Hohe Arbeitslosenzahlen, Unternehmensinsolvenzen, Anstieg von Depressionen, steigende Bildungsungleichheit durch Schulschließungen: Die Coronakrise betrifft nicht allein das Gesundheitswesen, sondern ist allumfassend. Deshalb sollten wir gemeinsam über die Konsequenzen der Krise diskutieren und gesamtgesellschaftliche Schlüsse ziehen. Ein „Corona-Bürgerrat“ wäre den Versuch wert.
Von Tamara Ehs
Der Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Gestaltung der Krisenbekämpfung ist eng begrenzt und ihr Erfahrungswissen wird kaum gehoben. In seiner Resolution zu den Auswirkungen der COVID-19-Maßnahmen auf Demokratie, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit forderte das Europäische Parlament vergangene Woche „die Mitgliedstaaten auf, bei der Ergreifung neuer Maßnahmen auf das Fachwissen eines breiten Spektrums von Experten und Interessengruppen, einschließlich nationaler Menschenrechtsinstitutionen, Ombudsstellen und der Zivilgesellschaft, zurückzugreifen und diese proaktiv zu konsultieren.“ Denn die fehlende Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Erstellung und nun vor allem in die Weiterentwicklung der Coronapolitik verpasst die Chance, auf Basis der kollektiven Erfahrung gemeinsame Entscheidungen zu treffen.
Gemäß Sozialpsychologie vertrauen wir unseren Mitmenschen desto eher, je mehr Gemeinsamkeiten wir mit ihnen teilen. Hohes Vertrauen macht es wiederum leichter, tiefgreifende politische Veränderungen anzustoßen. Deshalb ist auch für den langfristigen Erfolg der Pandemiebekämpfung soziales Vertrauen wichtiger als das big government einer augenscheinlich überforderten Regierung. Beteiligungsinstrumente wie Bürgerräte werden seit Jahren als probates Mittel eingesetzt, um gesellschaftlich schwierige Themen zu bearbeiten und das soziale Vertrauen zu stärken. Mittlerweile nehmen erste „Corona-Bürgerräte“ ihre Arbeit auf:
Im deutschen Augsburg tritt einmal im Monat der Bürgerbeirat Corona zusammen. Im britischen Bristol lief im Spätsommer die Bürgerbefragung Your City Our Future und Anfang 2021 wird ein Bürgerrat einberufen. Im französischen Grenoble tagt von November bis April das Comité de liaison citoyen COVID-19, ein Bürgerverbindungskomitée. Gemeinsam ist jenen Beteiligungsinstrumenten, dass die Teilnehmer_innen einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Ihre Aufgabe ist, die gewählten Amtsträger_innen darüber zu unterrichten, welche Auswirkungen deren Coronapolitik auf die Bevölkerung hat. Im Hinblick auf weitere geplante Pandemiebekämpfungsmaßnahmen obliegt es den Bürgerrät_innen, ihre Bedenken vorzutragen und eigene Vorschläge zu machen.
Auch für österreichische Städte und Gemeinden oder gar auf Bundesebene wäre es angeraten, gemeinsam mit den Bürger_innen über die Konsequenzen der Coronakrise zu beraten. Solch ein Bürgerrat könnte Handlungsempfehlungen formulieren, wie wir als offene Gesellschaft sozial gerecht mit den Verwerfungen und tiefen Einschnitten der vergangenen Monate umgehen.
Dieses Konzept der partizipativ-deliberativen Demokratie wird im Rahmen von Bürgerräten oder Citizens‘ Assemblies seit einigen Jahren weltweit erfolgreich verwirklicht; im großen Stil zum Beispiel in Irland, im Kleinen etwa in Vorarlberg. Ausgangspunkt des Prozesses ist die Lotterie: Ein Forschungsinstitut wird beauftragt, mittels qualifizierter Zufallsauswahl einen Minipopulus für die Bürgerversammlung zu erstellen – eine ausgewogene Mischung von Altersgruppen, Bildungshintergrund und sozioökonomischer Stellung, Geschlechterparität sowie Berücksichtigung von Migrationshintergrund und regionaler Diversität. Wie wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, erhöht die Einbeziehung gewöhnlicher Bürger_innen in den politischen Prozess sowie das transparente Verfahren das Vertrauen aller Einwohner_innen in die Politik.
Ein „Coronarat“ würde demnach die österreichische Bevölkerung abbilden und somit auch jenen Menschen Gehör verschaffen, die zwar in der ersten Akutphase der Coronakrise eifrig beklatscht wurden, denen darüber hinaus aber sehr wenig politische Aufmerksamkeit zukommt. Er würde die Menschen miteinander ins moderierte Gespräch bringen und sie befähigen, gemeinsam Empfehlungen zu erarbeiten, was letztlich zu einer besseren Politik führen sollte.
Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung. Dabei berät sie auch Städte und Gemeinden in partizipativen und konsultativen Prozessen. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments. Soeben ist ihr neuestes Buch „Krisendemokratie“ (Wien: Mandelbaum Verlag 2020) erschienen.
Titelbild: Jonas Jacobsson on Unsplash
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