Selbstverwaltung hat den Ruf, vor allem für kleine Betriebe und Projekte interessant zu sein. Je größer Betriebe werden, desto schwerer sei es, demokratische Strukturen aufrecht zu erhalten. Der baskische Betrieb Mondragón mit etwa 80.000 Mitarbeitern beweist allerdings, dass dem nicht so ist. Siebenter und letzter Teil der Serie über selbstverwaltete Betriebe in Europa von Christian Kaserer
Unsere bisher besuchten selbstverwalteten Betriebe und Projekte haben eins gemeinsam: Sie sind aus Krisen geboren worden. Krisen schaffen oftmals die Möglichkeit, über neue Wege nachzudenken und bisher eingeschlagene Pfade verlassen zu können. Auch der Betrieb Mondragón, gelegen in der gleichnamigen nordspanischen Stadt, entstammt einer solchen Krise.
1939 lag Spanien in Trümmern. Der Bürgerkrieg hatte weite Teile des Landes verwüstet und tiefe Gräben zwischen den Menschen aufgeworfen. Die Schrecken, wie sie die deutschen Faschisten mit ihrer Legion Condor etwa in Guernica verursacht hatten, standen den meisten Republikanern noch deutlich vor Augen.
Inmitten dieser verheerenden Situation und Niederlage der Demokratie, beginnt die Geschichte von Mondragón. Der Priester Jose Maria Arizmendiarrieta beschloss 1941, im Angesicht all der Zerstörung, die der spanische Bürgerkrieg im Baskenland hinterlassen hatte, sich nicht nur für die Seelsorge, sondern auch praktisch zu engagieren. Bildung und Mitbestimmung sollten der Schlüssel dazu sein, die Region wieder aufzubauen und überdies Francisten und Republikanern zu versöhnen. Dazu brachte er vor allem Jugendliche zusammen und organisierte Bildung und Freizeit mit ihnen.
In Mondragón gab es dazumal lediglich einen großen Betrieb, welcher gar eine Schule angeschlossen hatte, die allerdings nur den Kindern der Arbeiter offen stand. Der Priester wollte bewirken, dass die Schule allgemein geöffnet und überdies die Arbeiter ein gleichberechtigtes Mitspracherecht im Betrieb bekommen sollten. Letzteres allerdings ohne Erfolg und so entschloss er sich, mitsamt fünf Ingenieuren, 1956 den Betrieb Ulgor zu gründen.
Ulgor unterschied sich deutlich vom klassischen Bild eines Industriebetriebs: Wer hier arbeitete, war zugleich auch Besitzer und konnte somit gleichberechtigt mitbestimmten, wohin der Betrieb sich entwickeln sollte. Eine Genossenschaft also. Ziel war es in erster Linie nicht, Kapital zu akkumulieren, sondern Menschen ein Auskommen zu verschaffen und mit dem Gewinn soziale Projekte zu fördern. So wurde etwa eine Kreditanstalt eröffnet, welche die Gründung weiterer Genossenschaften ermöglichen sollte, um in der Region die Wirtschaft anzukurbeln.
Ein Projekt mit Erfolg, denn heute, über 60 Jahre später, heißt der kleine Betrieb, der den Menschen hier Hoffnung und eine Zukunft bringen sollte, Mondragón und ist das Dach von über 100 Teilgenossenschaften. Sie reichen von Industriebetrieben wie etwa Maschinenbau über Banken hin zur Baubranche und Konsumgenossenschaften, also dem Einzelhandel. Insgesamt 15 Innovationszentren und selbst eine eigene Universität für etwa 5.000 Studierende wurden gegründet.
Mondragón als Genossenschaftsverbund ist mit Stand 2019 die Arbeitsstätte von fast 80.000 Menschen in 31 Ländern auf fünf Kontinenten und funktioniert im Kern immer noch, trotz dieser enormen Größe, nach denselben egalitären Prinzipien, welche Arizmendiarrieta dazumal aufgestellt hatte. Eine beeindruckende Geschichte, welche in der Hauptzentrale des Betriebs in einem fünfzehnminütigen Werbefilm jährlich über 2000 Besuchern präsentiert wird.
Einige Fragen bleiben dabei allerdings unbeantwortet. Ander Etxeberria jedoch, Pressesprecher von Mondragón, ist willig mir bei meinem Besuch im Baskenland auch die letzten offenen Punkte zu beantworten. In seinem Büro angekommen öffnet er auf seinem Laptop eine eigene Präsentation, die jeden Aspekt Mondragóns näher beleuchten und mir offenbar sämtliche Fragen beantworten kann.
Eine Sache brennt mir dabei besonders auf der Seele: Wie, bei so einer enormen Größe, demokratisch bleiben? »Mondragón ist nicht nur ein Betrieb, sondern sozusagen ein Konglomerat, ein Zusammenschluss aus verschiedensten Genossenschaften. Sie alle halten sich allerdings, das ist die Bedingung, an unsere genossenschaftlichen Grundsätze. Wer bei uns arbeitet, der ist auch Eigentümer und kann gleichberechtigt über die Abläufe im Betrieb mitbestimmen. Unsere Teilgenossenschaften sind vor allem in der Industrie zu verorten, aber nicht nur. Eine riesige Konsumgenossenschaft, also sozusagen ein Supermarkt, gehört auch dazu. Jene Betriebe, die Teil von Mondragon sind, wählen kollektiv Vertreter und diese kommen daraufhin in regelmäßigen Abständen zusammen und beschließen, wohin wir alle uns entwickeln sollen. Neben der Generalversammlung gibt es noch weitere entscheidende Organe, wie etwa den Sozialrat oder den Managerrat. So stellen wir sicher, dass wirklich alle Entscheidungen von möglichst vielen Blickwinkeln beleuchtet werden. Transparenz, Partizipation und das Gemeinwohl stehen dabei immer an oberster Stelle. Den einzelnen Teilbetrieben steht es überdies frei, Mondragon jederzeit zu verlassen und sich anders auszurichten«, so Ander.
