Unterricht in Zeiten der Pandemie: Warum „hygienischer“ Unterricht nicht mehr als der (gar nicht so) fromme Wunsch von Eisprinzessinnen ist.
Von Günter Schütt
Tag 0:
Ein junger Kollege ruft mich am Wochenende vor Schulbeginn an, seine Stimme klingt ganz aufgekratzt. Die Mutter eines Schülers aus meiner Klasse habe vor drei Wochen einen positiven Antikörpertest gemacht. Woher er das wisse? Von dem Schüler selbst, er habe ihn auf der Straße getroffen. Hat der Schüler selbst auch einen Test gemacht, frage ich meinen Kollegen. Nein, hat er nicht. Verflucht, denke ich. Warum ausgerechnet am Wochenende? Ich schreibe seinen Eltern, die bestätigen das, schreibe dem Direktor. Er übernimmt die Verantwortung. Der Schüler solle am Montag einfach kommen, schreibt er, die Inkubationszeit von 2 Wochen sei deutlich überschritten, so what?
Tag 1:
Vierte Klasse, erste Stunde. Große, glänzende Augen haften stumm an mir, erwartungsvoll-ängstlich, vorsichtig lauernd. Es hat keinen Sinn jetzt normalen Stoff zu machen, entscheide ich und nutze die Stunde, um mit den Schülern über die aktuelle Coronasituation zu sprechen. Gerade ist der Post-Leiharbeiter-Asylheim-Kindergartencluster aufgepoppt. Wo die 158 Neuinfektionen in der Statistik aufscheinen, will der schlaue Benni wissen. Das frage ich mich selbst auch, sage ich ganz offen.
Tag 2:
Ich gehe schon vor dem Läuten in die 4. Klasse, um noch meinen Laptop aufzubauen und gleich mit dem Impulsvideo zum Thema „Leihmutterschaft“ beginnen zu können. Gestern haben mich alle noch ganz stumm und mit großen Augen angeschaut. Heute sehe ich keine besorgten Blicke mehr. In der ersten Reihe teilen sich zwei SchülerInnen Kekse aus ein- und derselben Packung. Anna, sage ich, nur weil Kekse-Teilen nicht explizit in der Hygienevorschrift steht, heißt das noch lange nicht, dass es wurscht ist. Wir seien jetzt in der Phase des Selbst-Denkens angekommen, genießen nicht mehr den wie faden Kaugummi vorgekauten Staatsschutz des Lockdowns. Eigenverantwortung, klingelt da etwas?
Tag 3:
Ich habe Gangaufsicht vor der 4. Klasse meines Misstrauens. Setze mich auf einen Hocker im Gang, checke meine Mails. Plötzlich ein lautes Krachen. Ich gehe in die Klasse, schiebe mir den NMS aus dem Gesicht. In der letzten Reihe sitzen die Klassencomedians dicht nebeneinander und spielen Karten. Im Grunde liebe, sympathische Burschen. Was hier los sei, was mit dem Mindestabstand sei und mit dem NMS, wenn man sich vom Platz wegbewege, und überhaupt? Marco meldet sich mit vom Stimmbruch kratziger Stimme. Er habe gerade ein schlechtes Blatt gehabt, da habe er sich geärgert. Was hätten Sie getan Herr Professor, wenn Sie viermal Plus-Vier aufnehmen müssten? Stimmt schon Marco, sage ich, aber die Schuleinrichtung darf es nicht büßen und zuhause wirst du es wohl auch nicht so herauslassen können. Stimmt schon, Herr Professor. So jetzt, auseinander mit euch, sage ich. Die Stunde beginnt ohnehin gleich.
