Deutschlands Außenminister Heiko Maas versichert, dass die Türkei auch weiterhin deutsches Kriegsgerät geliefert bekommt
Von Klaus Hecker
Nein, das stimmt doch gar nicht. Haben nicht gerade Deutschland und zwei weitere EU Staaten angeordnet, dass Waffenlieferungen an die Türkei gestoppt werden. Genau, das haben sie. Aber bitte genau lesen. Es heißt künftige Waffenlieferungen, aber doch nicht die bereits vertraglich vereinbarten, aber noch nicht gelieferten. Zudem heißt es, dass künftig nur solche Waffen nicht geliefert werden, welche in Syrien eingesetzt werden könnten. Ironisch gesprochen wird den Waffen hier Subjektcharakter angedichtet. Die ballern nicht einfach von selbst, wenn man draufdrückt, sondern haben einen inneren Kompass nichts auszuspucken, wenn sie ahnen, sich in Nordsyrien zu befinden. Desgleichen Panzer: Wird der Panzer über einen bestimmten westlichen Breitengrad hinausgefahren, macht der unversehens eine Vollbremsung und legt selbstständig den Rückwärtsgang ein. (german-foreign-policy.com)
Die Flüchtlingsfrage ist der Schlüssel für die Positionierung Deutschlands in der Kriegsfrage Nordsyrien und zu der Türkei
So zeugt die scheinbar harsche EU-Erklärung gegen die Türkei von einer nicht gerade getragenen Begeisterung für dieses türkische Manöver, aber auch von einem Persilschein für die Türkei. Gerade Deutschland kooperiert eng mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage zusammen und hat überhaupt kein Interesse, dass Erdogan die Schleusen für die in der Türkei gestapelten Flüchtlinge öffnet. Allein schon die gewaltige Reisetätigkeit deutscher Diplomaten in die Türkei zur Sicherung, sprich Aufbewahrung, der imperialistischen Kollateralschäden in der Türkei zeigt, welche Bedeutung dieser Angelegenheit beigemessen wird. In der Kriegsfrage Nordsyrien ist das deutsche Anliegen erfüllt, wenn aus dem Sitzungssaal mal ein wenig Unmut in die Türkei runtergerufen wird. Dem Kettenhund wird traditionell ein gewisser Aktionsradius um die eigene Hütte herum zugestanden, auch wenn man sich das hässliche Gekläffe, welches dabei entsteht, nicht herbei gewünscht hat.
Trump – der Suppenkasper mächtiger US-amerikanischer Interessen
Anders sieht das schon bei den USA und dem so gescholtenen Trump aus: Eine mächtige Meinungsfront, z.B. auch die nicht von Haus aus im Trumplager beheimatete Washington Post befürwortet den US-amerikanischen Abzug und die damit faktisch zum Abschuss freigegebenen syrischen Kurden. Zugleich ist dies Übereinstimmung zu Trump mit dem Vorwurf der ungeschickten Durchführung des gemeinsamen Zieles verbunden.
„Flüchtig betrachtet mag es so aussehen, als ob Trump die Geopolitik der USA torpedieren würde, doch ein Blick hinter die derzeitige Empörung schafft schnell Klarheit – dies vor allem bei der Berücksichtigung der Situation Ende 2018, als der zunehmend erratisch handelnde US-Präsident noch ein letztes Mal davon abgehalten werden konnte, die Kurden Syriens Erdogan als Beute vorzuwerfen. Auf den zweiten Blick wird nämlich sehr schnell klar, dass der Präsident und das geopolitische Establishment Washingtons in der Syrienfrage gar nicht so weit voneinander entfernt liegen. Die Washington Post bemerkte etwa am 27. Dezember 2018, dass der Rückzug „im Kern korrekt“ sei. (heise.de)
Das US-Portal foreign policy präzisierte, dass Trump – „wie üblich“ – auf die falsche Art und Weise das Richtige mache. Syrien sei angesichts der Verwüstungen im Land „kein großer Preis“ mehr, so dass es sich eher zu einem „kostspieligen Sumpf“ für „Russland, Iran, Hisbollah, Türkei und sonstige Akteure“ entwickeln dürfte, die nun um Einfluss in der Region kämpften. Das strategische Interesse der USA bestehe darin, den Öl- und Gasexport aus der Region zu gewährleisten. Dies könne aber auch dadurch erreicht werden, dass die USA dabei helfen, „zu verhindern, dass ein Staat die ganze Region übernimmt“.
Dass für den Öl- und Gasexport eine militärische Präsenz nicht unter den gegebenen Konstellationen nicht zwingend vorhanden sein muss, ist nachvollziehbar. Wie aber das US-amerikanische Eindämmungsprogramm Russland gegenüber einzuschätzen ist, wenn die eigenen Truppen selbst nicht mehr vorhanden sind, umgekehrt Russland in Gestalt von Assad an Einfluss gewinnt, ist, klärungsbedürftig?
