Arbeit 4.0: Methoden des 21. Jahrhunderts für Zustände des 19. Jahrhunderts

Von Michael Lohmeyer, Redakteur der „Die Presse“, Vorsitzender des Betriebsrats und des Konzernbetriebsrats der Styria Media Group AG (u. a. „Kleine Zeitung“, „Wienerin“, „Furche“, „Vecernji List“, „24sata“) sowie Mitglied des Präsidiums der Journalistengewerkschaft und des Beirats für Arbeit und Technik (BAT) in der GPA-djp.

Michael Lohmeyer ist Redakteur der „Die Presse“, Vorsitzender des Betriebsrats und des Konzernbetriebsrats der Styria Media Group AG (u. a. „Kleine Zeitung“, „Wienerin“, „Furche“, „Vecernji List“, „24sata“) sowie Mitglied des Präsidiums der Journalistengewerkschaft und des Beirats für Arbeit und Technik (BAT) in der GPA-djp. (Foto: awblog.at)

„Arbeit 4.0“. Kaum ein Begriff, der so oft durch die Schlagzeilen gejagt wird. Und meistens sind es Bilder der Unabdingbarkeit, die an die Wand gemalt werden. Vorstellungen, an deren Ende die ach so behäbigen Gewerkschafter*innen aufgefordert werden, endlich einmal in der Wirklichkeit anzukommen und sich von sozialromantischen Forderungen zu verabschieden. Hinter „Arbeit 4.0“ lugt immer auch ein anderer Slogan hervor: „Seid doch flexibel!“

Jörg Flecker, Professor am Institut für Soziologie an der Universität Wien, wird bei solchen Zugängen nicht hellhörig. Er wird kämpferisch: „Es stimmt doch nicht: Technik folgt nicht einer ihr innewohnenden Logik. Technik wird gestaltet.“ Es war in den 1960er-Jahren, als US-Behörden gegen den damals marktbeherrschenden Elektronikriesen IBM (International Business Machines) zu ermitteln begannen. Der amerikanische Konzern kontrollierte damals mehr als zwei Drittel des Marktes von Hard- und Software. Das Verfahren sollte sich bis in die 1990er-Jahre ziehen. Es gilt als eines der Beispiele, mit denen die Marktmacht beschränkt worden ist. „Es war eine politische Entscheidung“, berichtet Flecker auf einer Konferenz, die vor Kurzem von der Arbeiterkammer, dem Beirat für Arbeit und Technik (BAT) der GPA-djp in Wien und FORBA (Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt) organisiert worden ist. „Heute ist es selbstverständlich, dass Software des einen Unternehmens mit der Hardware eines anderen kompatibel ist. Darauf verschwendet heute niemand mehr einen Gedanken.“ Was selbstverständlich erscheint, war tatsächlich Ergebnis einer entschlossenen Handlung. Sehr entschlossen: Das Transskript der Gerichtsbegegnungen von „U.S. vs. IBM“ umfasst 104.400 Seiten, berichten einschlägige Fachmagazine.

Technik wird gestaltet – aber von wem?

In der gegenwärtigen Diskussion um Digitalisierung wird oft so getan, als gäbe es diese Gestaltungsmöglichkeiten nicht. Uber oder Airbnb sind Beispiele dafür. Wenn die Gesellschaft bzw. die Regierungen nicht entscheiden, dann entscheiden eben die Firmen. Denn, so Flecker: „Die Macht zur Entscheidung eröffnet auch die Tü, Parameter zu seinen Gunsten zu verschieben. Es sieht momentan ganz danach aus, dass mit den Methoden des 21. Jahrhunderts die Arbeitswelt auf Zustände des 19. Jahrhunderts zurückgedreht werden soll.“

Eva Angerler, Expertin des Beirats für Arbeit und Technik (BAT), steht noch immer unter dem Eindruck einer Konferenz der deutschen Gewerkschaft „verdi“, auf der unter anderem ein Experte über die Entwicklungen in China berichtet hat. Da werden die Gehirnströme von Schüler*innen gescannet, um herauszufinden, wer sich dem Unterricht mit voller Aufmerksamkeit widmet und wer mit den Gedanken offenbar abschweift. Die Gedanken werden noch nicht enthüllt, wohl aber Aufmerksamkeits-Levels errechnet. Die algorithmischen Auswertungen werden dann den Eltern übermittelt.

