Über den Mehrwert von Gewerkschaft zum 75. Jahrestag der Gründung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB)
Von Brigitte Pellar
Im April vor 75 Jahren wurde die österreichische Gewerkschaftsbewegung wieder aufgebaut und neu organisiert. Der Österreichische Gewerkschaftsbund stellte das Jahr, in dem er an seine Gründung vor einem Dreivierteljahrhundert erinnert, unter das Motto: „Ein gutes Leben für alle“. Das Recht, sich zu organisieren, um für dieses Ziel einzutreten, ist in vielen Ländern nicht selbstverständlich und war es auch in Österreich viele Jahrzehnte nicht. Eine funktionierende Demokratie ist Voraussetzung dafür, dass dies ohne Angst vor Verfolgung geschehen kann, ob es um Kollektivvertragsverhandlungen geht oder darum, dafür zu sorgen, dass ArbeitnehmerInnen beim Krisenmanagement der Regierung nicht vergessen werden. Und es ist Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, dass Interessen der ArbeitnehmerInnen gleichberechtigt vertreten werden können.
Eine der ersten Institutionen der Zweiten Republik
Der Österreichische Gewerkschaftsbund ist eine der ersten Institutionen der Zweiten Republik und die erste, die ihre Gründung direkt auf die Zustimmung einer Delegiertenversammlung stützen konnte. Eine „Stunde null“ im April 1945 gab es ja nie. Die zwölf Jahre Diktatur und Faschismus und die fünfeinhalb Jahre Weltkrieg hatten zwar viele Kontakte abreißen lassen, aber unter den Überlebenden konnten sie rasch wieder geknüpft werden. Trotzdem war die Gründung des ÖGB angesichts der Folgen der faschistischen Herrschaft ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Der Gewerkschaftshistoriker und Zeitzeuge Fritz Klenner 1948:
„Die Niederlage des Faschismus hat die Kräfte der Gewerkschaftsbewegung ihrer Kräfte befreit … (Aber) die jahrelange Unterdrückung blieb nicht ohne Wirkung auf das Denken und Fühlen der Arbeiter und Angestellten. Zwang und Furcht haben die Quellen des freien Denkens oftmals verschüttet. Kerker und Konzentrationslager haben Opfer aus den Reihen der Besten gefordert. Die junge Generation kennt eine Gewerkschaftsbewegung nur vom Hörensagen.“
Die Idee, einen überparteilichen Gewerkschaftsbund zu gründen, und zwar als gemeinsame Organisation aller Gewerkschaften, ging am 13. April von einigen Funktionären der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften der Ersten Republik, der „Freien Gewerkschaften“, aus, aber sehr bald waren ehemalige christliche GewerkschafterInnen und kommunistische KollegInnen einbezogen. Der sozialdemokratische Bauarbeiter Johann Böhm, der christliche Gewerkschafter Lois Weinberger und der kommunistische Lederarbeiter Gottlieb Fiala organisierten die Verhandlungen. Ein Vorbereitungsausschuss unter Beteiligung von sieben Gewerkschaftsgruppen und allen drei früheren Gewerkschaftsrichtungen wurde eingesetzt und nach einem Tag fast pausenloser Verhandlungen stand die Grundstruktur der neuen Organisation.
Schon am 15. April konnte eine Vertrauensleutekonferenz in das noch benutzbare Direktionsgebäude der Westbahn in Wien einberufen werden. Sie nahm die Vorschläge des Vorbereitungsausschusses an, beschloss die Gründung des Österreichischen Gewerkschaftsbunds und wählte eine provisorische Leitung unter Vorsitz von Johann Böhm. Die Organisationsstruktur, die die österreichische Gewerkschaftsbewegung trotz aller Veränderung im Detail bis heute beibehalten hat, erklärte ÖGB-Zentralsekretär Anton Proksch im Juli 1945:
„Der Österreichische Gewerkschaftsbund ist absolut zentralistisch aufgebaut, ohne dabei aber die Grundprinzipien der Demokratie im Geringsten außer Acht zu lassen. Sie sind durch die entsprechenden Organe des Bundes gewährleistet. Es soll verhindert werden, dass eine große Zahl kleiner Organisationen gebildet wird, die nie die Schlagkraft einer großen Gewerkschaft haben könnten. Die kleine Gruppe ist am sichersten in einer großen Organisation geborgen.“
Der 15. April gilt als Gründungstag des ÖGB, obwohl die meisten Detailfragen noch zu klären waren, und die Abgrenzung der 16 geplanten Gewerkschaften dauerte bis kurz vor dem ersten ÖGB-Kongress 1948. Am 27. April, am Tag der Proklamation der Zweiten Republik, erfolgte die Einigung immerhin so weit, dass das Ersuchen der Genehmigung der Vereinsgründung durch die (allein zuständige) sowjetische Militärverwaltung ins Auge gefasst werden konnte. Sie erfolgte am 30. April, sodass der ÖGB ab Mai 1945 seine Arbeit aufnehmen konnte.
