Statt zurück zur alten Tagesordnung zu gehen, sollten wir die Lektion, die wir während des Lockdowns über die Bedeutung der Fundamentalökonomie gelernt haben, für eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik hin zu einem guten Leben für alle nutzen.
Von Leonhard Plank (Institut für Raumplanung der TU Wien), Richard Bärnthaler (Department für Sozioökonomie der WU Wien) und Alexandra Strickner (Politische Ökonomin)
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass manche wirtschaftlichen Aktivitäten wichtiger sind als andere. Während viele Branchen schließen mussten, galt dies nicht für die als „systemrelevant“ eingestuften Bereiche der Wirtschaft. Am heutigen 23. Juni wird der Internationale Tag des öffentlichen Dienstes begangen, um die Leistungen des öffentlichen Sektors und seine Bedeutung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt hervorzuheben. Ein guter Anlass, um über die Aufwertung und Weiterentwicklung dieser fundamentalen wirtschaftlichen Aktivitäten im Kontext der Daseinsvorsorge und Nahversorgung nachzudenken.
Was wir zum Leben brauchen
Diese Fundamentalökonomie (foundational economy, Ökonomie des Alltagslebens) ist die Zone der Wirtschaft, die die Sicherung der Lebensgrundlagen garantiert und so menschliches Überleben ermöglicht: Ohne Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung, Strom, Wasser, Gas, Müllabfuhr und Wohnraum kein Überleben in zivilisierten Gesellschaften. Die Fundamentalökonomie umfasst also, vereinfacht gesprochen, die Aktivitäten der Daseinsvorsorge und Nahversorgung, die immer – und daher auch in Krisenzeiten – tagtäglich gebraucht werden.
Das Foundational Economy Collective, ein Zusammenschluss europäischer WissenschafterInnen, hat, basierend auf Forschungsarbeiten der letzten Jahre, bereits in den ersten Wochen der COVID-19-Krise ein Manifest mit einem Zehn-Punkte-Programm für die Zeit nach der Pandemie verfasst. Das übergeordnete Ziel des Programms ist die wirtschaftspolitische Neuorientierung Europas, ausgehend von der Erweiterung der kollektiven Verantwortung für die grundlegende Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen. Für diesen Beitrag greifen wir (Leonhard Plank, Andreas Novy, Richard Bärnthaler, Alexandra Strickner) drei wesentliche Punkte anlässlich des Tags des öffentlichen Dienstes aus dem Manifest heraus.
Gemeinsam Verantwortung für die Gesundheits- und Pflegeversorgung übernehmen
Gesundheit ist jener Bereich, in dem die Bildung von Allianzen zur Erneuerung der Fundamente am einfachsten ist. Wie die aktuellen Erfahrungen mit COVID-19 zeigen, ist es wichtig, in solche Allianzen auch die Belegschaft verstärkt einzubinden. Die Krise ist nicht nur ein Weckruf für die kollektive Bereitstellung, sondern auch für die notwendige und dauerhafte Aufwertung der „LeistungsträgerInnen“ in diesen Sektoren. Darüber hinaus müssen die regionalen Unterschiede in der finanziellen Ausstattung zwischen den Ländern der EU (der Norden und Westen Europas und der Süden und Osten) sowie innerhalb der Länder, wie etwa zwischen dem Norden und dem Süden Italiens, reduziert werden. High-Tech-Medizin erfordert überlegte Investitionen in Kapazitäten, um Skandale des Unvorbereitet-Seins zu vermeiden – wie im Fall des unterfinanzierten britischen Gesundheitswesens NHS, das die Hälfte seiner Akutbetten in den vergangenen 30 Jahren abgebaut hat. Die Briten verfügten am Beginn der Krise nur über 4.000 Akutbetten für Erwachsene, 5.000 Beatmungsgeräte und stark beschränkte Kapazitäten an Testlaboren, was die Strategie des „Testens und Nachverfolgens“ unmöglich machte.
Gleichzeitig müssen gemeinschaftsorientierte Gesundheits- und Pflegedienste sowie die Präventivmedizin, die auf Wohlbefinden ausgerichtet ist, ausgeweitet werden. Die Pandemie hat zwar zu einer Wiederentdeckung öffentlicher Gesundheitsvorsorge in Form der Seuchenbekämpfung geführt. Aber der öffentlichen Gesundheitsvorsorge müsste eine viel größere und präventivere Rolle bei Themen wie falscher Ernährung, Luftverschmutzung und psychischen Gesundheitsproblemen zukommen. Geschieht dies nicht, drohen Fettleibigkeit, Typ-2-Diabetes und Lungenkrankheiten das Gesundheitssystem zu überlasten, während die Sicherung der psychischen Gesundheit, die eine ganzheitliche Behandlung der PatientInnen und damit deren Wohlbefinden gewährleisten würde, selten finanziert wird.
Steuersystem reformieren, um Mittel für den Umbau zu generieren
Ohne Steuerreform werden die Lasten des Schuldendienstes, die durch die COVID-19-Krise entstanden sind, die Bereitstellung grundlegender Versorgungsleistungen durch die öffentliche Hand unter Druck setzen. Folglich werden notwendige Investitionen zunehmend fehlen, z. B. in leistbaren Wohnraum, gute Gesundheitsversorgung oder öffentlichen Verkehr.
