Am 20. April 2020 ereignete sich in den Märkten ein bis dato noch nie dagewesenes Ereignis, als diverse ohnehin schon niedrige Ölpreise zum ersten Mal in der Geschichte auf unter $0 in den negativen Bereich gesunken sind. Die ersten Eindrücke und Prognosen.
von Gregor Flock
Viele Kommentare bezüglich des Ölpreisverfalls waren ironisch-ungläubig:
It’s gone negative, like some kind of hideous carcinogenic perpetual motion machine. pic.twitter.com/GLVygZJaRR
— Ben Snyder (@jbensnyder) April 20, 2020
Ein weiterer Tageschart mit Kommentar:
Sowas muss man screenshotten: #OilPrice ist negativ – krasser Crash pic.twitter.com/17vf6cqnpw
— MorningBriefing (@M_Briefing) April 20, 2020
Noch verrückter ging es bei Futures oder Terminkontrakten für Mai zu, deren Handelszyklus kurz vor dem Auslaufen ist und wo der Tagesendpreis bei -$37/barrel stand (für eine gute Erklärung dazu auf Englisch, siehe hier und besser noch hier):
WTI (West Texas Intermediate) #CrudeOil futures hit lowest in its history, as storage capacity runs out amid #Covid19 Lockdowns.#OilPrice pic.twitter.com/iwrv8m7ifR
— Vishal Singh (@vishalsingh_IND) April 20, 2020
Im Vergleich dazu der Tageschart. Der negative Ölpreis wirkte sich auch negativ auf die Aktienmärkte aus:
BREAKING: Crude oil falls 300% to nearly negative $40 per barrel https://t.co/HlsH3slbGO pic.twitter.com/2SEY8DJyk7
— CNBC Now (@CNBCnow) April 20, 2020
Auch der Kurs von Cryptowährungen wie Bitcoin verlor deshalb deutlich an Wert:
Donald „stable genius“ Trump, dem wegen der im Vergleich zu Russland und Saudi-Arabien noch US-fracking Produktion an einer Produktionskürzung und Preisstabilisierung gelegen sein dürfte, setzte sich auch diesbezüglich wieder einmal in ein Fettnäpfchen als er sich in seinem Narzissmus vorschnell rühmte, was für ein großartiger Deal ihm im Hinblick auf Erdölförderung und -preisstabilisierung gelungen sei:
As West Texas Intermediate closed on -37/barrel I can safely say this tweet from 4 days ago DID NOT AGE WELL.#OilPrice #OilPrices pic.twitter.com/akpBoH1chg
— Toronto Guy (@Mr_TorontoGuy) April 20, 2020
Diverse Erklärungen
Hintergrunderklärungen
Die als Ölexpertin und ehemalige österreichische Außenministerin doppelt qualifizierte Karin Kneissl, die ich persönlich bei zwei auch geopolitischen Vorträgen als zweifelsfrei kompetent erlebt habe, äußerte sich in einem am 13. April veröffentlichten Interview zu den Hintergründen dieses historischen Ölpreisabsturzes wie folgt:
#Handelsblatt : Mit der früheren österreichischen Aussenministerin und Ölexpertin Karin Kneissl sprach ich über Big #Oil in der #Coronakrise : Wir haben ein riesiges Nachfrageproblem am #Ölmarkt “ https://t.co/40BVoj6oIJ
— Dr. Hans-Peter Siebenhaar (@HPSiebenhaar) April 13, 2020
Die gewaltige Unsicherheit, wie es mit dem Verbrennungsmotor weitergeht, hat ihr Übriges getan. Schon im November hatte die Opec in ihrer Prognose vor dem Überangebot gewarnt. Noch immer fließen bis zu 40 Prozent der weltweiten Ölproduktion in die Mobilität. Durch die Immobilität von derzeit drei Milliarden Menschen in der Coronakrise haben wir eine Ausnahmesituation, die das Überangebot extrem verschärft hat.