Tag 4:
Weil sich von 300 Infizierten in China nur einer draußen angesteckt haben soll oder weil Christian Drosten findet, dass die Ansteckungsgefahr durch Aerosole drinnen 18fach höher ist als draußen – er hat vermutlich andere Zahlen als die Chinesen – dürfen unsere Schüler einmal am Tag eine lange Pause outdoor verbringen. Wir haben einen großen grasbewachsenen Sportplatz an der Schule, einen Hartplatz mit Toren, einen Beachvolleyplatz, Hängesessel unter einem Ahorn usw. Das Meiste davon dürfen wir jetzt nicht nutzen. Die Schüler sollen sich der Theorie nach in der Wiese verteilen, alles mit Sicherheitsabstand von 1 Meter. Doch Theorie ist nicht gleich Praxis. Auf den Sitzinseln, die denen im MQ ähneln, sitzen die Mädchen so dicht gedrängt, dass ihre Beine über denen ihrer Sitznachbarinnen baumeln, im Gras zelebrieren ein paar Jungs ein Sandwich, d.h. sie liegen zu fünft übereinander, einer ist Wurst, einer Käse, einer Salatgurke, einer Tomate, einer Majo, stelle ich mir vor. Vermutlich habe ich Hunger. Der Job verlangt meinen Appell an die Eigenverantwortung, eine Erinnerung daran, dass bewegte Aerosole an der frischen Luft zwar ein Vorteil seien, aber nur, wenn man nicht unmittelbar übereinander liege usw. Also sage ich in Richtung der neben meinen Füßen zu einem kompakten Paket verschmolzenen Bubenkörper: Aerosol ist ein Kunstwort aus Altgriechisch und Latein, denkt mal darüber nach!
Tag 5:
Den Lehrern wird es zu dumm, im Gang zwischen Konferenzzimmer, wo keine NMS-Pflicht herrscht, und dem Aufenthaltsraum, wo ebenfalls keine herrscht, den Schein zu wahren und den NMS auf den 10 Metern dazwischen aufzusetzen. Am Ende meines Schultages gewittert es. Drei ausgenommen hübsche Kolleginnen fragen mich, ob ich sie wegen des Regens mitnehmen könnte. Natürlich sage ich ja, baue den Kindersitz aus und stelle die rhetorische Frage: Mit NMS-Pflicht im Auto oder ohne? Was für eine Frage! Natürlich ohne, bekomme ich zur Antwort, jetzt sei es auch schon egal.
Tag 6:
Ich höre beim Heimfahren eine Diskussion auf Ö1. Sie ist bereits am Laufen, als ich das Radio anmache. Meinl-Reisinger fordert die sofortige Normalöffnung aller Schulen. Oder waren es nur die Volksschulen? Ich frage mich, ob Meinl-Reisinger eine gewiefte Eisprinzessin ist oder einfach nur ums politische Überleben kämpft. Ob sie weiß, dass eine hygienische Schulpraxis ohnehin nicht mehr ist als ein frommer Wunsch? Der Moderator Klaus Webhofer wechselt zu einer anderen Diskutantin, es könnte sich um Wirtschaftsministerin Schramböck handeln, vermute ich. Irgendwie juckt es den Webhofer heute. Er hört auf zu fragen und setzt plötzlich selbst Thesen in die Welt. Ihm komme es so vor, er meine, wenn Bedienstete des Sommertourismus regelmäßig getestet werden sollen, aber kein einziger Lehrer, dass die Tourismusbranche einfach die bessere Lobby habe. Und ich weiß wieder, warum ich den Webhofer so schätze.
Tag 7:
In Schweden steigen die Todeszahlen wieder. Auf 95 in 24 h. Schweden liegt unter den Top 5 mit den höchsten Todeszahlen. Vor Schweden liegen nur GB und Belgien, das die Statistik zwar anführt, aber ohnehin nie erwähnt wird. In Belgien sind 81 von 100.000 Staatsbürgern an Corona gestorben. Das sind in absoluten Zahlen über 9.000 Tote bei mehr als 11 Millionen Einwohnern oder immerhin 0,08 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Schweden sind es 42 von 100.000, also 0,04 Prozent – vermutlich wird sich die Zahl aber noch deutlich erhöhen-, in Österreich 7 und damit 0,007 Prozent. Die Strategie von Staatsepidemiologen Tegnell und Rot-Grün von Löfven ist offiziell am Arsch, denke ich. Muss es nur noch jemand der WHO sagen.
Günter Schütt, geboren 1982 in Wien, hat Lehramt Deutsche Philologie und Philosophie/Psychologie an der Universität Wien sowie Soziale Arbeit an der FH St. Pölten studiert. Er unterrichtet an einem Gymnasium im Speckgürtel Wien. Zudem arbeitet er an Texten mit literarischen sowie kultur- und sozialtheoretischen Themenstellungen.
Titelbild: Corona@school (chiplanay auf pixabay.com; Pixabay License)