Digitalisierung ist kein Naturereignis

Es ist also hoch an der Zeit, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Digitalisierung ist kein Naturereignis. In die Hand nehmen, ja. Aber wie? Noch einmal Jörg Flecker: „Digitalisierung kann gestaltet werden. Dieser Anspruch muss aufrecht bleiben. Digitalisierung ist nicht mehr als ein Mittel. Aber wir wollen zunächst einmal die Ziele diskutieren.“

Es ist nicht die Stunde der Ohnmacht angesichts des schier überwältigenden Tempos von Entwicklungen, es ist die Stunde der grundsätzlichen Fragen. Die bringen Gewerkschaften aufs Tapet, die muss sich die Gesellschaft stellen, und das hat seinen Niederschlag in der Politik und letztlich in der Gesetzgebung zu finden.

Die Fragen könnten etwa lauten: Wie schaut unsere Welt aus, wenn wir bei dieser Beschleunigung so weitermachen wie bisher? Oder: Wie gehen die Leute mit dem Handy um, wie mit Daten?

Es mag wohl auch Ausdruck dieser Ohnmacht sein, dass viele Menschen freiwillig mitmachen und denen den Rücken stärken, die mit ihren Daten Geschäfte machen und mit der Philosophie „Always on“ die Entwicklung und die Verschiebung der Grenzen vorantreiben.

Aus Kleinigkeiten werden Erwartungshaltungen

Es ist kein Zufall, wenn das harmlos um die Ecke kommt: Ach, bloß eine E-Mail am Abend gelesen und beantwortet. Waren doch nur zehn Minuten, die ich vor dem Laptop gesessen bin. Was als Kleinigkeit beginnt, wird zur Erwartungshaltung, die letztlich auch in der Änderung von Gesetzen Niederschlag findet.

Schauen wir uns um: In der Schweiz oder in Belgien haben Arbeitnehmer*innen Anspruch auf mindestens 20 Urlaubstage, in Österreich auf 25, in Finnland oder Frankreich auf 30. Kanada 10, Indien 12. Um nur einige Beispiele zu nennen, die sich beinahe endlos fortsetzen ließen. Was lässt sich daraus ableiten – ob Urlaub, Arbeitszeit oder Karenzzeiten: lauter Ergebnisse von Verhandlungen, Entscheidungen, die getroffen worden sind.

Warum soll das ausgerechnet bei der Digitalisierung anders funktionieren? Gerade da ist es notwendiger denn je. Natürlich, es geht um arbeitsrechtliche Fragen. Aber es geht auch um die Richtung, in die sich eine Gesellschaft entwickelt.

Schauen wir uns einmal Dr. Watson an. Wir begegnen – jetzt am Ende unserer Betrachtungen – erneut dem Elektronikriesen IBM, der in all den Jahrzehnten gebeutelt und gerüttelt worden ist, aber überlebt hat. Watson ist ein Supercomputer, der nicht einen riesigen und ständig wachsenden Bestand an Daten analysiert, sondern auf konkret formulierte Fragen Antwortmöglichkeiten verknüpft und dann Antworten gibt.

Mit künstlicher Intelligenz werden Krankheitsverläufe mit Medikamentendosen, chirurgische Eingriffe mit Reha-Maßnahmen und Heilungsansätzen verknüpft. Einmal fertig, soll er Anamnesen in Sekundenbruchteilen analysieren und die Behandlung vorschlagen. Theoretisch werde natürlich „immer der Arzt entscheiden“, heißt es immer wieder. Aber wie viel sind Erfahrung und Einschätzung, Gefühl und Intuition eines Menschen noch wert, wenn ihm die geballte Macht von Abermillionen von Krankheitsgeschichten, Beipackzetteln und anderen Daten gegenüberstehen, die – dank Algorithmen – keine Zweifel offenlassen? Was geht Menschen durch den Kopf, wenn sich die ärztliche Diagnose dem Computer unterordnet? Was spielt sich ab, wenn der Mensch die statistisch wahrscheinlichste Behandlung in den Wind schlägt? Welchen Preis hat der Mut, künstliche Intelligenz zu ignorieren? Und welche juristischen Folgen?

Wir müssen nachdenken. Vordenken. Reden. Und zwar rasch!

Ein Blick in die Akten zum Antitrust-Verfahren gegen IBM: https://sco-vs-ibm.org/us-ibm.html.

 

Dieser Beitrag wurde am 18.07.2019 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: pxhere.com; CC0 Public Domain

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