Es gilt gerade jetzt die Erkenntnis des früheren saudischen Ölministers Zaki Yamani, der sagte: Die Steinzeit endete nicht damit, dass es nicht mehr genügend Steine gab. Und das Ölzeitalter wird auch nicht enden, weil es nicht mehr genügend Erdölreserven auf der Welt gibt.
Auch der Russlandexperte und Universitätsprofessor Gerhard Mangott sprach vor allem von einem Überangebot bzw. von Überproduktion:
Die Opec+ Einigung, die Ölproduktion im Mai und Juni um 9,7 Millionen Fass zu kürzen, reicht bei weitem nicht aus, den Ölpreis zu stabilisieren. Da sind nochmals mindestens 10-15 Millionen Fass Produktionseinsparung nötig.
— Gerhard Mangott (@gerhard_mangott) April 15, 2020
Aus diesem Wirtschaftsartikel im Forbes-Magazin vom 17. April geht hervor, dass Saudi-Arabien in der Tat immer mehr Öl an die USA geliefert hat, und das, obwohl wegen der Coronaviruskrise und lockdowns immer weniger Öl benötigt wurde: Im Februar wurden pro Tag durchschnittlich 366,000 barrel Öl von Saudiarabien in die USA verschifft, im März 829,540 barrels, und in den ersten zwei Aprilwochen sogar 1.46 Millionen barrels. Ein barrel Öl sind 158.987 oder rund 159 Liter.
Russland hat den Förderkürzungen zu Beginn auch nicht zugestimmt, möglicherweise um die US-Fracking Industrie weiter in Bedrängnis zu bringen. Als Antwort darauf hat Saudi-Arabiens staatlicher Ölbetrieb Saudi Aramco angekündigt, die Produktion weiter zu steigern, um seinerseits Russland in Bedrängnis zu bringen, welches zwar billiger als die USA aber teurer als Saudi-Arabien produziert. Russland hat sechs Wochen später dann zwar eingelenkt:
Es war ein Fehler Russlands, am 6.3. die von Saudi Arabien geforderten Förderungskürzungen abzulehnen. Nur 6 Wochen danach, war RU gezwungen, das zu tun und demonstrierte damit, dass die Resilienz Russlands gegenüber niedrigen Ölpreisen doch nicht so stark ist wie behauptet.
— Gerhard Mangott (@gerhard_mangott) April 20, 2020
Der Ölpreis ist wegen der oben genannten Gründen – und auch, weil die Lager voll sind – aber mittlerweile dennoch im negativen Bereich:
Why has US #OilPrice dropped below $0?
– No cars, no planes, no ships, no factories so demand for oil is cataclysmically low
– There is excess supply and storage space is running out.
-Oil producers are paying buyers to take the oil off their hands as it's cheaper than storing pic.twitter.com/1BlUtsx4jh— Karan Sunil Shah (@karanonwheels) April 20, 2020
Viele scheinen nicht zu verstehen, dass es sich bei dem „negativen Ölpreis“ um den Preis für eine physische Lieferung morgen handelt! Wenn die Lager voll sind und weiter produziert wird, will das natürlich keiner haben… #OilPrice
— Tøbias 🗽 (@SirTobsiii) April 20, 2020
Menschliche Erklärungen
Eine weitere Erklärung für diesen seltsamen Preis ist menschliches Versagen: Ein solcher Ölpreis ist für keines der drei oben genannten Erdölförderländer von unmittelbar erkennbarem Nutzen, aber auf Grund der Sturheit oder Kurzsichtigkeit gewisser Akteure, hat sich ein solcher Ölpreis eben momentan ergeben.
Politische Erklärungen
Andererseits kann es sich dabei vielleicht auch um größere machtpolitische Manöver halten. Der US-Dollar ist seit den 1970er Jahren schließlich nicht mehr durch Gold sondern durch Öl gedeckt, da Öl nur in Dollar handelbar ist. Versuche Öl in Euro zu handeln wie damals von Saddam Hussein, goutieren die USA üblicherweise nicht allzu lange, da dies ihre ölgedeckte Weltwährung gefährden würde.
