Weil wir „humanitär intervenieren“ und unsere „Streitkräfte projizieren“.
Von Thomas Roithner
Nein, niemand führt Kriege bei uns. Sie kosten Leben, verursachen Flucht, zerstören Infrastruktur und bringen vielfaches Leid. Wer will sich dafür verantworten müssen? Die Konsequenz: umbenennen, was auch nur im Entferntesten danach riecht. Wir führen demnach also nicht nur keinen Krieg, wir rüsten auch nicht und wir unterstützen auch andere nicht dabei. Wir sind auf der guten Seite.
Carl Sandburgs Gedichtauszug „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ könnte mit der Kontrolle über Begriffe eine veränderte Bedeutung erlangen: Stell Dir vor es ist Krieg und er heißt nicht mehr so.
Militärische Intervention und Krieg
Um Kritik zu vermeiden, werden im Kontext von Militäreinsätzen der nordatlantischen Staaten die Begriffe Krieg und Militärintervention – sofern der Westen als aktiv Beteiligter auftritt – in der Darlegung des eigenen Handelns kaum verwendet. Nicht wenige Medien folgen. Unabhängig von der wissenschaftlichen Kriegsdefinition (im deutschsprachigen Raum beispielsweise des HIIK oder AKUF) ist man beispielsweise in Gestalt der „humanitären Intervention“ aktiv. Bloß kostspielig und martialisch soll es in der Öffentlichkeit nicht klingen.
Uneindeutig bleiben Begriffe wie „militärisches Krisenmanagement“, die Durchführung einer „Operation“, eine „Stabilisierung“, ein „Rettungseinsatz“ oder ein „Krisenbewältigungseinsatz“. Ebenso unklar in Gewaltintensität oder der völkerrechtlichen Mandatierung wird das Wahrnehmen von „Schutzverantwortung“ (im Sinne der „Responsibility to Protect“) debattiert. Der Bericht zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik des EU-Vorsitzes vom Dezember 2008 tönte von der „Projektion der Kräfte in Operationsgebiete außerhalb der Europäischen Union“.
Natürlich gilt es, nicht Trennscharfes auch zu differenzieren. Marschieren und Schießen ist noch kein Krieg und auch die Konfliktforschung hält dies sehr genau auseinander. Entscheidend ist auch die völkerrechtliche Legitimierung durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates, ob Krieg auch Krieg genannt wird.
Auf die Trennschärfe kommt es bei Militäreinsätzen auch in der Europäischen Union an. Die EU verweist seit 2003 auf etwa 40 Auslandseinsätze. Ein Drittel sind Militäreinsätze (beispielsweise Tschad, Kongo oder am und um das Horn von Afrika), wobei rund 80 % des gesamten eingesetzten Personals aller EU-Auslandseinsätze auf Militärs entfallen. Die EU hatte 1999 den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Jugoslawien – die „humanitäre Intervention“ – als „notwendig und gerechtfertigt“ erklärt. Wenige Jahre später waren viele politische Akteure mit dem Begriff EU-battle groups wegen ihrer Bezeichnung unzufrieden. Die schon Jahrhunderte währende Debatte um den „gerechten Krieg“ lässt grüßen.
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) zählte im Jahr 2019 15 Kriege und 23 begrenzte Kriege. Von den insgesamt 358 Konflikten wurden nach dem Heidelberger Ansatz 196 gewaltsam ausgetragen, wobei die meisten nicht als Krieg definiert werden. Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Universität Hamburg listet im Vergleichszeitraum 27 Kriege und bewaffnete Konflikte auf.
Wo fängt Rüstung an …
Der Ausdruck Rüstung ist in offiziellen Dokumenten – sofern es um die eigene Politik geht – ein rarer Begriff geworden. Rüstung kann töten, sie verschlingt dringend anderswo benötigte Mittel, sie kann zur Destabilisierung beitragen, rechtliche Graubereiche und Korruption werden nicht selten damit verbunden und Transparenz gehört nicht zum allerersten Markenzeichen der Branche. So wird aus der Rüstungsindustrie im Handumdrehen die Verteidigungsindustrie. Rüsten tun nur die anderen.
Auf Basis des 2016 geschaffenen Europäischen Verteidigungs-Aktionsplans der EU-Kommission wurde 2017 der European Defence Fund ins Leben gerufen. Nach Ansicht der EU-Kommission soll dieser Verteidigungsfonds „den Mitgliedstaaten helfen, das Geld der Steuerzahler effizienter auszugeben“. Schwerpunkte sind dabei u.a. unbemannte Systeme, Satelliten, Marine und Drohnen.
