Der Kapitalist
Kolumne von Andreea Zelinka (Rotes Antiquariat Wien)
Vielleicht habe da ja etwas missverstanden, aber ist der Kapitalismus nicht die Wirtschaftsform, die auf Ausbeutung, Entfremdung und Unterdrückung gründet? In den letzten 80 Jahren haben sich daraus zugegebenermaßen allerlei Annehmlichkeiten ergeben. Hierzulande – in Österreich wie allgemein im Westen – hat sich zumindest eine Zeit lang eine Mittelklasse gebildet, die zwar nicht im Luxus schwebte, aber doch von sich sagen konnte, in Sicherheit und relativem Wohlstand dem Lebensabend entgegen gehen zu können. Vielleicht führte das, gepaart mit einer unendlichen Schuld, die menschenrechtlich verpflichtet, sowie dem stillen Wunsch nach Harmonie, nach 1945 zu einem Zugewinn an Freiheiten. Es schaut dann nämlich ein bisschen so aus, als ob Kapitalismus gar nicht so schlimm sei.
Oder aber haben die sozialistischen Diktaturen im 20. Jahrhundert und bis heute den Eindruck erweckt, nur der Kapitalismus könne Wohlstand und Freiheit bieten? Dafür müsse man eben in Kauf nehmen, Menschen auszubeuten, durch entfremdete Arbeit und Lebensweisen krank zu machen und sie zu unterdrücken. Wohlstand kann es halt nicht für alle geben und Freiheit ist eine Farce. Vielleicht habe ich missverstanden, was Kapitalist*innen so mühelos verstehen, nämlich dass diese Einsicht unumstößlich und jeder andere Schluss unlogisch, unvernünftig und utopisch sei; denn ich halte diese Aussage für falsch. Und darüber hinaus für abstoßend.
Sie entspringt der Deutungshoheit einer bestimmten Gruppe von Menschen, die diese mit Gewalt durchsetzt. Das ist die Gruppe der Kapitalist*innen. Menschen, die entweder vom kapitalistischen System überzeugt sind oder es zumindest erhalten wollen, da sie selbst von Privilegien profitieren, oder weil ihnen gerade nichts Besseres einfällt.
Ich denke, die meisten Menschen, die ins Rote Antiquariat kommen, finden ihren Weg dorthin, weil sie sich für Arbeiter*innen-Literatur, Expressionismus, Wiener Aktionismus, utopische Wohn- und Lebenswelten und sozialistische Ideen interessieren. Regelmäßig fragen Menschen nach den Marx-und-Engels-Werken. Die MEW sind eine Studienausgabe, die in 44 Bänden und wechselnder Herausgeber*innenschaft zwischen 1956 bis 2018 erschienen sind. Bis heute werden sie im Dietz Verlag regelmäßig neu aufgelegt. Die Bände sind text- und seitenident, erfahren aber inhaltlich stets eine Weiterentwicklung. Sie versammeln alle abgeschlossenen und veröffentlichten Werke, Schriften und Artikel von Marx und Engels, sowie Manuskripte, Entwürfe und Briefe. Da mehr als die Hälfte im deutschen Original abgedruckt ist, sind sie für Übersetzungen und Forschungen eine beliebte Grundlage.
Einmal kam ein Kunde in den Laden und fragte nach Band 2 (beinhaltet „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“, der erste Text, den Marx und Engels gemeinsam verfassten, sowie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“) und Band 3 (umfasst u.a. „Die deutsche Ideologie“) der MEW. Ich suchte sie heraus und gab sie ihm. Er schaute sie kurz an, fragte nach dem Preis und sagte, er nehme sie mit, früher habe er mal alle Bände gehabt, sei aber so oft umgesiedelt, dass er alle verloren habe. Ich nickte und folgte seiner Erzählung, die mir mehr über seine Beziehung zu den Büchern verriet. Er sagte, er möge Marx‘ Analyse und bewertete „seine Analyse des sogenannten kapitalistischen Systems“ als sehr gut, habe aber mit der Konsequenz, die er daraus ziehe, so seine Schwierigkeiten. „Hm.“, dachte ich, als er im nächsten Moment verkündete: „Denn ich bin voll und ganz Kapitalist.“ Dabei schwoll seine schmale Brust leicht an und seine wässrigen blauen Augen glänzten stolz und auch ein bisschen herausfordernd. Auf wackligen Altherrenbeinen verließ er den Laden. „Hm.“, dachte ich, „hätte ich das vorher gewusst, dann hätte ich ihm nicht so einen guten Preis gemacht.“
Titelbild: Andreea Zelinka
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