Die Sozialen Netzwerke werden von Frauen in Brasilien genutzt, um gegen Machismo und Gewalt zu mobilisieren. Zugleich bilden sie einen Kontrapunkt zu den Mainstream-Medien
Von Camila Nobrega, Cinthya Paiva (Übersetzung: Nina Hilgenböcker, Herwig Meyer / amerika21)
Die Berichte Ende Mai von der kollektiven Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen mit Beteiligung von über dreißig Männern in einer Favela im Ostteil von Rio de Janeiro kann man unmöglich vergessen. Dieser Vorfall wurde für immer festgehalten durch Videos, die von den Tätern selbst in den Sozialen Netzwerken verbreitet wurden, und durch die Proteste der Frauen, die in den gleichen Netzwerken die Vorfälle verdammten und Bestrafung der Beteiligten forderten. Dies führte zu einer breiten öffentlichen Debatte über die Tradition von Gewalt gegen Frauen in diesem Land.
Jedoch ebenso wie die virtuellen Welten der jungen Frau die Möglichkeit gaben, die ihr angetane Schandtat offen anzuklagen, so wird ihr virtuelles und ihr wirkliches Leben genau dort durch Diskussionen über ihre angebliche Mitverantwortung ausgebreitet und frontal angegriffen. Diskussionen, die sich aus den überkommenen, patriarchalen Traditionen der Gewalt erklären. Es ist diese Doppelrolle der virtuellen Netze, die uns veranlasst, über das Internet, wie es derzeit genutzt wird, nachzudenken.
In einem Land mit großer Reichweite der traditionellen Kommunikationsmittel (Radio und TV) ist jede Analyse der Sozialen Netzwerke unzureichend ohne gleichzeitigen Blick auf die Debatten in den traditionellen Medien. Die Art und Weise, wie die traditionellen Kanäle berichten und sich positionieren, erweist sich als wesentlich für die öffentliche Meinung in den Netzwerken und die unterschiedlichen Sichtweisen, die das Internet dominieren.
Es ist erhellend, sich daran zu erinnern, dass vor der Kundgebung tausender Frauen die führende Tageszeitung Folha de S. Paulo am 26. Mai in ihrer Rubrik „Alltag“ die folgende Schlagzeile hatte: „Ich musste weinen, als ich das Video sah“, sagt die Großmutter des Mädchens, das sagt, es sei vergewaltigt worden“. Mit der Formulierung „…sagt, es sei vergewaltigt worden“ stellt die Zeitung die Aussage des Opfers in Zweifel und das trotz klarer Nachweise der geschehenen Untat.
In einer Reportage von Globonews des gleichen Tages bestätigt der Anwalt von Raí de Souza, sein Klient sei in der Tat verantwortlich für die Filmaufnahmen der nackten und blutenden jungen Frau (die, wie die Filmaufnahmen zeigen, ohne Bewusstsein und unfähig zu jeder Reaktion war) und dass er zu denen gehört habe, die danach das Geschehene im Internet verfügbar gemacht hatten. Schon bei den von den jungen Leuten nicht bestrittenen Videoaufnahmen und deren Verbreitung handelt es sich um Verbrechen. Die in der Reportage nötigen Fragen wären gewesen: „Warum wurde mit den Festnahmen solange gewartet?“ oder „Wieso wurde der Vorfall als ‚zu untersuchender Verdacht‘ behandelt?“. Aber nichts dergleichen las man, was die Gleichgültigkeit der Medien bei der Aufklärung des wirklich Wichtigen zeigt, und die Schwierigkeit, die vergewaltigte Frau als Opfer wahrzunehmen.
Es war immer die junge Frau, von der Beweise verlangt wurden, dass SIE das Opfer war, und nur von ihrer Familie, ihren Anwälte und ihrer direkten Umgebung wurde gefordert, sie gegen Unterstellungen wegen ihres Verhaltens zu verteidigen, so, als sei das der entscheidende Punkt. Keinerlei gleichgewichtige Anklage lastete auf den beschuldigten jungen Männern wegen ihrer Untat ‒ sie erschienen lachend auf den Fernsehbildern. Dies gibt Anlass, die Schuldzuweisungen gegen das Opfer und die Tradition der Gewalt gegen Frauen einander gegenüber zu stellen, wie sie hierzulande immer noch tief verwurzelt ist.
Es ist tatsächlich nötig darauf hinzuweisen, dass es sich bei Vergewaltigung gemäß brasilianischem Strafrecht (Gesetz 2848/1940) um ein Verbrechen handelt, also jemanden „mit Gewalt oder Drohungen zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, oder andere sexuelle Handlungen zu tun oder zu dulden“ (Art.213).
Zweifel gegen die Opfer von Vergewaltigungen zu säen gehört zum Standard in der brasilianischen Justiz, insbesondere dann, wenn Männer die Klagen bearbeiten. Die besonderen Einrichtungen zum Schutz von Frauen wurden geschaffen, um Belastungen von den Opfern wegzunehmen, die zunächst der Gewalt und dann dem Druck angeblicher Mitverantwortung ausgesetzt sind. In ihrer Berichterstattung reproduzieren die großen Zeitungen diese Stimmung der latenten Gewalt, wie sie auch bei der brasilianischen Polizei und in den Krankenhäuser wirksam ist.
Es ist kein Zufall, dass der misstrauische Ton, der in den großen Zeitungen und im Fernsehen vorherrscht, sich auch in den Sozialen Netzwerken ausbreitet. Spekulationen über die Mitverantwortung des Opfers und sogar Details aus ihrem Leben, die in den traditionellen Medien ausgestreut wurden und die völlig irrelevant sind, tauchen auch in Internet-Postings auf, in denen Vergewaltigung relativiert und Mitschuld des Opfers suggeriert wird. Fragen wie „Aber wo war sie denn unterwegs und mit wem?“ oder „Wie war sie denn angezogen?“ sind typisch, dazu noch Internetsprüche (Memes), die das Opfer bloßstellen.
Weiterlesen: Vergewaltigung und deren Wiederkehr in den Medien
Foto: Großdemonstration in São Paulo gegen Gewalt an Frauen. „Ser Mulher Sem Temer“ – „Frau sein ohne Furcht zu haben“ oder „Frau sein ohne Temer“. Michel Temer ist der derzeitige Putschpräsident (Quelle: ninja.oximity.com)