Ein Hauch von 68er-Bewegung wehte am vergangenen Wochenende durch die Hallen der ehemaligen Sargfabrik in Wien-Liesing. Die linke Initiative Aufbruch hatte zu ihrer ersten Aktionskonferenz geladen und rund 1.000 Menschen waren dem Aufruf gefolgt. Doch wohin die Reise geht ist auch nach dem 12-stündigen Mega-Sit-in nicht so ganz klar.
Eine Polit-Reportage von Michael Wögerer
„In Österreich fehlt eine politische Kraft von unten, eine politische Kraft, die unsere Wut über das herrschende politische und wirtschaftliche System hör- und sichtbar macht.“ – Das dachten sich viele derer, die am Freitag vergangener Woche ins Kulturzentrum F23 nach Wien-Liesing kamen, um an der Aktionskonferenz von Aufbruch teilzunehmen. Die Initiatoren vom links-intellektuellen Mosaik-Blog hatten ursprünglich mit 300 Leuten gerechnet, doch 1.300 Anmeldungen sprachen dafür, dass dieses Event etwas ganz Großes wird.
Klatschnass nach einem Wolkenbruch betrete ich Freitagabend kurz nach 18 Uhr die von Arbeitern Ende 2013 verlassene Atzgersdorfer Sargfabrik im 23. Wiener Gemeindebezirk. Im Hof erblicke ich die ersten bekannten Gesichter. Die Stimmung ist ausgesprochen gut nachdem die Sonne wieder zum Vorschein gekommen war. „Bist du schon angemeldet?“, fragt mich eine Genossin. Ich verneine. Sie empfiehlt mir das schnell zu tun, denn beim Check-in hätten sich schon lange Schlangen gebildet. „Da üben offenbar schon ein paar für den Sozialismus“, erwidere ich scherzhaft. Tatsächlich haben sich im Eingangsbereich der urigen Fabrikshalle viele TeilnehmerInnen in drei rund zehn Meter lange Reihen aufgefädelt, in denen sie auf ihre Konferenzunterlagen warten. „Wir sind Menschen aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Parteien, Umweltgruppen, linken, migrantischen und feministischen Organisationen sowie engagierte Privatpersonen“, ist im darin enthaltenen Aufruf zu lesen, der von 129 Personen unterzeichnet wurde. Rund ein Drittel davon kenne ich persönlich aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Doch als die Konferenz mit halbstündiger Verspätung beginnt, wird rasch klar, dass es sich hier nicht um ein übliches Familientreffen der gespaltenen österreichischen Linken handelt. Über 800 AktivistInnen auf einem Fleck sieht man sonst nur am traditionellen Volksstimmefest, doch dorthin kommen die meisten großteils wegen Musik und Alkohol. Letzteres gibt es aber auf der Aufbruch-Konferenz erst nach dem offiziellen Teil.
Rederecht durch Zufallsgenerator – Raus aus der „linken Bubble“!
Der erste Tag der Aktionskonferenz steht zu einem großen Teil im Zeichen des Rückblicks. In neun kurzen Statements skizzieren Vertreter von Mosaik den Weg vom Blog zum Aufbruch. So erfahren wir, dass ein sogenannter „Ratschlag“ die ersten Schritte für den gemeinsamen Weg entwickelt hat und bereits in sieben verschiedenen Städten Österreichs und in zahlreichen Bezirken Wiens Vorbereitungstreffen stattgefunden haben. Das Mikro wandert locker auf der Bühne von links nach rechts, nach den Beiträgen wird lautstark geklatscht. Zentrale, langatmige Ansprachen fehlen bisher, aber auch auf die Möglichkeit Fragen zu stellen oder Zwischenbemerkungen zu machen, muss das Publikum verzichten.