Dies alles geschah, als in manchen Bezirken Wiens noch gekämpft und in Mauthausen noch gemordet wurde und die Städte Österreichs hungerten. Die Hoffnung auf ein besseres Leben gab Kraft, und auch die meisten jener, die Hitler zugejubelt hatten, wollten endlich Frieden.
„Aktionsausschüsse“ und Betriebsräte – das Netzwerk der Gewerkschaft
Die TeilnehmerInnen an der ÖGB-Gründungskonferenz am 15. April konnten zwar noch nicht nach festgelegten demokratischen Spielregeln delegiert werden, aber sie repräsentierten die „Aktionsausschüsse“, die sich zum Teil noch vor dem Einmarsch der Roten Armee der Sowjetunion in wichtigen Betrieben vor allem der Metallindustrie und im Bereich der Bahn gebildet hatten. Anstelle der geflohenen „Betriebsführer“ und leitenden Angestellten brachten sie langsam die Verwaltung, den Verkehr, die Produktion wieder, wenn auch holpernd, in Gang.
Ab Mai 1945 übernahmen bis zur Klärung der Eigentumsverhältnisse von der provisorischen österreichischen Regierung eingesetzte öffentliche Verwalter die Leitung der Unternehmen, die „Aktionsausschüsse“ wurden durch spontan gewählte Betriebsräte und Personalvertretungen abgelöst. Sie beriefen sich auf das Betriebsrätegesetz von 1919, eine neue gesetzliche Grundlage existierte noch nicht. Aber im Sommer 1945 erhielt Adolf Schärf, der Vorsitzende der SPÖ (damals Sozialistische Partei Österreichs), die Zusage von Julius Raab als Vertreter der Handels- und Gewerbekammer, dass die ArbeitgeberInnen die Betriebsräte anerkennen würden, als ob das Gesetz von 1919 noch in Kraft stünde.
Die ersten Betriebsräte konnten sich in etlichen Bundesländern aufgrund ihrer Leistungen einen Einfluss sichern, der weit über die Bestimmungen dieses Gesetzes hinausging, was das Durchsetzen von mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten im neuen Gesetz von 1947 erleichterte. Die vom ÖGB immer angestrebte Verpflichtung zur Wahl eines Betriebsrats blieb zwar (damals wie heute) unerreicht, aber die Möglichkeit der Interaktion von Betriebsräten und Gewerkschaften wurde – im Gegensatz zur Betriebsverfassung in Deutschland – gesichert. Damit konnte die in der Ersten Republik begonnene Einbindung der Betriebsvertretungen in die gewerkschaftliche Organisation auch offiziell wieder aufgenommen und ausgeweitet werden.
Hilfe in der Nachkriegskrise
Wie die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg war auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch Hunger und Mangel geprägt. Die Ernährungslage war im Frühjahr 1946 so schlecht, dass der Kaloriensatz für NormalverbraucherInnen auf 700 herabgesetzt werden musste, und es wurde immer schlimmer. Der ÖGB forderte im Herbst 1946 Bewirtschaftungsmaßnahmen, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, und erreichte in schwierigen Verhandlungen auch eine Erhöhung der Lebensmittelrationen. Eine Intervention des ÖGB-Präsidiums beim Alliierten Rat der Besatzungsmächte brachte ebenfalls eine kleine Verbesserung der Lebensmittelversorgung.
Zu den Ernährungsproblemen kam der Mangel an leistbarer Kleidung. Viele Menschen in Ostösterreich konnten sich trotz bereits erreichter Lohnerhöhungen keine Arbeitskleidung anschaffen und deshalb oft keine Arbeit annehmen. Im Rahmen einer großen ÖGB-Aktion gelang es mit internationaler Hilfe, 100.000 Schuhe und 300.000 Kleidungsstücke über die Betriebsräte an die ArbeitnehmerInnen zu verteilen.
