Warum Ganztagsschulen bessere Lösungen für die heutigen Bildungsherausforderungen bieten

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Halber Tag, doppelter Nachteil: Ganztägige schulische Formate werden immer wichtiger. Die OECD sieht Ganztagsschulen als zentrales Instrument zur Bekämpfung von Bildungsungleichheit.

Von Elke Larcher, Referentin für Ganztagsschulen in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien und Oliver Gruber Politologe & Kommunikationswissenschafter sowie Referent für Migration/Integration/Sprachförderung in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien.

Die jüngste Präsentation des Integrationsberichts sowie des OECD-Berichts „Education at a glance“ haben erneut die Wichtigkeit ganztägiger schulischer Formate deutlich gemacht. Von der OECD als zentrales Instrument zur Bekämpfung von Bildungsungleichheit unterstrichen, empfiehlt auch der ExpertInnenrat für Integration der Bundesregierung Ganztagsschulen als eine Antwort zur Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund aus sozioökonomisch benachteiligten Elternhäusern – die Integrationsministerin winkt bei dem Thema jedoch bislang ab. Dabei kann gerade ein ganztägiges Schulformat vieles von dem leisten, was die Politik gerne Eltern zuschiebt. Aus diesem Anlass diskutiert der folgende Beitrag die bildungs- und integrationspolitischen Vorteile ganztägiger Schulformen.

Die Halbtagsschule ist ein Kind ihrer Zeit: Mit der Einführung der Schulpflicht 1774 unter Maria Theresia in Österreich ließ das halbtätige Format genug Zeit, damit etwa die bäuerlichen Kinder nachmittags noch am Bauernhof der Eltern mitarbeiten konnten. Dass die Halbtagsschule den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen aber kaum mehr ausreichend begegnen zu vermag, liegt an ihrer grundlegenden Konstruktion. Denn ihr Fundament ruht auf Familien- und Erwerbsstrukturen, die für immer weniger Familien zutreffen, und so ist ein immer größerer Anteil der Familien von den Nachteilen der Halbtagsschule betroffen.

Der gute Schulerfolg wird in einem Halbtagsschulsystem in erheblichem Maße ins Private verlagert und hängt folglich maßgeblich von den familiären Ressourcen der SchülerInnen ab – Elternhäuser, die über ausreichend Zeit, Geld und Bildung verfügen, können ihr Kind eher ans Lernziel begleiten, ihm die nötige Nachhilfe finanzieren oder ihm außerschulische Aktivitäten zur Förderung seiner Talente ermöglichen als jene, denen es an diesen Ressourcen (im schlechtesten Fall an allen zugleich) mangelt. Gerade unter letzteren sind einzelne Zuwanderungsgruppen überdurchschnittlich stark vertreten, was auch die integrationspolitische Dimension der Halb- und Ganztagsschule deutlich macht. Das Halbtagsschulsystem konserviert eine Bildungsungleichheit und bietet benachteiligten SchülerInnengruppen deutlich weniger Chancen, die Schule erfolgreich zu durchlaufen (siehe Diagramm), was auch weniger Chancen auf einen gut bezahlten Job, Gesundheit und Zufriedenheit als Erwachsene nach sich zieht. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch wirtschaftlich untragbar, für die Betroffenen wie für die Gesellschaft insgesamt.

Bildungsstandardergebnisse in Mathematik 2017
Grafik: awblog.at

Bildungsungleichheit unter Covid-19 zusätzlich verschärft

Die Covid-19-bedingten Schulschließungen haben kein neues Problem geschaffen, sondern ein altes massiv verschärft. Schon im Normalbetrieb finden 24 % der Eltern es eher bis sehr schwierig, ihren Kindern bei der Hausübung zu helfen, in der Corona-Ausnahmesituation wuchs dieser Anteil im April auf 34 % an. Zwischen dem Beginn des Lockdowns Mitte März und dem erneuten Schulbeginn Anfang September haben SchülerInnen nur 15 Tage im Klassenzimmer gelernt und mehr als 40 Tage mit Arbeitsblättern im Homeschooling gekämpft – eine enorme Herausforderung für alle Familien, insbesondere aber jene benachteiligten Familien mit geringen Raum-, Zeit- und/oder Bildungsressourcen.