Die Auswirkungen der COVID-19-Krise machen es notwendig, dass Regierungen Einkommensausfälle kompensieren, private Unternehmen stabilisieren sowie Konjunkturpakete schnüren. Diese höheren Ausgaben führen zusammen mit geringeren Einnahmen zu höheren Staatsschulden. Schon vor der Krise war die jeweilige Staatsverschuldung als Anteil am Volkseinkommen rund 80 Prozent in der EU. Die Zahlen reichten von niedrigen 34 Prozent in Dänemark zu Höchstständen mit 182 Prozent in Griechenland und 134 Prozent in Italien. Deutschland, Österreich und das Vereinigte Königreich nahmen eine Mittelposition ein. Wenn sich keine Mehrheiten für eine innovative geldpolitische Lösung (Stichwort: Staatsfinanzierung durch die EZB) finden, wird sich der Schuldenstand deutlich nach oben entwickeln. Selbst mit niedrigen Zinsen und den Vorzügen stetiger Inflation wird es eine große Herausforderung, diese Schulden zu refinanzieren und zurückzuzahlen.
Wenn das Steuersystem nicht in gerechter Weise reformiert wird, dann heißt das vermutlich 10 bis 20 Jahre Kürzungsprogramme, bei denen grundlegende Versorgungsleistungen wie Bildung, Gesundheit und Pflege ausgehungert werden, wie dies schon in vielen europäischen Ländern nach der Finanzkrise 2008 der Fall war. Durch eine Steuerreform Einnahmen zu erhöhen ist daher eine zentrale Voraussetzung, um grundlegende öffentliche Dienste gegen eine „Politik der leeren Kassen“ zu verteidigen und auszuweiten.
Fachliche und administrative Kapazitäten auf allen Regierungsebenen wiederaufbauen
Die Politikwissenschaft debattiert den postdemokratischen Staat; ein Staat, in dem der demokratische Apparat und seine Institutionen fortbestehen, Entscheidungen jedoch von einer polit-ökonomischen Elite getroffen werden. Wenn wir über die Erneuerung der Fundamente nachdenken, müssen wir vor dem postadministrativen Staat auf der Hut sein. In diesem verbinden Verwaltungsbehörden eine Managementrhetorik über Strategien und Führungsgrundsätze mit einem Unvermögen, die Dinge effektiv und effizient zu verwalten.
Die Bewältigung der Krise von 2008 zeigte die Funktionsweise postdemokratischer Staaten. COVID-19 weist auf die mangelnde Effektivität unserer öffentlichen Verwaltungen hin, die sich etwa im Zuge der Beschaffung von Schutzausrüstung auch in Österreich zeigte. Diese unzureichende Handlungsfähigkeit ist selten Teil der politischen Auseinandersetzung. So fehlt diese Diskussion etwa in dem Manifest 2019 der britischen Labour Party, welches einen Green New Deal mit ambitionierten Zielen zur Dekarbonisierung des bestehenden Gebäudebestands forderte, ohne jedoch eine klare Vorstellung zu haben, wie die dafür notwendigen Arbeiten geplant, organisiert und durchgeführt werden sollen.
Die Probleme sind besonders akut in Gemeinden und Städten, weil Haushaltskürzungen sowie die Privatisierung und Auslagerung vieler Aktivitäten diese ohne Personal und professionelle Kapazitäten zurücklassen. Nicht nur in Großbritannien sind Lokalverwaltungen aufgrund der Austeritätspolitik und Budgetkürzungen von 40 Prozent massiv betroffen, auch in Italien wurde in den letzten Jahren die Beschäftigung in den Regional- und Lokalverwaltungen um mehr als 25 Prozent gekürzt. Selbst in Deutschland haben Kommunen Probleme, weil sie nicht (mehr) in der Lage sind, Mittel in Infrastrukturprojekte zu investieren.
Ohne professionelle und administrative Kapazitäten können Regierungen keine führende Rolle im Entwickeln von Investitionsprogrammen und bei der Steuerung der Grundversorgung einnehmen.
Allianzen für den Wandel
Statt zurück zur alten Tagesordnung zu gehen, sollten wir die Lektion, die wir während des Lockdowns über die Bedeutung der Fundamentalökonomie gelernt haben, für eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik hin zu einem guten Leben für alle nutzen. Daher ist es jetzt mehr denn je notwendig, die Erneuerung und Transformation der Fundamente ins Zentrum des notwendigen Auf- und Umbaus unserer Wirtschaft zu stellen – und mit ihr jene Menschen, die „den Laden am Laufen halten“ (Angela Merkel). Es ist eine historische Chance, mit den Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte – allen voran der Kommerzialisierung öffentlicher Dienstleistungen – zu brechen und dabei gleichzeitig die Klima- und Umweltkrise sowie die Erosion des sozialen Zusammenhalts zu adressieren.
Das erfordert Maßnahmen und Schritte, die die Dominanz einer marktzentrierten und wettbewerbsorientierten Wirtschaft reduzieren und stattdessen eine gemeinwohlorientierte Fundamentalökonomie, eine Ökonomie des Alltagslebens, stärken, um jene täglich lebenswichtigen Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, welche Lebensqualität und Nachhaltigkeit vor Ort gewährleisten.
Um diesen Wandel zu vollziehen, braucht es neue und breite Allianzen: zwischen progressiven Parteien (rote und grüne), Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Bewegungen ebenso wie mit Konservativen und Liberalen, die die Bedeutung einer kollektiven Bereitstellung der Grundversorgung anerkennen. Gerade in Deutschland und Österreich, wo die kommunale Erbringung zentraler Daseinsvorsorgeleistungen durch Stadtwerke, Genossenschaften oder im Rahmen von interkommunalen Partnerschaften hohe Legitimität unter den BürgerInnen genießt, gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte, diesen Wandel gemeinsam zu organisieren.