Das Streben Kataloniens nach Unabhängigkeit von Spanien ist kein neues Phänomen. Seit Jahren wird darüber gesprochen. Nun stehen sich die Zentralregierung in Madrid und die Autonomieregierung in Barcelona scheinbar unversöhnlich gegenüber. Doch wie geht es weiter? Jörg Espelta von der deutschen Sektion der Assemblea Nacional Catalana (ANC), die für die Unabhängigkeit Kataloniens eintritt, hat dem Magazin Neue Debatte Fragen zur aktuellen Situation, der Rolle der EU und zu möglichen Entwicklungen beantwortet.
Herr Espelta, als das Volk in einem Referendum abstimmen sollte, ob die Unabhängigkeit vom Regionalparlament vorangetrieben werden soll oder nicht, antwortete die Zentralregierung in Madrid mit der Verhaftung von katalanischen Politikern, Polizei marschierte auf, Wähler wurden verprügelt. Erreicht wurde damit nichts. Das Referendum wurde abgehalten und die Unabhängigkeit scheint beschlossene Sache zu sein. Ebenso entschlossen wirkt Madrid, dies zu verhindern. Was würde nach Ihrer Meinung passieren, wenn die Zentralregierung das Regionalparlament in Barcelona entmachtet und Katalonien die Autonomierechte nach Verfassungsartikel 155 entzieht?
Wir erleben gerade, dass die Zentralregierung nicht bereit ist, auf die Inanspruchnahme des Artikels 155 zu verzichten, obwohl der katalanische Präsident bis zuletzt den Dialog angeboten hat und auch bereit war, vorgezogene Neuwahlen auszurufen. Die gegenwärtigen Pläne der spanischen Regierung sehen ja nicht nur vor, demokratisch gewählte Volksvertreter abzusetzen, sondern gehen noch viel weiter: Es sollen auch alle öffentlich-rechtlichen katalanischen Medien, die katalanische Polizei und sogar das Erziehungswesen unter spanische Zwangsverwaltung gestellt werden. Ein unerhörter Vorgang in einem EU-Mitgliedsstaat im Jahre 2017.
Wären diese Maßnahmen das Ende der Unabhängigkeitsbestrebungen?
Nein, im Gegenteil. Das Parlament wird als Reaktion darauf aller Voraussicht nach die Unabhängigkeit erklären. Dies wird unterstützt und mitgetragen durch die großen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen Òmnium Cultural und ANC (Katalanische Nationalversammlung), deren Vorsitzenden ja zurzeit in Madrid vorbeugend inhaftiert sind, was übrigens auch Amnesty International scharf anprangert.
Die Candidatura d’Unitat Popular (CUP) hatte Regionalpräsident Carles Puigdemont früh aufgefordert, die Unabhängigkeit in Kraft zu setzen und die katalanische Republik auszurufen. Er tat es nicht, sondern versuchte Zeit zu gewinnen für Verhandlungen. Wurde verhandelt?
Dies ist gegenwärtig schwierig zu beurteilen, allem Anschein nach hat die spanische Regierung alle Dialogangebote ausgeschlagen und auch die EU hat, anders als von vielen Katalanen erhofft, keine Vermittlerrolle übernehmen wollen.
Wenn man sich die nun aufgebaute Drohkulisse anschaut, die bis zur völligen Entmachtung des Regionalparlaments reicht, scheint Dialog ausgeschlossen. Oder sehen sie noch Spielraum?
Vorgezogene Neuwahlen hätten, wenngleich von den Parteien Esquerra Republicana de Catalunya und CUP abgelehnt, möglicherweise ein Weg aus dem Dilemma sein können. Nach der Blockadehaltung Spaniens sehen viele Katalanen nun erst recht keinen anderen Weg als die einseitige Erklärung der Unabhängigkeit (Anm.: Declaració Unilateral d’Independència, DUI).
Es wurde in den deutschen Medien oft betont, dass Katalonien mit seinen rund 7,5 Millionen Einwohnern zwar nur 16 Prozent der spanischen Bevölkerung stellt, aber knapp 20 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das hinterlässt den Eindruck, die Unabhängigkeit diene dazu, wirtschaftlich schwächeren Regionen nichts abzugeben. Ist das so?
Bedauerlicherweise ist dies tatsächlich ein in der deutschen Medienlandschaft gerne vermitteltes Bild. Es ist jedoch so, dass Spanien kein föderalistischer Staat ist und es keinen geregelten Länderfinanzausgleich gibt. Dieser ist zwar auch in Deutschland steter Zankapfel, funktioniert jedoch und wird verhandelt. Anders als etwa das Baskenland, auch eine wirtschaftlich florierende Region, darf Katalonien seine Steuern etwa nicht selbst erheben. Die Katalanen sind sehr solidarisch und auch überzeugte Europäer – eine Unterstützung strukturschwächerer Regionen in Spanien und Europa wäre selbstverständlich.