Der erwähnte Managerrat bedeutet also, dass es Manager bei Mondragon gibt? »Es gibt Menschen die gewählt werden, um ihre jeweiligen Genossenschaften zu vertreten und auf bestimmte Zeit zu leiten. Man könnte das Manager nennen, ja. Klar ist aber, dass sie rechenschaftspflichtig sind und abgewählt werden können. Hinzu kommt, dass sie maximal das Sechsfache der untersten Lohngruppe von Mondragon verdienen dürfen.«
Und was passiert mit dem Gewinn? »Die Gewinne werden, je nach Beschluss, sozial investiert. Etwa in unsere Universitäten, die wir gegründet haben, damit Menschen – auch ohne mit uns irgendwas zu tun haben zu müssen – studieren können. Oder etwa in Kampagnen für die Umwelt bei den Konsumgenossenschaften. Es muss jedenfalls der jeweiligen Region, in welcher der Betrieb lokalisiert ist, zugute kommen. Ein Teil wird natürlich angespart, damit die finanziell erfolgreicheren Betriebe jenen, die aktuell Probleme haben, unter die Arme greifen können. Wir wollen nämlich niemanden bei uns entlassen und so wenige Betriebe wie möglich schließen. Wobei ich aber erwähnen will, dass wenn sich über mehrere Jahre hinweg keinerlei Besserung zeigt, das für uns ein Zeichen ist, dass eine Genossenschaft, warum auch immer, nicht mehr lebensfähig ist. Wir schließen sie dann nötigenfalls und sorgen so gut es geht dafür, die Menschen in anderen Genossenschaften unterzubringen. Und natürlich ist der Gewinn für die Arbeiter, also die Mitglieder der Genossenschaft, da.«
Aber wie wird man Mitglied der Genossenschaft und wie verlässt man sie wieder? »In der Regel beginnt man bei uns zu arbeiten, ohne sofort Mitglied zu werden. Wir halten es für klug erst eine gewisse Zeit zu beobachten, ob die Person zu uns passt und ob wir zu der Person passen. Wenn alles gut geht, dann führen wir eben ein Gespräch und die Person kann sich entscheiden, Mitglied der Genossenschaft zu werden. Dazu zahlt man eine gewisse Summe in die Genossenschaft ein. Sozusagen als Anteil. Gerne auch in Raten, denn es sind in der Regel über 10.000 Euro. Damit ist man auch schon volles Mitglied und hat alle Rechte und Pflichten. Wenn Personen sich dann dazu entschließen die Genossenschaft zu verlassen oder etwa in Rente gehen, dann erhalten sie ihren Anteil wieder zurück, jedoch deutlich höher, da der Wert des jeweiligen Anteils über die Jahre, entsprechend des Wachstums der Genossenschaft, gestiegen ist. In der Regel kommt da einiges zusammen. Und es kann auch passieren, dass wenn eine Genossenschaft finanzielle Probleme hat, wir die Menschen früher in Rente senden und ihnen so lange die Rente zahlen, bis der Staat das dann aufgrund ihres Alters übernimmt.«
Ein ausgesprochen solidarisches Modell, völlig ungewohnt in unserer undemokratischen Wirtschaft, aber wie behauptet man sich so im Kapitalismus auf Dauer? »Dadurch, dass wir alle gemeinsam beschließen, was die nächsten Schritte sind, bündeln wir unser Wissen. Krisen wie etwa die letzte Finanzkrise haben wir somit deutlich besser überstanden als die meisten anderen Betriebe in Spanien. Das solidarische Miteinander hilft uns da sehr.«
Schöne Worte zum Abschluss. Ander ist sich bewusst, dass Mondragón immer noch im Kapitalismus existiert und somit auch an dessen immanente Logik gebunden ist. Dass Teilgenossenschaften pleite gehen können verdeutlich dies. Doch – und davon ist er überzeugt – hilft diese von Priester Arizmendiarrieta ins Leben gerufene Mischung aus Karl Marx, Adam Smith und katholischer Soziallehre dabei, bei Menschen das Bewusstsein für die Probleme der kapitalistischen Wirtschaftsweise herauszubilden und trägt so ja doch, eines Tages, vielleicht zu deren Überwindung bei.
Serie zu selbstverwaltete Betriebe in Europa
- Teil 1: Der Kampf um die Seife in Thessaloniki
- Teil 2: Selbstverwaltete Suchtbekämpfung in Bozen
- Teil 3: Genossenschaften – Arbeiterkontrolle oder Businessmodell?
- Teil 4: Power to, for and by the people – Energiekooperativen in London
- Teil 5: Solidarity Cities – Lokale Strategien für ein solidarisches Miteinander
- Teil 6: Eigentum aus dem Markt nehmen – Gespräch mit der Munus-Stiftung
Titelbild: Colaborativa dot eu from Córdoba, Spain, Viaje a la Corporación Mondragón en el País Vasco, CC BY 2.0