So bestätigen in einer LehrerInnenbefragung des IHS insgesamt 12 % der Primarstufenlehrkräfte, dass sie ihre SchülerInnen grundsätzlich nicht erreichen konnten, benachteiligte SchülerInnen wurden hingegen von ganzen 40 % der Lehrkräfte nicht erreicht. Während 94 % der Lehrkräfte angeben, dass ihre SchülerInnen während des Distance-Learning bei Rückfragen mit ihnen Kontakt aufgenommen haben, so bestätigen das nur 38 % der Lehrkräfte für benachteiligte SchülerInnen. Dass es SchülerInnen grundsätzlich gut gelungen wäre, ihre Aufgaben selbständig zu erledigen, bestätigen 84 % der Lehrkräfte, fragt man hingegen spezifisch nach benachteiligten SchülerInnen, dann stimmen dem nur 20 % der Lehrkräfte zu. Und selbst die eigenständige Organisation eines Home-Schooling-Tagesablaufs durch ihre SchülerInnen insgesamt beurteilen grundsätzlich immer noch 61 % der Lehrkräfte als gelungen, während nur 12 % der Lehrkräfte das für ihre benachteiligten SchülerInnen so einschätzen würde.

Ein gutes Fundament statt vieler Stützsäulen

Damit sich bildungspolitisch wirklich etwas ändert, braucht es eine neue Architektur für Schulen. Statt der Privatisierung des Schulerfolgs muss Lernen in der Schule organisiert werden und deutlich mehr beinhalten als den reinen Vormittagsunterricht. Zwar wird über schulischen Förderunterricht, Gratisnachhilfe und weitere Unterstützungsangebote jetzt schon versucht, SchülerInnen mit Schwierigkeiten beim Lernen zu helfen – 40 % aller SchülerInnen nutzen dies auch und zwei Drittel der Eltern sind mit der Qualität des Förderunterrichts weitgehend zufrieden (Note 1 oder 2). Diese schulische Unterstützung kompensiert am Ende aber nur die inhärenten Mängel eines Halbtagssystems und Kompensationsmaßnahmen werden meist erst im Laufe des Schuljahres organisiert. In vielen Schulen startet der Förderunterricht – nach mehrfachen Frustrationserlebnissen bei SchülerInnen und Eltern – nach den Weihnachtsferien, was mit viel mehr Bürokratie für Schulen einhergeht, anstatt Förderunterricht von Anfang an in die Jahresplanung einzubeziehen.

Vielmehr bräuchte es ein System, das neben dem Unterricht automatisch auch Zeit zum Üben und Fragenstellen vorsieht, das über den gesamten Schultag Anregungspotenzial für SchülerInnen bieten kann, wie z.B. Projekte, spannende Freizeiteinheiten oder stimulierende Vereinstätigkeiten. Kurz: Es braucht Ganztagsschulen für jedes Kind in seiner Wohnumgebung, kostenlos für Familien zugänglich und bedarfsgerecht finanziert. Denn eine breite Ausrollung ganztägiger Formate bietet neben organisatorischen Vorteilen (wie der Betreuungssicherheit für berufstätige Eltern) auch vielfältige pädagogische Vorteile zur Verbesserung von Bildungs- und damit Integrationschancen:

Unterricht, Übung und Anregung für jedes Schulkind

Ganztagsschulen ermöglichen die Organisation eines verlässlichen Systems des Lernens und Übens, gekoppelt mit zusätzlichen Anregungen. Die Kinder bleiben beispielsweise von 8 bis 15 Uhr in der Schule, über die gesamte Zeit sind auch PädagogInnen anwesend – so können sie neben fixen Unterrichts- und Übungszeiten auch Projektunterricht und Ausflüge organisieren, weil dafür Zeit im Schultag bereits eingeplant ist und nicht erst eigens aufgebracht und organisiert werden muss. Dadurch wird neben dem Regelunterricht für jedes Schulkind wichtiges und lernförderliches Anregungspotenzial sichergestellt und nicht mehr den Ressourcen der Familien überlassen.

Individualisierte Förderung leichter integrierbar

Nicht für jedes Kind reicht es aus, in Unterrichtsstunden Neues zu lernen und in Übungsstunden Gelerntes zu festigen. Viele Kinder brauchen, um gut lernen zu können, Unterstützung von spezialisierten Förderkräften – beispielsweise LogopädInnen, weil etwa die Aussprache einzelner Laute das Lesen erschwert, von ErgotherapeutInnen, die helfen, sich zu konzentrieren und die Feinmotorik zu trainieren, u.v.m. Im Ganztagsbetrieb ist auch dafür mehr Platz, multiprofessionelle Lernunterstützung am Lernort Schule je nach Bedarf der Kinder und unabhängig von Ressourcen der Eltern auf die Beine zu stellen.