Besonders vom Hunger betroffen waren die Jugendlichen, Lehrlinge und jugendliche ArbeiterInnen. Für sie organisierte der ÖGB mit Unterstützung des Sozialministeriums, der Arbeiterkammern, des Wiener Jugendhilfswerks und der US-Glaubensgemeinschaft „Society of Friends“, der Quäker, ab 1945 eine große Hilfsaktion. Das für deren Organisation eingerichtete ÖGB-Jugendfürsorgereferat schilderte in seinem Bilanzbericht nach fünf Jahren die Ausgangslage:
„Hunderttausende junger Menschen hungern, junge Menschen, für die das Leben beginnen soll … Junge Menschen, die dem Chaos von Blut und Tod entronnen sind, suchen eine Zukunft.“
Von 1946 bis 1954 wurden 76.302 unterernährte Jugendliche und Kinder in Heime der Aktion auf Urlaub geschickt, um sich zu erholen und Gewicht zuzulegen. Aber es ging gleichzeitig immer auch um das Hineinführen in den neuen demokratischen Staat:
„Vorträge über Gewerkschaften, Jugendschutz, Jugendfürsorge und die Pflichten der Jugend, über die Zeitschriften des Gewerkschaftsbundes, Aufstieg der Arbeiterschaft und Wesen der Demokratie sollen die Jugendlichen mit den Begebenheiten des Lebens vertraut machen und sie zu einer bewussten Gemeinschaft erziehen.“
Der ÖGB und der Neustart des Sozialstaats
Gewerkschaftsarbeit war zunächst nur in der sowjetischen Besatzungszone erlaubt, also in Wien, Niederösterreich, dem Burgenland und Teilen Oberösterreichs. Anfang Mai folgte die Genehmigung für die britische Zone und damit für die Steiermark und Kärnten, Ende Mai für die amerikanische Zone mit Oberösterreich südlich der Donau und Salzburg, und zuletzt ließ Mitte September auch die französische Militärverwaltung Gewerkschaften zu. Am 8. Oktober erhielt schließlich der ÖGB die Rechtsgrundlage für seine österreichweite Tätigkeit: Der Alliierte Rat, der bis 1955 der oberste politische Entscheidungsträger war, beschloss, die grundlegende Politik in allen Arbeitsfragen einheitlich für das ganze Land zu handhaben, und das ermöglichte auch die Vereinbarung von bundesweiten Kollektivverträgen.
Ein vorrangiges Anliegen des ÖGB war es, ein neues Kollektivvertragsgesetz zu erreichen, um die (schlechten) Tarifordnungen Hitler-Deutschlands, die provisorisch in Kraft blieben, durch autonome und bessere Kollektivverträge ersetzen zu können.
Das Kollektivvertragsgesetz der Zweiten Republik, das im August 1947 in Kraft trat, bestätigte die volle Verhandlungsautonomie der Arbeitsmarktparteien und verzichtete auf staatliche Schlichtung im Konfliktfall. Nach den Erfahrungen mit einer Staatsgewerkschaft im Austrofaschismus und der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront (DAF) sah man auch die Einmischung des demokratischen Staates kritisch, weil die Autonomie eben Markenzeichen echter Gewerkschaften sei.
„Die DAF hat nicht das geringste mit einer Gewerkschaft zu tun, für die der Wille der Mitglieder und nicht der des Staates oberstes Gebot ist“,
erläuterte Fritz Klenner 1948 den LeserInnen seiner ersten Gewerkschaftsgeschichte. Diese Klarstellung war notwendig, denn die staatlichen Tarifverträge Hitler-Deutschlands galten noch, bis sie ab der zweiten Jahreshälfte 1947 durch bessere Kollektivverträge der ÖGB-Gewerkschaften abgelöst werden konnten.
