nicht mehr und nicht weniger. Nebenbei zeigt diese Natur der Spezies Mensch ihre Grenzen auf.

Sicher, von Selbstsucht gelenkt, wie es in diesem neoliberalen System nicht unüblich ist, haben nicht wenige Regierungen in der Welt vermutlich die Pandemie genutzt, um von der wirtschaftlichen Misere, in der das System steckt, abzulenken und eigene Fehlleistungen zu verbergen. Und es ist auch damit zu rechnen, dass die derzeitige Situation dazu genutzt wird, fundamentale Bürgerrechte auszuhebeln.

Es mag auch sein, dass die Menschheit mit all ihrer Wissenschaft und Technologie diesen einen Virus besiegt. Immerhin ist der Mensch in der Lage, die Schöpfung zu simulieren, in dem er kleinste Partikel aufeinander schießt.

Er kann auch Genome entschlüsseln und es ist ihm gelungen, einige Krankheiten auszurotten. Es gibt so gut wie keine weißen Flecken auf der Landkarte mehr und er ist dabei, das Weltall zu erkunden und zu erobern. In Echtzeit kann er Nachrichten rund um den Erdball senden und empfangen. Und doch, den Kampf, den der Mensch gegen die Natur begonnen hat, wird er nicht gewinnen.

Der nächste Virus, der nächste Vulkanausbruch, das nächste Fukushima wird ihm erneut die Grenzen aufzeigen und den Schwierigkeitsgrad erhöhen, um das zu bewältigende Problem zu lösen.

Die Masken fallen

Nebenbei zerren all diese Naturphänomene, wie auch der aktuelle Virus, die schlechtesten Eigenschaften des die Welt beherrschenden politischen und wirtschaftlichen Systems und seiner Anhänger in ein Flutlicht, das nur derjenige übersieht, der sich einen Sack über den Kopf zieht. Ganz vorne im Lichtkegel: Verachtung von Natur und Mensch.

Bei den Jüngern des entfesselten Kapitalismus sind im Angesicht der Bedrohung identische Verhaltensweisen zu beobachten: Ihre Gier, ihr Opportunismus und ihr eklatanter Mangel an Solidarität. Dies sind nur einige der vielen negativen Eigenschaften, die diesen Typos kennzeichnen.

Ob nun der Kampf um das Paket Klopapier oder die Tüte Nudeln, das Wetten auf abstürzende Kurse an der Börse, das gedankenlose Grillen im Park und nicht zuletzt die Corona-Party; all dies zeugt von einem hohen Grad an Egoismus. Dieser, der gezielt über Generationen hochgezüchtet wurde, ist Selbstzweck, weil er eine Triebfeder des kapitalistischen Systems ist.

Die Rechnung

Und die Politik? Nach guten Ansätzen kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, die speziell in Deutschland den Anschein erweckten, aus vergangenen Fehlern sei gelernt worden, wurde sehr schnell wieder zu alten Verhaltensweisen zurückgekehrt. Besonders auffallend: Unterwürfigkeit gegenüber dem Kapital, unter anderem zur Sicherung von Privilegien – von Rückgrat keine Spur.

Meiner Wahrnehmung nach steigerte sich dieser Egotrip nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Es bedurfte keines Gegenentwurfes zum Modell des alten Feindes mehr, und so wurde damit begonnen, die sozialen Errungenschaften und Zugeständnisse an die Bevölkerung (im goldenen Westen) nach und nach abzuschaffen.

Ein Paradebeispiel ist der unter Ulla Schmidt (SPD) eingeleitete Kahlschlag im Gesundheitswesen. Leistungen wurden gestrichen und eine gigantische Privatisierungslawine losgetreten. Krankenhäuser wurden zu gewinnorientierten Unternehmen umfunktioniert, was sich in der Personalpolitik besonders bemerkbar machte. Stellen wurden gestrichen, Stationen und ganze Klinken geschlossen. Im Ergebnis, zu dem fehlendes Personal und mangelnde Ausstattung gehören, entstand eine Situation, wie wir sie eben nicht erst seit der Corona-Krise erleben.

Die Rechnung, die dafür noch präsentiert wird, dürfte doppelt oder dreifach ausfallen. Zum einen, wenn die Zahl der Patienten tatsächlich so hoch ansteigen sollte, dass keine Intensivbetten und keine Beatmungsgeräte mehr zur Verfügung stehen. Und wenn immer mehr Krankenhauspersonal sich aufgrund fehlender Schutzkleidung infiziert und ausfällt. Zum anderen, wenn die Versorgung mit Medikamenten ins Stocken gerät, weil in Deutschland kaum noch welche hergestellt werden.

In den letzten Jahrzehnten hat man ja auf Grund des Profiwahns und der Möglichkeiten, die die Globalisierung bietet, immer mehr Produktionsstätten zum Beispiel nach Indien und China verlagert, weil die Produktionskosten dort sehr niedrig sind. Jetzt rächt sich das kurzsichtige Denken.