Ganztägigkeit schafft mehr Raum für Diversität

Die engen Grenzen der Halbtagsorganisation, der darin zu erfüllenden Lehrplanvorgaben sowie die Ressourcenknappheit drängen zu konservativer Personalauswahl und Unterrichtsgestaltung. Die Öffnung hin zu einer ganztägigen Organisation hingegen erlaubt, eine größere Diversität an InputgeberInnen einzubinden: Vorbilder mit Migrationshintergrund, wie sie etwa auch Melisa Erkurt in ihrem Buch “Generation Haram” beschreibt, schaffen Motivation und stärken Selbstvertrauen; mehr Zeit und Raum für mehrsprachige Lehrkräfte stärkt SchülerInnen im selbstbewussten Gebrauch all ihrer sprachlichen Ressourcen; Platz für gemeinsame Lern- und Freizeitformate, die jedem Kind Erfolgserlebnisse entlang seiner Talente geben (welche im engen Korsett des Vormittagsunterrichts oftmals untergehen) – all diese Punkte können in einem ganztägigen Format wesentlich besser eingebunden werden und sichern sie so auch für jene Kinder, die dies ansonsten nicht bekämen.

Ganztagsschule 3.0.: Was es dazu braucht

Um dorthin zu gelangen reicht es jedoch nicht aus, das Türschild einer Halbtagsschule auszutauschen und FreizeitpädagogInnen am Standort zu haben. Ganztagsschule verlangt nach einem standortspezifischen Schulentwicklungsprozess, je nach Standort braucht es unterschiedliche Strukturen und Professionen, die sowohl der sozialen Zusammensetzung der Kinder wie auch der räumlichen Einbettung der Schule gerecht werden. Die kürzlich geöffnete Kärntner Ganztagsschule in St. Veit hat andere Voraussetzungen als der neu eröffnete Bildungscampus in der Wiener Leopoldstadt.

Bundesländerübergreifender Austausch

Außerhalb Wiens gibt es kaum Ganztagsschulen, Wien nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. Um Ganztagsschulen österreichweit in ein System zu bringen, wäre der bundesländerübergreifende Austausch zur Schulentwicklung gefragt, um auch in anderen Bundesländern verschränkte Ganztagsschulen entsprechend der jeweils lokalen und regionalen Bedürfnisse anbieten zu können.

Professionalisierung der Ganztagspädagogik

Ganztagspädagogik ist nicht zweimal Halbtagsschule, sondern eine andere Art, eine verzahnte und kooperative Pädagogik. Sie stellt andere Ansprüche an PädagogInnen und AdministratorInnen, ein Zugang, der entwickelt, reflektiert und gelehrt werden muss. Sowohl Aus- und Weiterbildung von PädagogInnen als auch die Schulentwicklung müssten demnach auf Ganztagsschulabläufe ausgerichtet werden.

Ganztagsschulen für Jugendliche

Ganztagsschulen sind nicht nur Volksschulen, bei denen die Betreuungssicherheit für berufstätige Eltern besonders wichtig ist. Ganztagsschulen müssen auch für die Jugendphase ansprechend gestaltet werden, Jugendliche brauchen andere Freiräume als Kinder, das Konzept muss in der Sekundarstufe weiterentwickelt werden. Einzelne Standorte zeigen schon, in welche Richtung es hier vielleicht gehen kann.

Kostenlose Ganztagsschule in Wohnumgebung für jedes Kind

Wir können uns die Schule von gestern nicht mehr leisten. Das Halbtagsschulsystem mit allen Stützen, Anbauten und Dachbodenausbauten ist nicht mehr zeitgerecht und kann die Herausforderungen der heutigen Zeit nicht bewältigen. Es braucht einen ambitionierten Ausbau von Ganztagsschulen, eine Professionalisierung der Ganztagspädagogik und bedarfsgerecht finanzierte Schulentwicklung am Schulstandort – um jedem Kind faire Chancen zum Bildungsaufstieg zu geben.

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Moritz Ettlinger

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