Weltflüchtlingstag: Bereits ein Prozent der Menschheit auf der Flucht

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Fast 80 Millionen Heimatvertriebene irren derzeit durch die Welt. Mehr als je zuvor. UNHCR, Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen rufen zur Solidarität auf.

Von R. Manoutschehri


Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR appelliert anläßlich des heutigen Weltflüchtlingstages weit mehr zu tun, um ein Zuhause für Millionen von Flüchtenden zu finden, die durch kriegerische Konflikte, ethnische, religiöse oder politische Verfolgung oder durch die Folgen des Klimawandels bzw. durch Naturkatastrophen vertrieben wurden. Dies sind inzwischen mehr als ein Prozent der Menschheit – 1 von 97 Menschen – und immer weniger Entwurzelte werden nach Hause zurückkehren können.

Der jährliche Global Trends-Bericht des UNHCR zeigt, dass bis Ende 2019 beispiellose 79,5 Millionen Menschen vertrieben wurden. Nie zuvor wurde eine höhere Gesamtzahl verzeichnet. Mehr als die Hälfte (45,7 Millionen) flohen als sogenannte Binnenflüchtlinge in andere Gebiete ihres eigenen Landes, während 29,6 Millionen gewaltsam bis in andere Länder vertrieben wurden.

Darunter sind auch rund 30 bis 34 Millionen Kinder – Zehntausende von ihnen ohne Begleitung, isoliert und einsam in der Fremde.

Weltweite Notlagen dauern an

Mehr als acht von zehn Flüchtlingen (85 Prozent) leben in Entwicklungsländern, in der Regel in einem Nachbarland, in dem sie geflohen sind. 80 Prozent der Vertriebenen auf der Welt leben in Ländern oder Gebieten, die von akuter Ernährungsunsicherheit und Unterernährung betroffen sind – viele von ihnen sind Klima- und anderen Katastrophenrisiken ausgesetzt. Lediglich 5 Länder verursachen zwei Drittel der grenzüberschreitenden Vertriebenen: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar.

Der Bericht stellt auch fest, dass sich die Aussichten für Flüchtende verschlechtern, wenn es um die Hoffnung auf ein schnelles Ende ihrer Notlage geht. In den neunziger Jahren konnten jedes Jahr durchschnittlich 1,5 Millionen Flüchtlinge nach Hause zurückkehren. In den letzten zehn Jahren ist diese Zahl auf rund 385.000 gesunken, was bedeutet, dass das Wachstum gewaltsamer Vertreibungen heute die Lösungen der Weltgemeinschaft bei weitem übertrifft.

„Wir erleben eine veränderte Realität, Zwangsumsiedlungen sind heutzutage nicht nur weitaus weiter verbreitet, sondern einfach kein kurzfristiges und vorübergehendes Phänomen mehr“, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi. „Von den Menschen kann nicht erwartet werden, dass sie jahrelang in einem Zustand des Umbruchs leben, ohne die Chance, nach Hause zu gehen oder dort, wo sie sich befinden, eine Zukunft aufzubauen. Wir brauchen eine grundlegend neue und akzeptablere Haltung gegenüber allen, die fliehen, gepaart mit einem viel entschlosseneren Bestreben, Konflikte zu lösen, die jahrelang andauern und die die Wurzel dieses immensen Leidens sind. “

Mehr Vertriebene als je zuvor

Im gesamten letzten Jahrzehnt waren mindestens 100 Millionen Menschen gezwungen, ihre angestammten Heimatgebiete zu verlassen, um entweder innerhalb oder außerhalb ihres Landes nach einer neue Existenz und Bleibe zu suchen. Die Zwangsumsiedlungen haben sich seit 2010 fast verdoppelt (damals 41 Millionen gegenüber 79,5 Millionen heute).

Der Anstieg um 70,8 Millionen Vertriebener seit Ende 2018 ist laut Bericht vor allem auf neue Vertreibungen zurückzuführen – insbesondere in Venezuela, der Demokratischen Republik Kongo, in der Sahelzone, im Jemen und in Syrien. Letzteres befindet sich derzeit im zehnten Konfliktjahr und umfasst allein 13,2 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene, ein Sechstel der weltweiten Gesamtzahl.

Mehr als drei Viertel aller Flüchtenden (77 Prozent) sind in Situationen langfristiger Vertreibung verwickelt – zum Beispiel auch in Afghanistan, das sich bereits im fünften Konflikt-Jahrzehnt befindet.

Von den rund 26 Millionen Menschen, die im Exil leben, sind 20,4 Millionen Flüchtende unter dem UNHCR-Mandat „anerkannt“, sowie weitere 5,6 Millionen palästinensische Flüchtlinge. Doch aktuell warten rund 4,2 Millionen Menschen noch auf das Ergebnis ihrer Asylanträge.

Die Verpflichtung gemäß den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs), „niemanden zurückzulassen“, schließt seit März dieses Jahres explizit Flüchtende mit ein, erinnert Grandi die Weltgemeinschaft:

Filippo Grandis Statement zum Weltflüchtlingstag (Auszug)

Screenshot Video-Statement
Screenshot Video-Statement https://www.facebook.com/UNHCR.at/videos/1442449292632478

„Wir feiern den diesjährigen Weltflüchtlingstag vor dem Hintergrund einer dramatischen globalen Krise. Rekordzahlen von Menschen sind nicht nur gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen, sondern die Welt hat auch mit COVID-19 zu kämpfen, einer Krankheit, die uns alle immer noch sehr betrifft. Was als Gesundheitskrise begann, hat sich ausgeweitet, und heute sind viele der am stärksten gefährdeten Personen – Flüchtlinge und Vertriebene – von einer Armutspandemie betroffen.