Welche Rolle spielen die wirtschaftlichen Interessen jetzt noch?
Viel stärker als die zu Recht geforderten überfälligen Investitionen in das katalanische Gesundheits- und Bildungssystem sowie das Verkehrswegenetz wiegt meiner Ansicht nach die fehlende Rechtssicherheit für viele Katalanen. Sie müssen sich vorstellen, dass in den vergangenen zwei Jahren mehr als 32 Gesetze und Verordnungen, die das katalanische Parlament im Rahmen seiner Autonomie erlassen hat, postwendend von Madrid kassiert oder im Rahmen einer Prüfung auf Verfassungskonformität ausgesetzt wurden. Dies reicht von existenzsichernden Maßnahmen für finanziell Schwächere wie das sogenannte Gesetz zur Verhinderung der Energiearmut, über die Besteuerung von Nuklearenergie, das Fracking-Verbot und andere Gesetze.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte geäußert, er würde einen Dominoeffekt befürchten, wenn Katalonien unabhängig wird. Können Sie das nachvollziehen?
Ich kann Herrn Junckers Furcht vor Kontrollverlust im Sinne einer Veränderung des Status quo nachvollziehen, denn in Katalonien vollzieht sich gerade eine friedliche Revolution, die natürlich zunächst einmal die Verhältnisse auf den Kopf stellt. Jedoch sollte man vielleicht das ureuropäische Konzept des Europas der Regionen wiederbeleben, dann könnte man diesen Prozess auch als die überfällige Chance zur Demokratisierung der EU begreifen. Dann verlieren auch potenzielle Nachahmer den Schrecken. Trotzdem muss man sehen, dass die Lage in Spanien mit seinen systemimmanenten Demokratiedefiziten kaum mit der in anderen EU-Mitgliedsstaaten zu vergleichen ist.
Puigdemont hatte die EU um Vermittlung gebeten, aber die Zentralregierung hatte Gespräche abgelehnt. Hätte die Europäische Union mehr auf Madrid einwirken müssen?
In der Tat wäre es wünschenswert, wenn die EU überhaupt eine Vermittlerrolle eingenommen hätte, anstatt der spanischen Regierung ostentativ zur Seite zu stehen. Es ist für ein so europabegeistertes Volk wie die Katalanen nicht nachvollziehbar, dass demokratische Grundrechte von der EU immer nur mit Blick gen Osten eingefordert werden. Noch dazu weiß man ja aus bitterer Erfahrung, dass die Troika im Namen der Austerität auch in intimste Belange der Schuldnerstaaten hineinregiert.
Eine abschließende Frage. Welche Lehren ziehen Sie zum jetzigen Zeitpunkt aus der Causa Katalonien?
Vor allem, dass gesellschaftliches Engagement etwas verändern kann. Man muss ja sehen, dass die Unabhängigkeitsbewegung nicht von Parteien gelenkt ist, sondern in erster Linie von Bürgerinitiativen wie der Katalanischen Nationalversammlung friedlich und in Graswurzelmanier organisiert ist. Dies lässt für die Demokratie hoffen.
Informationen zur Bewegung ANC: Assemblea Nacional Catalana ist eine Aktivistengruppe, deren Ziel die Unabhängigkeit der Autonomen Gemeinschaft Katalonien von Spanien ist. Sie wurde im März 2012 in Barcelona gegründet. Präsident ist seit Mai 2015 Jordi Sànchez. Er sitzt zurzeit in Untersuchungshaft. Sànchez wird des Aufrufs zum Aufstand beschuldigt im Zusammenhang mit der spontanen Demonstration vor dem katalanischen Wirtschaftsministerium am 20. September, als die spanische Militärpolizei Guardia Civil in einer Großaktion mehrere Institutionen durchsuchte und 15 Beamte vorübergehend festnahm. Auch in Haft befindet sich Jordi Cuixart von Omnium Cultural. Die erste großangelegte Aktion der ANC begann Ende Juni 2012 unter dem Motto „Der Weg in die Unabhängigkeit“. An der Großkundgebung „Katalonien, neuer Staat in Europa“ am 11. September 2012 in Barcelona nahmen 1,5 Millionen Menschen teil. Aus dieser Demonstration und den Ergebnissen verschiedener Meinungsumfragen wurde die Existenz einer bürgerlichen Mehrheit für die Unabhängigkeit abgeleitet. Die katalanischen Parteien reagierten darauf mit der Einleitung von Schritte für einen unabhängigen Staat.
Der Beitrag erschien zuerst auf Neue Debatte, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Titelbild: Via Laietana (Foto: Josep Renalias Lohen11; Lizenz: CC BY-SA 3.0)