Rojava – selbstverwaltete, links-emanzipative Region
Medico international unterstützt vor Ort die freie Provinz Rojava und bemüht sich vor Ort mit praktischer Hilfe für die emanzipatorischen Ziele (von Frauenemanzipation bis zu geänderten Bildungsinhalten, noch bis jetzt wurde nirgends sonstwo kurdisch neben arabisch als Lehrinhalt eingeführt) und in Europa für den so völlig anders gearteten Gesellschaftsansatz (auch dem friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben unterschiedlichster Volksgruppen) Unterstützung zu finden.
Damit ist es jetzt vorbei: Tod, Elend Vertreibung stehen auf der Tagesordnung. Kommandeur Mazloum Abdi spricht von einem drohenden Genozid und liegt damit wohl leider richtig.
Den Anfang und die sich stündlich steigernden Aktivitäten in diese Richtung kann man sogar mit Hilfe etablierter Medien verfolgen. Nur ein Beispiel, dass nicht nur aus der Luft und aus den heranrückenden Panzern geballert wird. Die bekannte 35-jährige kurdische Politikerin und Frauenrechtlerin Hevrin Khalaf ist auf offener Straße an einem Kontrollpunkt regelrecht hingerichtet worden. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kündigte an, die Region „von Terroristen zu säubern“. Die Türkei betrachtet die Syrischen Demokratischen Kräfte offen als Terrororganisation. Die Bedrohungslage für das Modell Rojava ist mehr als gewaltig.
Das Abkommen Assad – Rojava
Einer der führenden kurdischen Kommandeure Mazloum Abdi hat dieser Tage in dem US-amerikanischen Magazin foreign policy den – für manch einen unverständlichen – Hilferuf der syrischen Kurden an Feind Assad erläutert. Die Überschrift lautet:
„If We Have to Choose Between Compromise and Genocide, We Will Choose Our People. The Kurds’ commander in chief explains why his forces are finally ready to partner with Assad and Putin.“ (by Mazloum Abdi| October 13, 2019. – foreignpolicy.com)
Die Rolle Russlands und seiner Machtpolitik lässt sich sicher schon einmal damit umreißen, dass Assad im Norden Syriens gegen die renitenten Kurden mit ihrer nur zu erfolgreichen autonomen Provinz nicht nur an Einfluss gewinnt, sondern sich dort als Hausherr etablieren kann. Der drohende Untergang des kurdischen, emanzipatorischen Selbstverwaltungsprogrammes wird nun einseitig der Türkei zugeschrieben, seine, Assads, Abservierungspolitik darf als versuchtes kurdisches Rettungsprogrammes verkauft werden.
Möglicherweise ist das schon die ganze russische Kalkulation, die ja eine bedeutende Stärkung des Verbündeten Assads beinhaltet und damit die westliche Offensive Russland noch vom letzten Zugang zum Mittelmeer zu vertreiben, erheblich erschweren wird.
Zu diesem Komplex, vor allem, wenn man noch beleuchten will, welche Rolle der Iran und die libanesische Hisbollah spielt, gibt es noch einiges zu sagen. Da fühle ich mich allerdings nicht wirklich gewappnet und bitte Leser in der Kommentarfunktion weiterführende Ideen einzubringen bzw. anzudenken.
Widerstand und Demonstrationen
Erfreulicherweise rufen diverse Gruppen in Deutschland und Österreich zu Demonstrationen gegen den türkischen Überfall auf Nordsyrien auf. Eine Internationale Kampagne (32 Organisationen in 18 Ländern) zur Verteidigung der Rojava Revolution und ihrer Errungenschaften findet man unter : riseup4rojava.org
„Die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Zusammenarbeit zwischen der Türkei, den USA, der NATO und den europäischen Statten muss aufgedeckt und politisch angegriffen werden“.
Klaus Hecker, geb. 08.09.1954 in Wetzlar, dort 1973 Abitur. Studium Der Fächer Deutsch, Politik, Philosophie für das Lehramt an Gymnasien. Von 1985 – 2017 Gymnasiallehrer an der Carl-Strehl-Schule (Deutsche Blindenstudienanstalt), einem Gymnasium für Sehbehinderte und Blinde. Als politischer engagierter Mensch hat er Zeit seines Lebens in vielen sozialen Initiativen gearbeitet und tut das immer noch. Seine große Liebe gilt den Alpen, im Sommer und im Winter, und als DAV-Fachübungsleiter „Skibergsteigen“ führt er so einige Gruppen durch die Berge.
Titelbild: TCG Oruç Reis (F 245) der Türkischen Marine, gebaut und ausgestattet von Blohm + Voss Hamburg. (commons.wikimedia.org; Joost J. Bakker from IJmuiden; Lizenz: CC BY 2.0)