… und wo hört Verteidigung auf?
Strengstens vermieden wird, diesen Milliardentopf als Rüstungsfonds zu bezeichnen. Erstens, weil es einer Friedensnobelpreisträgerin nicht geziemt, Waffenprogramme aufzulegen und zweitens, weil es die EU-Verträge verbieten. Der Vertrag von Lissabon untersagt die Finanzierung von Maßnahmen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen. Also wird aus dem EU-Rüstungsbudget einer für Industrie- und Wettbewerbsförderung. Neben dem EU-Rüstungsfonds arbeitet die European Defence Agency (EDA) seit 2004 und weist abgesteckte Kompetenzen im Bereich Rüstungsforschung, Rüstungsbeschaffung, Rüstungsplanung und Rüstungsexport auf. Rüstung heißt jedoch Verteidigung. Und Raider heißt jetzt Twix.
Die Auseinandersetzung um den Verteidigungsbegriff spielt eine fundamentale Rolle. Gemeinhin gilt die „Abwehr einer Aggression“ (so das „Wörterbuch zur Sicherheitspolitik“) als Verteidigung. Der Begriff wird in der politischen Debatte jedoch immer wieder zu einem Orwell’schen Begriff. Es geht um den öffentlich legitimeren Klang.
Die Verwendung des Verteidigungsbegriffes durch den deutschen Verteidigungsminister Peter Struck aus dem Jahr 2002 – „Die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt“ – hat in der Debatte zur Rechtfertigung militärischer Interventionen einen sehr festen Platz eingenommen. Wenig später – im Jahr 2003 – fand sich das Struck’sche Verteidigungsverständnis in der offiziellen EU-Sicherheitsstrategie: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“
Peace Facility
Die Dynamik im Bereich der EU-Militäreinsätze und der EU-Rüstungspolitik seit dem Jahr 2016 hat ein neues und weiteres Instrument in Kraft gesetzt. Bei der European Peace Facility reichen die landläufige Vorstellung von Friedensinstrument und deren festgelegte Aufgaben weit auseinander.
Finanziert werden mit diesem Instrument u. a. weltweite Militäreinsätze (ohne geographische Restriktionen) von Dritten, die im Interesse der EU sind. Das bedeutet Geld u. a. für Truppen, deren Infrastruktur, militärische technische Hilfe sowie Trainings. Durch die Peace Facility können zudem gemeinsame Kosten für EU-Militäreinsätze getragen werden. Dieses Instrument ersetzt kein nationales Budget und gelangt zusätzlich zu den Mitteln des EU-Rüstungsfonds zum Einsatz.
Mit der European Peace Facility hat die EU ein neues Instrument – in kreativer Ausnutzung aller Regeln der Kunst zur Finanzierung von Militär und Rüstung –, um Partner neben anderen Aufgaben bei Militäreinsätzen „flexibel“ (so der Auswärtige Dienst der EU) zu unterstützen. Da die Peace Facility über ein „off-EU budget“ verfügt, tritt sie auch mit dem EU-Vertrag nicht in Konflikt, der eine Finanzierung von Maßnahmen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen untersagt.
2 + 2 = 5
Einflussreich kann werden, wer Botschaften auf 280 Zeichen reduziert. Wer den Verteidigungsfonds doch Rüstungsfonds nennt, riskiert Missverständnisse in der Kommunikation. Wie weit ist in der Debatte, um das richtige Instrument zum Friedenmachen eine permanente Zurechtrückung der Begriffe unerlässlich? Oder soll man Fünf auch mal grade sein lassen?
Auch wo Zivil draufsteht, ist nicht überall ausschließlich Zivil drin. Die Herausbildung von Kapazitäten und die Reform der Sicherheitssektoren ist auch eine Verengung des als zumeist zivilen definierten Einsatzspektrums. Zivil ist mehr als die Reform von Polizei, Gemeindienst und Militär. Teile der heutigen Konzepte von Sicherheitssektorreform hätten zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes wohl unter dem Begriff der Militärhilfe firmiert. Tarnen und Täuschen gilt auch für die Kommunikation.
Thomas Roithner ist Friedensforscher, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund – Österreichischer Zweig. Sein Buch „Flinte, Faust und Friedensmacht. Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik Österreichs und der EU“ ist im Herbst 2020 bei myMorawa erschienen.
Titelbild: Stijn Swinnen auf Unsplash