Am World Refugee Day grüße und feiere ich die Stärke von Flüchtlingen und Vertriebenen auf der ganzen Welt. Ich würdige auch die Gemeinschaften, die sie schützen und die die allgemein gemeinsamen Werte und Prinzipien von Mitgefühl und Menschlichkeit demonstriert haben. Manchmal haben sie Flüchtlinge jahrelang oder sogar seit Generationen aufgenommen und geschützt, und diese Werte in einer Zeit der Pandemie weiterhin aufrechtzuerhalten, ist eine starke Botschaft der Hoffnung und Solidarität.

UNHCR sind Herausforderungen nicht fremd. Seit über 70 Jahren sind wir in unzähligen Notfällen an vorderster Front. Diese globale Pandemie hat jedoch ein völlig neues Ausmaß. Unsere Priorität war und ist es, für die Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Staatenlosen, die wir schützen sollen, aufzustehen und sie zu versorgen. Aber wir können es nicht alleine schaffen, … denn es gilt sicherzustellen, dass wirtschaftliche und soziale Unterschiede nicht zu Rissen innerhalb und zwischen Gemeinschaften führen. Es muss auch mehr in Herkunftsländer investiert werden, um die Rückkehr von Flüchtlingen zu einer tragfähigen Option zu machen.

An diesem Weltflüchtlingstag fordere ich mehr globale Solidarität und Maßnahmen, um Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Staatenlose sowie deren Gastgeber einzubeziehen und zu unterstützen. Everyone Can Make a Difference. Every Action Counts.“

Menschenrechts-NGOs fordern Solidarität mit Flüchtenden, Foto: R. Manoutschehri
Menschenrechts-NGOs fordern Solidarität mit Flüchtenden, Foto: R. Manoutschehri

Aufruf an die Regierungen zur Solidarität

Unter den Hashtags #WorldRefugeeDay, #Weltflüchtlingstag, #WithRefugees und #LeaveNoOneBehind fanden heute auch weltweite Protestaktionen statt, die zur Solidarität mit Flüchtenden aufrufen. So wurde auch in Wien eine Kundgebung von der „Plattform für eine menschliche Asylpolitik“ und weiteren Menschenrechts-NGOs organisiert, die vor allem ein deutliches Zeichen gegen illegale „Push-Backs“ an den europäischen Grenzen setzen wollen.

Weitere zentrale Forderungen der NGOs sind: Umsetzung der europäischen Grundrechtecharta in Österreich, Schubhaft und Deportationen (v.a. allem in unsichere Länder) sind zu stoppen. Evakuierung der Flüchtlingslager und Hotspots an den EU-Außengrenzen und die Aufnahme von Geflüchteten. Unabhängige Rechtsberatung und faire Asylverfahren sowie die Nutzung von leerstehenden statt Massenunterkünfte.

Bei hierzulande auf den geringen Stand von lange vor der Flüchtlingskrise zurück gegangenen Asylanträgen (2019 waren es in Österreich weniger als 12.900 Menschen) gibt es längst keine „Notlagen“ mehr im Asylbereich, wie von verschiedenen Kreisen bis in die Regierung hinein fälschlicherweise suggeriert wird. Leid und Armut lässt sich nicht in andere Länder abschieben. Wir können Leid nur als (Welt-) Gemeinschaft lindern.

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2 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen wirklich sehr guten Artikel! Die enthaltenen Zahlen bieten eine gute Argumentationsgrundlage. Ein Prozent der Menscheit ist auf der Flucht. Das ist grauenhaft vorallem wenn man sich vergegenwärtigt, was diese Menschen Schreckliches durchmachen. Wenn man sich aber die übliche Panikmache von Rechten in Erinnerung ruft, wo immer so getan wird, als ob der ganze globale Süden sich auf den Weg machen würde dann sieht man das das ganz einfach nicht stimmt. So zu tun als ob es bei uns keine Recourcen gäbe um Geflüchtete aufzunehmen entbehrt einfach jeder Grundlage, besonders in einem so reichen Land wie Österreich.

  2. Danke für diesen engagierten ,informativen, klaren Artikel. In den großen Medien wurde von der Veranstaltung in Wien ja kaum berichtet.
    Die unglaubliche Not der Vertriebenen, Hungernden, jahrelang ohne Perspektive in Lagern vegetierenden, gepeinigten Menschen ohne Perspektive geht neben der Coronapandemie unter, denn deren Elend halten wird mit allen Mitteln von Europa weggehalten, während Corona uns direkt bedroht, da nützen keine Grenzzäune, kein aufgestockter Grenzschutz..
    Werden wir bereit sein, uns einzuschränken zugunsten von Lebensmöglichkeiten außerhalb Europas? Flüchtlinge aufnehmen und ihnen eine Zukunft eröffnen ? die Kriegstreiber entschlossen zu bekämpfen, eudlich begreifen, dass es um die Gleichberechtigung aller Menschen auf der Welt gehen muss, alle Schädigungen auf uns zurückfallen.

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