Europa wird seine Ziele für 2030 nicht erreichen, wenn es in den nächsten zehn Jahren nicht dringend gebotene Maßnahmen gegen den alarmierenden Rückgang der Artenvielfalt, die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und den übermäßigen Verbrauch natürlicher Ressourcen ergreift, so der Umwelt-Bericht der Europäischen Umweltagentur.
Von R. Manoutschehri
Europa wird seine Ziele für 2030 nicht erreichen, wenn es in den nächsten zehn Jahren nicht dringend gebotene Maßnahmen gegen den alarmierenden Rückgang der Artenvielfalt, die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und den übermäßigen Verbrauch natürlicher Ressourcen ergreift. Der am Mittwoch parallel zur Weltklimakonferenz veröffentlichte Fünf-Jahres-Bericht zum „Zustand der Umwelt“ (SOER 2020) der Europäischen Umweltagentur (EEA) stellt fest, dass Europa im Umweltbereich vor Herausforderungen von nie da gewesener Größenordnung und Dringlichkeit steht.
Europa wird seine Nachhaltigkeitsvision „gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“ nicht verwirklichen, wenn es weiterhin hauptsächlich auf Förderung von Wirtschaftswachstum und Eindämmung der damit verbundenen schädlichen ökologischen und sozialen Nebeneffekte setzt. Umwelt- und Klimaprobleme müssten besser und völlig anders angegangen werden sowie seine Investitionen überdenken. Chancen bieten hingegen gestiegenes öffentliches Bewusstsein für Nachhaltigkeit, technologische Innovationen, wachsende Gemeinschaftsinitiativen und neue EU-Initiativen.
Hans Bruyninckx, Exekutivdirektor der EEA in einem Begleit-Statement:
„Die Umwelt Europas befindet sich an einem Scheidepunkt. Wir haben in den nächsten zehn Jahren ein enges Zeitfenster, um Maßnahmen zum Schutz der Natur auszuweiten, Auswirkungen des Klimawandels zu verringern und unseren Verbrauch an natürlichen Ressourcen drastisch zu reduzieren. Unsere Bewertung zeigt, dass schrittweise Änderungen in einigen Bereichen zu Fortschritten geführt haben, aber nicht annähernd ausreichen, um unsere langfristigen Ziele zu erreichen. Wir verfügen bereits über das Wissen, die Technologien und die Instrumente, die wir brauchen, um wichtige Produktions- und Konsumsysteme wie Ernährung, Mobilität und Energie nachhaltig zu gestalten. Unser künftiges Wohlergehen und unser Wohlstand hängen entscheidend von der Umsetzung dieses Wissen ab. Ausserdem muss die ganze Gesellschaft dafür gewonnen werden, solche Veränderungen herbeizuführen und eine bessere Zukunft zu gestalten.“
5 verstrichene Jahre, Ziele 2020 gescheitert, Zukunft ungewiss
Insgesamt haben sich die Umwelttrends in Europa seit dem letzten Umweltbericht der EEA von 2015 nicht verbessert. Die meisten Ziele für 2020, insbesondere im Bereich der biologischen Vielfalt, werden nicht erreicht. Europa hat zwar bedeutende Erfolge bei der Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft erzielt, doch die jüngsten Entwicklungen deuten auf eine Verlangsamung des Fortschritts in Bereichen wie der Reduzierung der Treibhausgasemissionen, der Industrieemissionen und des Abfallaufkommens sowie der Steigerung der Energieeffizienz und des Anteils erneuerbarer Energien hin.
Die Auswirkungen des Klimawandels, der Luftverschmutzung und der Lärmbelastung auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit geben nach wie vor Anlass zur Sorge. Mit Blick auf die Zukunft wird das aktuelle Tempo der Fortschritte nicht ausreichen, um die Klima- und Energieziele für 2030 und 2050 zu erreichen.