Die Tatsache, dass der ÖGB die Kollektivverträge auch für Nichtmitglieder abschließt, machte und macht sie zu einem wichtigen sozialpolitischen Instrument. Sie ermöglichen bessere Bedingungen für ArbeitnehmerInnen, als sie die aktuellen Gesetze vorsehen, und können manchmal auch Fortschritte in der Gesetzgebung vorbereiten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Wiedereinführung des 8-Stunden-Tags, der während des Zweiten Weltkriegs abgeschafft worden war. Der 8-Stunden-Tag gilt innerhalb weniger Jahre ausschließlich durch KV-Bestimmungen wieder flächendeckend, während das von den Gewerkschaften geforderte Arbeitszeitgesetz bis 1969 auf sich warten ließ.
Bundespräsident Karl Renner definierte in seinem großen Grundsatzreferat beim ersten ÖGB-Kongress 1948 – kurz zusammengefasst – den Sozialstaat als Wohlfahrtsstaat plus Mitbestimmung auch jener, die nicht zu den „Eliten“ gehören, über das Wahlrecht hinaus und in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft. Kollektivverträge, Betriebsräte und Personalvertretungen bieten solche erweiterten Mitbestimmungsmöglichkeiten und ebenso die Arbeiterkammern als mit der Vertretung der UnternehmerInnen gleichberechtigte gesetzliche Interessenvertretung. Johann Böhm setzte nicht ohne Grund gegen Widerstände auch in den eigenen Reihen als Staatssekretär für Soziales in der provisorischen Staatsregierung schon im Juli 1945 ein neues AK-Gesetz und damit die Wiedererrichtung der Arbeiterkammern durch.
Demokratie und gutes Leben
Gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung zeigt sich aber natürlich auch an der Möglichkeit von GewerkschafterInnen, politische Funktionen zu übernehmen. Deshalb war es im österreichischen Sozialstaat seit 1945 selbstverständlich, dass die SozialministerInnen aus dem ÖGB kamen, und zwar unabhängig davon, welche Partei den Regierungschef stellte. Erst die ÖVP-FPÖ-Regierung brach im Jahr 2000 mit dieser Tradition. Für neoliberale und rechtspopulistische Gesellschaftsbilder ist es untragbar, dass im Sozialstaat nicht nur „die Wirtschaft“, sondern auch die Gewerkschaftsbewegung Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen kann. Dieser Einfluss war in der Gründungsphase der Zweiten Republik besonders groß, wohl nicht zuletzt, weil damals nach Krieg und Faschismus in weiten Kreisen Einigkeit darüber herrschte, dass der Sozialstaat die beste Garantie für eine stabile Demokratie sei. Die politische Bedeutung, die dem ÖGB in dieser Phase zukam, ist in einem Geheimdienstbericht der britischen Besatzungsmacht aus dem Jahr 1946 dokumentiert:
„Von 1934 bis 1945 haben in Österreich keine Gewerkschaften bestanden. Und nun in nicht viel mehr als einem Jahr sind sie eine der Hauptkräfte im Leben Österreichs geworden. Kein wichtiges Gesetz hat ohne ihre Mitarbeit Einlass in das Gesetzbuch gefunden, und bei einigen ganz besonders wichtigen Maßnahmen ist ihre Stimme sogar entscheidend gewesen.“
Die Geheimdienstleute bewerteten dabei die Rolle des ÖGB äußerst positiv. Sie bewerteten ihn als vertrauenswürdigen demokratischen Faktor, während sie (nicht ganz zu Unrecht) indirekt andeuteten, dass der Bruch mit dem faschistischen Erbe wohl nicht überall so eindeutig stattgefunden hatte.
Dabei bestand unter westlichen PolitikerInnen keineswegs Einigkeit darüber, ob das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und gewerkschaftliche Aktivität ein demokratisches Freiheitsrecht sei. (Nach 1945, das muss hier zum besseren Verständnis angemerkt werden, wäre niemand auf die Idee gekommen, die Möglichkeit einer „illiberalen Demokratie“ ins Auge zu fassen, da Demokratie und Freiheitsrechte unmittelbar zusammengehören.) Die Auseinandersetzung darüber, ob das Recht auf Gewerkschaften und damit das Recht, sich im Kampf um ein „gutes Leben für alle“ zu organisieren, in die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 aufgenommen werden sollte, verlief heftig. Eleonor Roosevelt, die Witwe von Präsident Franklin D. Roosevelt, setzte es mit der Begründung durch:
„Es gibt keine persönliche Freiheit ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit. Menschen in Not sind keine freien Menschen.“
Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.