Die Leute hier scheinen sehr gern zu klatschen
? #Aufbruch— porrporr ★ ⁄ ⃝⁄ (@porrporr) 3. Juni 2016
Beim Input von Lisa Mittendrein zur Einschätzung der politischen Situation ändert sich die Inszenierung merklich. In der Mitte des Podiums wird ein Rednerpult aufgestellt. Es ist augenscheinlich, dass hier jemand vor den Vorhang geholt wird, der im „basisdemokratischen“ Aufbruch-Prozess eine wichtigere Rolle spielen soll. Inhaltlich erfährt man kaum Neues. Mittendrein kritisiert Bankenrettungen und Sozialabbau, Rekordarbeitslosigkeit und steigende Armut sowie die Brutalität gegen Flüchtlinge. „Aufbruch will ein gutes Leben für alle. Es liegt an uns, etwas Neues zu versuchen, das weit über das hinausgeht, was es bisher in Österreich politisch gegeben hat“, so die Attac-Referentin für Finanzmärkte, Eurokrise und Steuern.
Warum es dazu die Initiative Aufbruch braucht erklären daraufhin VertreterInnen der Sozialistischen Jugend (Fiona Kaiser), der Sozialistischen Linkspartei (Sebastian Kugler), Via Campesina (Irmgard Salzer), des Kulturverein Kanafani (Kamile Batur) und der Katholischen Frauenbewegung (Elisabeth Ohnemus). Eine breite Palette! „Sich nicht von feinen, kleinen ideologischen Unterschieden auseinanderdividieren lassen“, hieß es dementsprechend bereits zu Beginn der Konferenz.
Erstmals zu Wort melden dürfen sich danach auch die zahlreichen TeilnehmerInnen, doch anfangs nur leise in Form einer „Murmelrunde“ mit dem Sitznachbarn. Auch bei der gemeinsamen Diskussion im Plenum wird es zum Lotteriespiel, ob man seine Meinung auf der Bühne kundtun darf. Rund 20 Wortmeldungen zu je zwei Minuten wurden gelost. Man hört unterschiedliches und überraschend wenig Skurrilitäten. Die einen wollen von „Wohnung zu Wohnung gehen“ und „ländliche Gebiete mit linken Themen erreichen“, ein Vertreter von Wien anders macht sich Sorgen über die Organisationsform von Aufbruch, KPÖ-Wirtschaftssprecher Michael Graber schlägt ein Volksbegehren zum Thema Wohnen vor und die mit überdurchschnittlich viel Losglück ausgestatteten SLP-AktivistInnen fordern Betriebsorganisierung und den Aufbau einer antikapitalistischen Wahlalternative. Junge Grüne aus der Steiermark plädieren für eine „laute Startaktion“, während eine ältere Dame die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen erhebt und bestimmte Berufsgruppen („BäuerInnen, LehrerInnen, PsychotherapeutInnen“) ansprechen will. Immer wieder ist zu hören, man müsse raus aus der „linken Blase“ – wahlweise auch Bubble genannt. Ein junger Student will, dass das Ganze „nicht zu radikal, zu links“ werde. Er setze lieber auf Ruhe, Zuhören und „entspanntes Verändern“.
Am Ende des ersten, rund 3-stündigen Teils der Aufbruch-Aktionskonferenz stand schließlich ein Input des Betriebsratsvorsitzenden der Raiffeisen Kapitalanlagen GmbH und grünen Arbeiterkammerrats Fritz Schiller zum Thema Reichtum und neoliberale Politik.
Anecken, zuhören, nützlich sein
Den Beginn des zweiten Tages der Konferenz verfolge ich bequemerweise via Live-Stream von zu Hause aus. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung einer „Organisierungskampagne“ unter dem Motto „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten!“. Hanna Lichtenberger, Melanie Pichler und Luca Tschiderer präsentieren dazu am Vormittag einen Vorschlag. Dieser enthält „keine konkreten inhaltlichen Forderungen, lediglich Themen, Schlaglichter und drei inhaltliche Bausteine“, so Pichler. Auch eine Diskussion um ein Parteiprojekt oder Wahlbündnis findet sich darin nicht. Es sei zuerst wichtig sich gemeinsam zu organisieren.
