Ein Essay zur Nuklearrüstung. Von Gabriele Prohaska-Marchried
Tagaus, tagein kein Medium ohne das Flüchtlingsthema: als Flüchtling von Seite 1 mitunter fremdländisch suspekt, nicht selten als furchterregendes Phantom durchs Netz geisternd. Der wirklich große Schrecken hingegen bleibt zumeist ausgeblendet: das verschärfte Risiko eines unbeabsichtigten oder beabsichtigten Atomschlags, zu dessen Herbeiführung Atom-U-Boote, strategische Bomber und Raketensprengköpfe „modernisiert“ werden. (So erhalten etwa Interkontinentalraketen nunmehr statt bisher je einen Atomsprengkopf atomare Mehrfachsprengkörper mit unterschiedlichen Zielkoordinaten.)
Die USA, Russland und China rittern um militärische Dominanz zu Wasser, Luft und Erde und im Weltraum. Welche Atommacht denkt da noch an die Umsetzung von Artikel VI des Atomwaffensperrvertrages mit der Verpflichtung zur raschen und vollständigen Abrüstung von Nuklearwaffen? (Bemerkung am Rande: Ist es in Anbetracht der Militarisierung des Weltraums nicht an der Zeit, auch „Weißt Du, wie viel Sternlein stehen…?“ zu modernisieren?)
In der „Washington Post“ warnten im Oktober 2015 William Perry, Bill Clintons früherer Verteidigungsminister, und Andrew Weber, bis 2014 Obamas Minister für nukleare, chemische und biologische Verteidigungsprogramme, vor der Herstellung von Luft-Boden-Langstreckenmarschflugkörpern, die nuklear bestückt vom Flugzeug abgeschossen werden können. Als uniquely destabilizing type of nuclear weapon bezeichneten sie diese neue Art nuklearer Waffen. Unter anderem deshalb, weil ein Gegner nicht wissen kann, ob diese Marschflugkörper konventionelle oder nukleare Sprengköpfe transportieren, und so durch unbeabsichtigte Eskalation ein Atomkrieg ausgelöst werden kann. Diese Gefahr war für den früheren britischen Verteidigungsminister Philip Hammond der Grund, eine U-Boot-Bewaffnung mit Marschflugkörpern anstelle der jetzigen ballistischen Raketen (auch nicht beruhigend) abzulehnen. (Noch weniger beruhigend: der jüngste Beschluss des britischen Parlaments, die nukleare U-Bootflotte zu erneuern, jede Trident-Rakete mit atomaren Mehrfachsprengköpfen auszustatten. „Modernisierung“ als Synonym für noch mehr Vernichtungskapazität? Ist die derzeitige britische submarine Tötungskapazität von über 40 Millionen Menschen nicht genug, quasi unmodern?) In den USA ist die Debatte über die neuen Marschflugkörper wegen der hohen Kosten noch im Gange. Befürworter argumentieren, sie wären für einen begrenzten (???) Atomschlag geeignet. Die USA, Russland und Frankreich sind derzeit die einzigen Staaten, die zugeben, dass sie nuklear bewaffnete Marschflugkörper haben. Von China und Pakistan wird angenommen, dass sie an der Entwicklung solcher Waffen arbeiten. Angriffs- und keine Verteidigungswaffen! Eine Bedrohung, die von den meisten Medien ausgeblendet wird. Unterliegen wir der Truthahnillusion, und glauben, weil wir in der Vergangenheit davongekommen sind, bleibt das auch in Zukunft so? Und in dieser Situation wird „Sicherheit“ in Form von Stacheldrahtzäunen gegen unbewaffnete Menschen ins Bild gerückt.
