Studie: NGOs sind am Flüchtlingselend nicht schuld

Indem man die Schuld den freiwilligen Helfern in die Schuhe schiebt, lenkt man von den eigenen Fehlern ab.

Von Max Aurel

Vor einem Monat veröffentlichten wir einen Faktencheck zu den Behauptungen  von Sebastian Kurz, rechtsextremen Blogs und des italienischen Anwalts Carmelo Zuccaro, wonach Seenotrettungen von Flüchtlingen durch NGOs Flüchtlingszahlen und Todesopfer vergrößern würden. Ergebnis der Analyse war, dass die Behauptung falsch ist, dass andere Faktoren, wie der Bürgerkrieg in Libyen, die Verfolgung und Misshandlung von Flüchtlingen, sowie die immer schlechter werdenden politischen und ökonomischen Umstände in einigen afrikanischen Staaten, wesentlich bedeutsamere Push-Faktoren sind. Forschungsergebnisse der University of London bestätigen dies nun mit tiefer gehenden Ergebnissen.

Den Helfern die Schuld geben

Die Untersuchung mit dem Titel „Blaming the Rescuers“ bezieht sich auf drei Behauptungen der EU-Grenzschutzbehörde Frontex, wonach:

  1. NGO-Rettungsaktionen einen Pull-Faktor darstellen, welcher mehr Flüchtlinge dazu motivieren soll, die Meeresüberquerung zu wagen.
  2. NGO-Rettungsaktionen unbeabsichtigt Kriminellen helfen, indem sie die Schlepper ermutigen, gefährlichere Taktiken und qualitativ schlechtere Boote zu verwenden.
  3. NGO-Rettungsaktionen daher die Meeresüberquerung für Flüchtlinge gefährlicher machen würden
  4. ___STEADY_PAYWALL___

Rettungsaktionen als Pull-Faktor?

Um das erste Argument zu entkräften, verwenden die Forscher die von Frontex selbst durchgeführten Risikoanalysen von 2015 und 2016, in dem die EU-Grenzschutzbehörde zugibt, dass die ökonomischen und politischen Krisen in Ost- und Westafrika für den Anstieg der Flüchtlingszahlen verantwortlich sind. So begann der Anstieg an afrikanischen Flüchtlingen bereits im Jahr 2015, bevor NGOs ihre Rettungsaktionen starteten. Des weiteren gab es im selben Zeitraum einen 46-prozentigen Anstieg an Flüchtlingsankünften auf der westlichen Mittelmeerroute (Marokko-Spanien), einem Gebiet, in dem auch heute keine NGOs aktiv sind. Doch obwohl diese Analysen von Frontex selber stammen, wurden sie nicht im Risikoanalysebericht 2017 aufgenommen. In diesem Bericht wurden die drei oben genannten Anschuldigungen gegenüber NGOs erwähnt. Die Abwesenheit der eigenen Daten und Fakten förderte den Forschern zufolge den „toxischen Narrativ“, der die Helfer als Schuldige ausmachen will.

Skrupellosere Taktiken der Schlepper?

Die Analyse geht auch der Behauptung nach, ob NGO-Rettungsaktionen daran Schuld seien, dass Schlepper immer skrupellosere Taktiken für die Überfahrt anwenden, wie z.B. die Verwendung instabiler Gummiboote anstatt von Holzschiffen, die Überladung jener Gummiboote, die Überquerung in den gefährlichen Wintermonaten oder eine ungenügende Betankung der Schiffe.

Die Verschlimmerung der Taktiken begann bereits 2013, Ende 2015 begannen die Schlepper dann vermehrt auf Gummiboote als auf Holzschiffe zu setzen. Dieser Strategiewechsel hatte nichts mit den NGOs zu tun, zum damaligen Zeitpunkt operierte lediglich ein einziges NGO-Schiff im südlichen Mittelmeer. Vielmehr hatte es mit der EU- Antischlepperinitiative zu tun, welche Ende 2015 in eine zweite Phase ihrer Operation eintrat. Die erste Phase dieser Mission bestand aus Beobachtung und Aufklärung, während Phase 2 darin bestand, Schlepperboote zu zerstören. Da Holzschiffe teurer sind und die Schlepper den möglichen Verlust klein halten wollten, setzten sie vermehrt auf Gummiboote, die kleiner und weniger stabil sind und dadurch eine größere Gefahr haben zu kentern.

Doch die EU-Mission war nicht der einzige Faktor, der zu eine Verschlimmerung der Taktiken führte. Der eskalierende libysche Bürgerkrieg trug seinen Teil dazu bei, indem er die Macht der Zentralregierung einschränkte und die der Warlords und Milizen vergrößerte. Diese Milizen begannen ab 2015 in den Menschenhandel und die „industrialisierte Schlepperei“ einzusteigen und konnten, ohne Gegenmaßnahmen oder Strafverfolgung durch die Regierung zu befürchten, ihre Profite im Menschenhandel enorm dadurch steigern, auf schlecht ausgerüstete Boote zu setzen.