Eckdaten des Zustandsberichts
Der Anteil erneuerbarer Energiequellen am Endenergieverbrauch ist stetig bis auf einen Wert von 17,5 % im Jahr 2017 gestiegen. Die jüngsten Trends sind jedoch nicht so positiv. So ist etwa der Endenergieverbrauch seit 2014 ebenso wieder angestiegen, wie die Emissionen aus Verkehr und Landwirtschaft. Die Bemühungen zur Verringerung der Umweltbelastungen durch Wirtschaftssektoren mittels Umweltintegration haben sich als nicht erfolgreich erwiesen. 2030 werden die Treibhausgas-Emissionen rund 4000 Megatonnen CO2 erreichen.
Die Exposition gegenüber Feinstaub ist für jährlich rund 400.000 vorzeitige Todesfälle in Europa verantwortlich, wobei die mittel- und osteuropäischen Länder überproportional betroffen sind. Fast 20 % der städtischen Bevölkerung in der EU lebt in Gebieten mit einer Konzentration von Luftschadstoffen, die zumindest eine der EU-Luftqualitätsnormen übersteigt. Die Luftverschmutzung beeinträchtigt weiterhin Biodiversität und Ökosysteme und 62 % der europäischen Ökosystemflächen leiden unter einem überhöhten Stickstoffgehalt, was zur Eutrophierung führt.
Die Fortschritte beim Schutz und der Erhaltung der biologischen Vielfalt und der Natur in Europa sind ebenfalls wenig ermutigend. Die Bestände einiger Arten konnten sich zwar erholen, doch von den 13 spezifischen Politikzielen für 2020 in diesem Bereich werden vermutlich nur die Ausweisung von Schutzgebieten auf den Meeren und an Land erreicht. Nur ein kleiner Teil der geschützten Arten (23 %) und Lebensräume (16 %) sind in einem befriedigenden Erhaltungszustand.
Die Wasserqualität konnte durch geringere Schadstoffeinträge zwar verbessert werden, wobei die Qualität des Trinkwassers und der Badegewässer in ganz Europa generell auf hohem Niveau ist. Die EU ist jedoch noch weit davon entfernt, dass alle Gewässer bis 2020 einen guten ökologischen Zustand erreichen. Das Landmanagement hat sich verbessert, die Fragmentierung der Landschaft nimmt jedoch weiter zu, worunter Lebensräume und Biodiversität leiden.
Verkehr, Industrie und Energieproduktion sowie Landwirtschaft und auch Fischerei werden weiterhin zu einem Verlust an Biodiversität, zur Ausbeutung von Ressourcen und zu schädlichen Emissionen sowie weiterer Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden führen. Zunehmende Besorgnis besteht auch im Hinblick auf gefährliche Chemikalien und umweltbedingte Gesundheitsrisiken, die nur durch bessere Integration von Umwelt- und Gesundheitspolitik verbessert werden können.
Klimawandel verstärkt negative Entwicklungen
Die Beschleunigung des Klimawandels wird zudem erhöhte Risiken für gefährdete Gruppen mit sich bringen. Auswirkungen können sich aus Hitzewellen, Waldbränden, Überflutungen und aus sich ändernden Mustern bei der Verbreitung von Infektionskrankheiten ergeben. Umweltbedingte Risiken betreffen nicht jede Person in gleichem Ausmaß. Es gibt in Europa bedeutende lokale und regionale Unterschiede hinsichtlich der sozialen Verwundbarkeit und der Exposition gegenüber umweltbedingten Gefahren für die Gesundheit. Insgesamt seien die Aussichten für die Verringerung umweltbedingter Risiken für die Gesundheit und das Wohlbefinden ungewiss, analysiert der sechste EEA-Bericht seit 1995.
Vielleicht der wichtigste Grund für die anhaltenden umwelt- und klimabezogenen Herausforderungen in Europa ist ihre enge Verknüpfung mit wirtschaftlichen Aktivitäten und Lebensstilen. Dies betrifft inbesondere die Bereiche Ernährung, Energie und Mobilität. So sind gesellschaftliche Ressourcennutzung und Umweltverschmutzung in komplexer Weise mit Arbeitsplätzen und Einkommen in der gesamten Wertschöpfungskette verbunden.