Weiters ist es kaum ein Thema, dass durch technischen „Fortschritt“ die Vorwarnzeiten immer geringer werden und die Spanne zwischen Alarm und Gegenschlag noch kürzer und daher noch mehr an Computerprogramme delegiert wird, mit ihrer Fehler- und Hackeranfälligkeit. Längst vergessen ist die Warnung von Alan Turing, dem Pionier der Computerwissenschaft, nichts dem Computer zu überlassen, wenn Zuverlässigkeit hundertprozentig erforderlich ist. Fehlalarme haben bereits in der Vergangenheit, als die Vorwarnzeiten länger waren, beinahe zu einer nuklearen Apokalypse geführt. Der Semidokumentarfilm The Man who Saved the World führt einen dieser Fälle vor. Kam bei uns nicht in die Kinos, in Wien zeigte ihn nur das UNO-Filmservice. Auch technische Pannen in den Silos von Atomraketen bleiben zumeist jenseits der öffentlichen Wahrnehmung. Über die Explosion einer Titan-II-Rakete in ihrem Silo recherchierte Eric Schlosser für seinen Sachbuch-Thriller Command and Control: Nuclear Weapons, the Damascus Accident, and the Illusion of Safety. Unter Aufopferung des eigenen Lebens konnten Techniker die Detonation des atomaren Sprengkopfes verhindern, die mehrere US-Bundesstaaten zerstört hätte.
Da stimmt es nicht heiter, dass allein beim schönen norditalienischen Städtchen Aviano an die 100 NATO-Atomraketen stationiert sind, weitere in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und in der Türkei. Großbritannien und Frankreich protzen mit nationalen Arsenalen. Die Entscheidung über unser Leben – delegiert an programmierte Tötungsmaschinen. Schon ihre Stationierung gefährdet Tausende in ihrer Nachbarschaft, weil sie Angriffsziele darstellen. Und es gibt keine Stopptaste, wenn sie einmal losfliegen. Mehr Medienaufmerksamkeit erhält da schon das Feind-Szenario der NATO-Osterweiterung mit dem vorgeschobenen Raketenabwehrschild und dem angedrohten russischen Gegenschlag gegen den als Bedrohung angesehenen „Schild“. Auch über NATO-Luftwaffenmanöver im Herbst 2015 und unmittelbar darauf stattgefundene russische Manöver an der NATO-Grenze, vermutlich ebenfalls mit Atombombenträgern, wurde berichtet, mit wechselseitiger Schuldzuweisung.
Wo bleibt das Primat der Diplomatie? Vertrauensbildende Maßnahmen? Wann endlich werden Rüster, Militärstrategen und militante Politiker einsehen, dass ein Atomkrieg nicht gewinnbar, nicht „flexibel“, nicht kalkulierbar begrenzt führbar ist, wie aktuelle Militärdoktrinen immer noch behaupten. Und wann werden sie begreifen, dass die Auswirkungen keine Grenzen kennen, dass es in einem Atomkrieg nur Verlierer gibt und unsägliches Leid. Und dass schließlich auch sie und ihre Kinder Opfer sind, anders als in Bob Dylans Song Masters of War von 1962: When the death count gets higher / You hide in your mansion… Das forsch leichtfertige Spiel mit der Option Nuklearschlag, auch für Europa von Donald Trump nicht ausgeschlossen (some day maybe), zeigt nicht zuletzt das ungeheure Wissensdefizit von Leuten, die sich für die Stelle am Drücker bewerben.* Makaber Trumps Verteidigung der nuklearen Option in einem Fernsehauftritt: Why do we make them? Im Kontext sinngemäß: Wozu sonst haben wir denn die Atomwaffen?
Politische Vernunft und Überlebenswille hinken auch andernorts dem Zerstörungspotential dieser Waffen weit hinterher. Der früherere pakistanische Oberbefehlshaber Mirza Aslam Beg im O-Ton: We can make a first strike, and a second strike, or even a third… und unter Gleichsetzung des natürlichen Todes mit einem gewaltsamen: You can die crossing the street, or you could die in a nuclear war. You’ve got to die some day anyway. Allein für die USA schätzte 2015 das Center for Strategy and Budgetary Assessments die Kosten für Erhaltung und Modernisierung des nuklearen Arsenals in den nächsten 30 Jahren auf eine Billion Dollar. Weltweit bliebe mit einem umgesetzten Nein zu Atomwaffen reichlich Geld für die Bewältigung von Krisen. Und überdies würde es der Umwelt guttun, gilt doch der militärisch-industrielle Komplex samt Folgeaktivitäten als der größte Umweltverschmutzer. Aber das blieb bei den bisherigen Klimakonferenzen ausgeklammert, ein Tabu. Doch geht es nach etlichen Medien und entsprechender Politik, müssen wir uns vor Flüchtlingen schützen. Dabei können wir selbst zu Flüchtlingen werden, so wir eine Nuklearexplosion oder gar einen atomaren Schlagabtausch überleben. Die Prognosen bei letzterem sind für die nördliche Hemisphäre so düster wie der atomare Winter. Aber wer würde uns Verseuchte, Strahlenkranke aufnehmen, wer seine Grenzen öffnen? Würde über die große Bedrohung berichtet, der Stoff ginge den Medien nicht aus. Dann käme womöglich der bislang ausgebliebene große Protest gegen die ungeheure Bedrohung, dann kämen wir womöglich unserer Sicherheit oder einem Frieden ein Stück näher. Denn wer will schon atomare Geisel, gar Opfer sein? Im Freundeskreis sagte letzthin einer, die Menschen wollen nichts von diesem Thema wissen, es trübt die Lebensfreude. Es verstört weniger, wenn man verdrängen kann, dass die USA und Russland ständig 1.800 Atomsprengköpfe (jeder mit einem Vielfachen der Zerstörungsmasse der Hiroshimabombe) auf ballistischen Raketen on high alert halten.