Der geringe Einfluss der libyschen Zentralregierung beschränkt sich nicht nur auf den legislativen und regulativen Prozess, sondern auch auf die libysche Küstenwache, welche unabhängig vom Einfluss aus Tripolis agiert. Diese Küstenwache ist in sechs lokale Behörden eingeteilt, und besonders die westlichen Wachbehörden haben mit zwei Problemen zu kämpfen. Einerseits ist der große Einfluss der Milizen auch hier zu spüren, indem viele Kontrolleure und Küstenwache-Angestellte von den Schleppern einfach bestochen werden. Diese können daraufhin ungehindert in libysche Gewässer vordringen. Andererseits gibt es Stationen, die weniger von den Milizen unterwandert sind und von der EU finanziert werden, Migranten und Flüchtlinge bereits an der Küste abzufangen. Um die finanzielle Unterstützung zu rechtfertigen gehen diese Stationen mit besonderer Härte gegen die Flüchtlingsboote vor. Es wird berichtet, dass Beamte der Küstenwache auf Flüchtlingsboote mit scharfer Munition geschossen haben oder aus einem Boot den Motor entfernt haben und es mitsamt den Insassen auf dem Meer treiben zu lassen. Aus Angst vor finanziellen Verlusten setzen die Schlepper daraufhin auf schlecht ausgerüstete, kleine und völlig überladene Schiffe.

Machen NGOs die Überfahrt gefährlicher?

Abschließend behauptete Frontex, dass Rettungsaktionen der NGOs die Überfahrt für Flüchtlinge gefährlicher machen würden. Eine Behauptung, die ebenfalls nicht stimmt. Dazu verglichen die Forscher die Mortalitätsraten der Flüchtlinge mit der Präsenz der NGO-Rettungsschiffe. Es zeigt sich, dass in Monaten, in denen NGOs weniger aktiv sind (im Winter), die Mortalitätsrate erheblich höher ist als in Monaten, in denen NGOs aktiv sind. Die NGOs sind nicht die Treiber der Verschlimmerung der Schlepper-Taktiken, sie sind vielmehr eine Antwort darauf. Oft wurde auch kritisiert, dass NGOs zunehmend in der Nähe der libyschen Küste aktiv sind, doch laut der Analyse ist dieser Strategiewechsel notwendig geworden, weil die Schlepper immer rücksichtsloser und skrupelloser die Flüchtlinge auf viel zu kleinen Booten losfahren lassen. NGOs und ihre Rettungsaktionen machten die Überfahrt der Flüchtlinge also nicht gefährlicher, sondern im Gegenteil erheblich sicherer.

Ein klassisches Ablenkungsmanöver

Wie die Forscher der University of London feststellen konnten, stimmen alle drei Behauptungen der Grenzschutzbehörde Frontex nicht. NGOs machen die Überfahrt nicht gefährlicher, sondern sicherer. Sie waren auch nicht der Treiber hinter einem Wandel der Taktiken, das waren vor allem innerlibysche Faktoren (wie der Aufstieg der Milizen im Schleppereigeschäft) und die EU-eigene Anti-Schlepperei-Aktion EUNAVFOR MED, die durch die Strategie der Zerstörung der Boote der Katalysator für den Strategiewechsel war. Außerdem sind NGO-Rettungen nicht als Pull-Faktor erkennbar, die Push-Faktoren (ökonomische und politische Krisen in den Herkunftsländern sowie die chaotischen Zustände in Libyen) sind weitaus bedeutender. Außerdem merken die Autoren an, dass die Fixierung auf NGOs als Pull-Faktor einem moralischen Bankrott Europas gleichkommen würde. Durch die Benutzung dieses Arguments legitimiert die EU-Behörde “die Aussicht auf Ertrinken” als Abschreckungsmittel.

Die Autoren erkennen die Strategie dahinter, NGOs als Sündenböcke hinzustellen. Indem man die Schuld den freiwilligen Helfern in die Schuhe schiebt, lenkt man von den eigenen Fehlern ab. So wird angemerkt, dass die EUNAVFOR MED-Initiative mitentscheidend für den Strategiewechsel der Schlepper war und dass die EU-Mission Triton, welche das Ziel hatte die Grenzen zu sichern und Migranten vor der Überfahrt aufzuhalten, aufgrund immer steigender Flüchtlingszahlen offensichtlicher gescheitert ist.

Indem man NGOs die Schuld gibt und vom eigenen Versagen ablenkt, hält man sich die Optionen offen für “alternative Lösungsvorschläge”, die meist wenig mit Völkerrecht und anderen internationalen Verträgen kompatibel sind. So bringt die Agentur die Schließung der Atlantikroute immer wieder als “positives” Beispiel hervor, und behauptet, dass die Kooperation mit afrikanischen Staaten zur Grenzsicherung Erfolg gehabt hätte. Dabei zeigt sich, dass es auf dieser Route immer noch illegale Überfahrten und auch Todesopfer zu beklagen gibt, die “Schließung” der Route hatte zur Folge, dass andere Routen anvisiert wurden, vor allem die zentrale Mittelmeerroute.

Die langfristig folgenreichste Auswirkung dieser Attacken ist jedoch, die Kriminalisierung von Solidarität. Offensichtlich wollen einige Politiker, Organisationen und Anwälte nicht, dass die Zivilgesellschaft zusammenhält und Menschen in Notlagen unterstützt. Man sollte ihnen das Gegenteil beweisen, dass Solidarität in Zeiten von Klimawandel, steigender Ungleichheit und ausuferndem Individualismus nötiger ist als je zuvor.

Und wer jetzt motiviert ist, tatsächlich etwas zu bewegen; hier sind drei Organisationen, die jeden Tag im Mittelmeer Menschenleben retten:

Titelbild: Moonbird Airborne Operation / www.sea-watch.org, www.piloteninitiative.ch

 

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