Andere wichtige Einflussfaktoren sind Investitionen in Infrastruktur, Technik, Bildung und Wissen; Verhaltensweisen und Lebensstile, sowie Politik und Institutionen. Die umfassende Verflechtung innerhalb und zwischen gesellschaftlichen Systemen bedeutet, dass einem schnellen und weitreichenden Wandel, der zur Erreichung der langfristigen Nachhaltigkeitsziele Europas nötig ist, oftmals große Hürden entgegenstehen.
Wie die Ziele für 2030 und 2050 noch erreicht werden können
Europa kann seine Vision von einer kohlenstoffarmen und nachhaltigen Zukunft aber durchaus noch verwirklichen. Der Bericht nennt sieben Schlüsselbereiche, in denen in den kommenden 10 Jahren mutige Maßnahmen erforderlich sind, um die Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und des Klimaabkommens von Paris zu erreichen:
Umweltrecht-Potenzial erschließen: Eine umfassende Umsetzung der bestehenden Umweltregelungen würde Europa auf dem Weg zu seinen Zielen für das Jahr 2030 wesentlich voranbringen.
Nachhaltigkeit als Rahmen für die Politik: Zusätzlichen langfristigen, übergeordneten Strategien mit verbindlichen Zielen, zum Beispiel in den Bereichen Ernährung, Chemikalien und Landnutzung, kommt eine zentrale Rolle zu. Solche Stategien ermöglichen kohärente Maßnahmen über unterschiedliche Politikbereiche hinweg und können auch als Orientierung für gesellschaftliche Veränderungen dienen.
Internationale Nachhaltigkeits-Maßnahmen: Die EU sollte ihren Einfluss auf diplomatischer und wirtschaftlicher Ebene zur Förderung ehrgeiziger internationaler Vereinbarungen in Bereichen wie Biodiversität und Ressourcennutzung geltend machen.
Innovation in der Gesellschaft fördern: Die Änderung des gegenwärtigen Kurses wird stark vom Entstehen und von der Verbreitung verschiedener Arten von Innovationen abhängen, die zu neuen Denk- und Lebensweisen anregen.
Neuausrichtung des Finanzsektors zugunsten nachhaltiger Projekte und Unternehmen: Dies erfordert Investitionen in die Zukunft durch die umfassende Nutzung öffentlicher Mittel zur Unterstützung von Innovationen der betroffenen Branchen und Regionen. Dazu gehört auch die Beteiligung des Finanzsektors an nachhaltigen Investitionen durch Umsetzung des EU-Aktionsplans für ein nachhaltiges Finanzwesen.
Sozial ausgewogener Wandel: Eine erfolgreiche Nachhaltigkeitstransformation verlangt auch einen angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit potenziellen Risiken, Chancen und Zielkonflikten. Die Politik der EU und der Mitgliedstaaten spielt eine wesentliche Rolle bei der Umsetzung einer sozial verträglichen Transformation.
Mehr Wissen und Know-how aufbauen: Dazu zählt insbesondere ein besseres Verständnis der umweltbelastenden Systeme, der zur Nachhaltigkeit führenden Lösungsansätze, der vielversprechenden Initiativen und der Hindernisse für einen Wandel. Dies erfordert Investitionen in Bildung und Kompetenzen, die das Zurechtfinden in einer sich rasant verändernden Welt ermöglichen. Eine bessere Verknüpfung von Wissenschaft und Politik ist dabei ebenso nötig, wie die Einbindung von BürgerInnen in partizipatorische Prozesse.
Die kommenden 10 Jahre bieten für Europa ein einzigartiges Zeitfenster, um bei der globalen Antwort auf die Frage der Nachhaltigkeit eine führende Rolle einzunehmen. Jetzt ist es an der Zeit zu Handeln.
Der Bericht „Die Umwelt in Europa – Zustand und Ausblick 2020“ (SOER 2020) kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Gesellschaft mit Falschinformationen und „Fake News“ konfrontiert ist. Im Bericht werden weitgehende Anstrengungen unternommen, um dem zu begegnen, indem umfassend auf wissenschaftliche Erkenntnisse verwiesen wird. Außerdem werden Qualität der Informationen, Unsicherheiten und Wissenslücken besser bewertet und vermittelt, wie wir auf Klimawandel, Verlust an biologischer Vielfalt sowie Luft- und Wasserverschmutzung, reagieren sollten und müssen.