Der Lehrmeister

Das Corona-Virus hat uns allen in einer nicht gekannten Klarheit verdeutlicht, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann und nicht weitergehen darf. Ein gutes Beispiel für die Absurdität, in der wir uns befinden, bietet Frankreich.

Es ist noch gar nicht lange her, da ging das Krankenhauspersonal auf die Straßen, um für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu demonstrieren. Die Antwort des französischen Staates waren Polizisten, die auf die friedlich demonstrierende Menge einprügelten.

Nun sind es eben diese Verprügelten, die jetzt um die Gesundheit und das Leben vieler Menschen kämpfen, vielleicht sogar um das von einem derjenigen, der sie auf den Demonstrationen verletzt hat.

In Deutschland wurde nicht auf das demonstrierende Gesundheitspersonal eingeprügelt, aber die politik und Unternehmen haben es im Regen stehen lassen, ob beim Gehalt, der Ausrüstung oder dadurch, dass Stellen gestrichen wurden. Und jetzt, wo eine medizinische Krise da ist, jetzt wird allen vor Augen geführt, wer wirklich relevant für das System ist: der LKW-Fahrer, die Kassiererin im Supermarkt, der Lieferant eines Versandhauses und die Pflegekraft im Krankenhaus.

Das Lob für ihren Einsatz aus den Mündern mancher Politiker mag einem da wie Hohn vorkommen. Schließlich zeigt die Corona-Krise auch, wie überflüssig im Angesicht des Virus jene Jobs sind, deren Inhaber ständig um Aufmerksamkeit buhlen.

Die Systemfrage muss auf den Tisch

Zweifellos ist SARS-CoV-2 kein Virus, das man verharmlosen darf. Es fährt seine tödliche Ernte unter den Schwächsten der Gesellschaft ein. Wir sind es ihnen schuldig, sie zu beschützen. Die größte Gefahr für unsere Gesellschaft und für unsere Spezies geht jedoch von einem anderen „Virus“ aus: Es ist der Kapitalismus.

Dieser Virus, in der neoliberalen Ausprägung tödlich, ist so präsent, dass ein Großteil der Bevölkerung seine vernichtende Kraft offenbar nicht mehr als Gefahr wahrgenommen hat. Damit sollte es vorbei sein.

Jetzt, wo das Leben, wie wir es kannten, vollkommen entschleunigt ist, haben Millionen Menschen, die bisher abgelenkt waren durch das ewige Treten im Hamsterrad, eine einmalige Gegelegenheit: Sie können nachdenken und über die Frage aller Fragen diskutieren: Die Systemfrage!

Bisher haben sich die meisten geradezu davor gefürchtet, sie zu stellen. Für manche galt es als Tabubruch, für andere war vielleicht die Angst vor einer Neuordnung des Lebens zu groß; lieber arrangierte man sich mit dem Schlechten, das man aber kannte. Das hat Corona geändert.

Die Gesellschaft insgesamt – und nicht nur die Politik – ist aufgefordert, darüber zu befinden, wie es nach dieser Krise weitergehen soll. Ein „Business as usual“ ist dabei keine Option. SARS-CoV-2 hat die Priorität bestimmt: es muss auf dem Gemeinwohl liegen.

Dies ist aber nicht in einem System zu realisieren, in dem Ausbeutung und Gewinnmaximierung den Takt vorgeben und die Befriedigung der Kapitalinteressen von Share Holdern über die Bedürfnisse der Bevölkerung gestellt werden, wodurch Begriffe wie „sozial“ oder „Verantwortungsbewusstsein“ zur reinen Makulatur verkommen.

Machen wir uns nichts vor: SARS-CoV-2 tötet Menschen, aber das kapitalistische Wirtschaftssystem hat das Potenzial, die gesamte Zivilisation auszulöschen und den Planeten unbewohnbar zu machen. Der Zeitpunkt ist also gekommen, die Welt von Corona und vom Supervirus „Kapitalismus“ zu befreien.

Über den Autor:

Seit 1967 lebt der im spanischen Granada geborene Bernardo Jairo Gomez Garcia in Deutschland. Sein Vater stammt aus Kolumbien, seine Mutter aus Spanien. Schon vor seinen Ausbildungen zum Trockenbaumonteur und Kfz-Lackierer entdeckte Gomez seine Leidenschaft für die Kunst. Er studierte an einer privaten Kunsthochschule Airbrushdesign und wechselte aus der Fabrikhalle ans Lehrerpult. Rund 14 Jahre war Gomez als Spanischlehrer in der Erwachsenenbildung tätig. Seine Interessen gelten der Politik, Geschichte, Literatur und Malerei. Für Neue Debatte schreibt Jairo Gomez über die politischen Entwicklungen in Spanien und Lateinamerika und wirft einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland und Europa.

Der Beitrag erschien zuerst auf neue-debatte.com, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.

Titelbild: Capitalism isn’t working by Cary Bass-Deschenes (flickr.com; Lizenz: CC BY-SA 2.0)

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