Jetzt wo Öl zumindest momentan nichts mehr Wert ist, ist damit jedoch der zum Ölkauf verwendete Dollar deutlich nutzloser geworden. Ein negativer Ölpreis könnte damit also vielleicht nicht nur passiert sondern absichtlich herbeigeführt worden sein, um den US-Dollar als auch ölgedeckte Weltwährung in dieser Funktion zu unterminieren. Um den Dollar als Weltwährung zu stürzen, wäre jedoch noch sehr viel mehr notwendig, was diese Erklärung wiederum unwahrscheinlicher macht.
Mögliche Folgen
Auch die möglichen Folgen dieses noch nie dagewesenen Ereignisses und potentiellen game changers sind bislang kaum abschätzbar.
Finanzkrise
Eine Möglichkeit ist, dass dadurch eine schwere Finanzkrise hervorgerufen wird:
Ein negativer #Oilprice klingt ja lustig und viele gieren jetzt nach billigem Benzin, aber die Lage ist hochgefährlich: Wenn in den USA viele der hochverschuldeten Schieferöl-Produzenten pleite gehen, kann das den Hochzins-Markt in die Tiefe reißen und eine Finanzkrise auslösen.
— Stefan Schaaf (@stefanschaaf) April 20, 2020
https://twitter.com/dianne151052/status/1252189051853180929
Erhöhte Kriegsgefahr?
In Kriegen wird viel Öl benötigt, es werden auch Ölproduktionsanlagen angegriffen und zerstört, und all das treibt den Preis von Öl nach oben. Ein deutlich höherer Ölpreis als negativ wird klarerweise von den erdölproduzierenden Ländern gewünscht. Krieg wäre somit ein geeignetes Mittel, genau das und auch noch manch anderes den Machteliten gelegenes Ziel herbeizuführen.
'The fact of the matter is that a US war with Iran might be the only thing that can save US oil. In a Presidential election year where Trump is desperately looking to prop up the US economy, war suddenly has become very attractive.'
– @RealScottRitterhttps://t.co/zti12znMaB
— RT (@RT_com) April 22, 2020
Niedrigere Kriegsgefahr?
Andererseits sinkt die Kriegsgefahr mancherorts auch, da imperialistische Staaten wie die USA jetzt deutlich weniger Grund haben, andere Staaten wie Venezuela wegen deren Erdöl anzugreifen und deren Regierungen zu stürzen.
Staatszusammenbrüche?
Sollte der Ölpreis nicht massiv nach oben gehen, dann droht vielen Ländern ein Staatszusammenbruch durch Wegfall einer großen Einkommensquelle:
https://twitter.com/BjornStickler/status/1252303738674589704
Ein überraschendes Ende des Ölzeitalters?
Vielleicht jedoch bleibt die Erdölproduktion jetzt zumindest für einige Zeit so unprofitabel, dass dies von den erdölproduzierenden Ländern auch als starker Anreiz dafür genommen wird, um auf alternative oder grünere Energiequellen zu wechseln, was wiederum ein Ende des Ölzeitalters massiv beschleunigen könnte (siehe das obige Zitat des ehemaligen saudischen Ölministers).
Ein Verpassen der Klimaziele?
Eine naheliegendere Möglichkeit ist, dass jetzt so viel billiges Erdöl verheizt wird, dass wir die Klimaziele verfehlen und wir von Klimakrise zu Klimakatastrophe ‚voranschreiten.‘
Konklusion
In Summe ist die Lage sehr neuartig und unberechenbar. Was als Konstante bleibt, ist, dass nach diesem potentiellen game changer das, was noch vor Kurzem als unmöglich oder undenkbar schien, auf einmal möglich wird und eintreten könnte.
Gregor Flock ist unabhängiger systematischer Philosoph (univie.academia.edu/GregorFlock), Zivilgesellschaftler (Global Civil Society Network), politischer Analyst (medium.com/@GregorFlock). Twittert unter @GFlock_GCSN.