„Wir müssen das neoliberale Mantra im Keim ersticken und klar sagen: Es gibt eine Alternative!“, so Tschiderer, Vorsitzender der SJ Tirol. „Es geht darum aufzuzeigen, dass Ungleichheit kein göttliches Gesetz, keine naturgegebene Konstante und kein Produkt von Fleiß oder Leistung ist. Ungleichheit hat System und dieses System gilt es aufzubrechen.“
Lichtenberger nennt die organisatorischen Ziele der Kampagne zu den Themen Arbeit, Wohnen und Mobilität sowie Gesundheit und Soziales. Im Herbst könne es dazu eine große Demonstration oder österreichweite Aktionstage für jedes Kampagnenthema geben. Man wolle mindestens in 15 Gemeinden eine stabile Aufbruch-Gruppe aufbauen, 10.000 Gespräche dokumentieren und 300 Aktionen in ganz Österreich durchführen. Dabei wolle man anecken, zuhören und nützlich sein, um Erfolg zu haben.
Während die rund 800 Teilnehmer in hundert 8er-Gruppen den Vorschlag zur Aufbruch-Kampagne diskutieren, mache ich mich bei strahlendem Sonnenschein wieder auf den Weg zur ehemaligen Sargfabrik, um bei der Präsentation der Ergebnisse rechtzeitig vor Ort zu sein.
Machen wir es kurz: So vielfältig und bunt die Zusammensetzung der Aktionskonferenz war, so divers sind auch die Vorstellungen, wie sich die Initiative Aufbruch entwickeln soll. Gemeinsame Nenner erschöpfen sich in Überschriften, konkrete Inhalte sind (noch) Mangelware. Die „soziale Frage“ und die Kritik an einem System, das einige, wenige Reiche und viel Armut hervorbringt, stehen freilich im Zentrum. Diese Erkenntnisse sind aber nichts Neues, der Weg zur Alternative ist die entscheidende Frage und in diesem Bereich tun sich bereits bei der Start-Konferenz von Aufbruch die ersten Risse auf. Die Konfliktlinien lassen sich in drei Bereiche einteilen:
I.) Konkreter Antikapitalismus versus Wohlfühl-Linke
Während die Vertreter bereits bestehender linker Gruppen eine „klassenbewusste Politik“ und eine Orientierung auf die Arbeiterschaft zur Überwindung des Systems fordern, tummeln sich im Aufbruch ebenso viele, die diese revolutionäre Rhetorik ablehnen und lieber auf Aktionen setzen, die in konkreten Bereichen Verbesserungen für die Bevölkerung schaffen, auch wenn dies nichts an den dahinterliegenden Strukturen ändert. Trotzkistische Gruppen wie die Sozialistische Linkspartei (SLP) sehen in Aufbruch eine Möglichkeit ihren Einfluss zu erweitern und dominieren bereits einige der regionalen Strukturen – vor allem in Wien. Demgegenüber sitzen zumeist politisch wenig erfahrene und bisher unorganisierte Menschen, die sich entweder von den geschulten Kadern beeinflussen lassen oder lieber das Weite suchen.
II.) Basisdemokratie versus Elite
Die hinter der Initiative Aufbruch stehende Gruppe rund um den Mosaik-Blog hat die Aktionskonferenz mit viel Engagement vorbereitet und ihnen wird zurecht viel Respekt entgegengebracht. Zugleich ist zu erkennen, dass sie diesen Startvorteil auch dafür nützen wollen, um ihre Vorstellungen wie Aufbruch weitergehen soll durchzusetzen. Die erste Konferenz wurde von einigen Teilnehmern als „nicht sehr basisdemokratisch“ kritisiert. Auf der Feedback-Pinnwand gab es Stimmen, die von einem „klassischen Kaderprojekt“ sprachen und Aufbruch als „elitär und antidemokratisch“, ja sogar „undemokratischer als die SPÖ“ bezeichneten. Herbe Kritik gab es auch an der ethnischen Zusammensetzung der RednerInnen: „Wer ist dieses WIR? Nur weiß & akademisch?“ oder „Keine Belehrung durch weiße Linke!!!“ war als Rückmeldung zu lesen.