Auch Eric Schlosser erzählte von seiner gedrückten Stimmung während der Arbeit an seinem Buch „Command and Control“. Anderseits fällt bei den Campaignern von ICAN (eine der engagierten Organisationen, Abkürzung für International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) die Munterkeit der meist jugendlichen Aktivisten auf (was den Schluss nahelegt, dass Gruppenaktivitäten gegen die Vernichtung stimmungsaufhellend wirken können). ICAN ging aus einem Rot-Kreuz-Seminar hervor, in dem klar wurde, dass den Opfern eines Nuklearkriegs nicht geholfen werden kann. Mittlerweile ist ICAN eine weltweit agierende, professionell aufgezogene Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen, die in kurzer Zeit erreicht hat, dass bereits 127 Regierungen ein Verbot von Atomwaffen verlangen. Doch davon wollen die Atomstaaten nichts wissen. Nun arbeitet ICAN darauf hin, dass ein UNO-Arbeitskreis eine neue Abrüstungsinitiative der UNO-Vollversammlung fordert.
Hoffen lassen auch andere Initiativen wie die Klage der Marshallinseln*, langjährige Opfer von US-Atombombenversuchen, beim Internationalen Gerichtshof gegen die neun Atommächte, weil die ihrer Verpflichtung zur Abrüstung nicht nachkommen. Unterstützt werden die Marshallinseln dabei von IALANA, den Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen. Fundierte Informationsarbeit leistet auch IPPNW (kurz: Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs). Klartext liest man in deren Peace & Health Blog, wo Atomwaffen als the most acute existential threat bezeichnet werden – the more we know about nuclear weapons the worse it looks (Co-Präsident Tilman Ruff vor oben erwähntem UNO-Arbeitskreis).
Wird die Nulllösung für Atomwaffen – und auch die radikale Abkehr von der sogenannten friedlichen Atomkraft mit ihrem Material für schmutzige Bomben – zur Überlebensstrategie auf unserem Planeten? Wie andere Abrüstungsinitiativen, von der Nuclear Age Peace Foundation bis zu den Bürgermeistern für den Frieden bis zu den IPPNW Ärzten, setzt ICAN auf Aufklärung und rechtliche Schritte. Es bleibt die bange Frage: Was können Unterschriften, Vertragswerke bewirken gegen den Waffenexzess? Wenn viele, viele mehr ihre Stimme erheben, der Vernunft und der Menschlichkeit Gehör verschaffen gegen apokalyptische Massaker? Ein erster Schritt ist technisch leicht durchführbar: die Herausnahme der Atomwaffen aus der Alarmbereitschaft. Auf dass uns die Erde ein bewohnbarer Ort bleibt… auch denen, die jetzt schon fliehen müssen.
Gabriele Prohaska-Marchried ist Friedensaktivistin und Drehbuchautorin. Im Juni 2015 erschien ihr erster Roman „Das schöne Lied der Marie Anne Mozart“ (Sisyphus)
*Der Essay wurde im Juli geschrieben und auf medienkultur.at veröffentlicht. Mittlerweile wurde Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt und die Klage der Marshall Inseln abgeschmettert.
Fotos: Hiroshima-Tag 2015 (Unsere Zeitung)