III.) Sozialbewegung versus Parteiprojekt
Es gibt im Rahmen von Aufbruch eine klare Konfliktlinie, wenn es um die Frage des Aufbaus einer neuen, linken Partei oder Wahlalternative geht. VertreterInnen am linken Rand von SPÖ und Grüne, aber auch die im Hintergrund kräftig mitmischende KPÖ haben kein Interesse daran, dass sich neben ihnen eine „Linkspartei“ entwickelt – im Fall der Bundes-KPÖ nur dann, wenn sie diese auch dominiert. Anders sieht das offenbar die SLP, die mit Aufbruch bei den kommenden Wahlen eine „linke, kämpferische Alternative“ anbieten möchte. Jene, die bereits in etablierten Parteien organisiert sind wollen, dass Aufbruch eine soziale Bewegung bleibt bzw. wird und kein Parteiprojekt. Der vielfach eingebrachte Vorschlag nach einem Volksbegehren zum Thema Wohnen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Spannend ist, wie sich die bisher Unorganisierten in der Parteifrage verhalten. Die Organisatoren der Aktionskonferenz taten jedenfalls gut daran, dieses Thema (noch) nicht in den Mittelpunkt zu stellen. Die Diskussionen darüber finden ohnedies statt.
Zum Ende der Aktionskonferenz haben sich 25 lokale Aufbruch-Gruppen in allen Bundesländern gegründet, die „im Rahmen der Kampagne Treffen und Aktionen durchführen und ein politisches Programm von unten erarbeiten“, heißt es in einer Presseaussendung. Die lokalen Gruppen bilden das Herzstück der Aufbruch-Struktur, darüber hinaus gibt es vier Themengruppen zu den zentralen Eckpunkten der Kampagne sowie zwei Spezialgruppen zur Diskussion über ein mögliches Wahlprojekt und die Suche nach einer juristischen Form für die Initiative (z.B. Verein). Organisationsgruppen kümmern sich um Aufgaben wie Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising. Dazwischen soll es circa monatliche Planungstreffen mit den VertreterInnen der verschiedenen Strukturen geben, eine ständige Koordination wird auf das Zusammenspiel der unterschiedlichen Elemente achten. Auf der nächsten Aktionskonferenz – voraussichtlich in einem Jahr – soll die Organisierungskampagne reflektiert und die weitere Vorgehensweise beschlossen werden.
Nach neun Stunden offizieller Debatte am Samstag lichten sich die Reihen in der Sargfabrik rasch, mehr als die Hälfte brechen nach Hause auf, während der Rest noch stundenlang im kleinen Kreis weiterdiskutiert. Die Disco im Keller bleibt zumindest anfangs menschenleer.
Langjährige Beobachter und AktivistInnen der linken Szene sind sich darüber einig, dass es eine derartige Konferenz in dieser Größe und mit dieser Dynamik in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben hat. Egal ob mittendrin oder nur dabei, das Projekt Aufbruch wird in vielen Kreisen genau beobachtet, auch wenn die mangelnde mediale Berichterstattung (siehe Anhang) anderes vermuten lässt.
Aufbruch ist trotz großem Potential noch ein zartes Bäumchen, das – wenn man nicht aufpasst – schnell auch wieder eingehen kann. Bis es zum starken Baum heranwächst, heißt es also weiterhin: „In Österreich fehlt eine politische Kraft von unten, eine politische Kraft, die unsere Wut über das herrschende politische und wirtschaftliche System hör- und sichtbar macht.“ Noch.
Michael Wögerer (34) ist seit seinem 16. Lebensjahr politisch aktiv (AKS, SJ, Kinderfreunde, SPÖ, KI, PdA, ÖKG,…). Er studierte in Wien Politikwissenschaft, in Havanna Philosophie und Geschichte und startete im Juli 2014 gemeinsam mit Freunden „Unsere Zeitung – Die Demokratische.“
Fotos: aufbruch.kampagne (flickr.com; Lizenz: CC BY 2.0); Unsere Zeitung
Anhang:
Medienberichte zur Aktionskonferenz von „Aufbruch“:
- (bisher) kein einziger Artikel in Printtageszeitungen
- Der Standard (online)
- Bezirkszeitung (BZ)
- Vice (Michael Bonvalot)
- neues Deutschland (Michael Bonvalot)
- junge Welt
- Fotos: www.bonvalot.net ; flickr.com/photos/aufbruch-kampagne
Berichte/Einschätzungen von TeilnehmerInnen und Organisationen: