3-teilige Serie von Oliver Flumian (pressenza)
* Von 1945 bis 1990: Spielball im Kalten Krieg (2/3)
* Vom Ende des Kalten Krieges zum „Arabischen Frühling“ (3/3)
Um die aktuelle Situation im Nahen Osten verstehen zu können, muss man auf die Geschichte der letzten 100 Jahre zurückschauen. Tatsächlich erklären die geopolitischen Gegebenheiten am Vorabend des Ersten Weltkrieges zu einem Großteil die Vielfalt und die Verwicklungen der gegenwärtigen Konflikte. Eines ist sicher: Die Großmächte haben über lange Zeit den Lauf der Ereignisse entscheidend beeinflusst, doch die regionalen und lokalen Akteure haben sich davon freigemacht und sich in den vergangenen 100 Jahren in zunehmendem Maß auf sich selbst verlassen. Nach der Herrschaft Großbritanniens und Frankreichs in der Zeit zwischen den Weltkriegen, haben die Supermächte des Kalten Krieges das Heft in die Hand genommen. Nach dem Fall der Berliner Mauer gab es eine Phase US-amerikanischer Allmacht, die nach den 11. September 2001 in Frage gestellt wurde. In der Globalisierungsphase konnte man eine wachsende Autonomie der regionalen Mächte bzw. eine Zunahme an Unabhängigkeit ihres Handelns und Einflusses aber auch eine massive Verschärfung der inneren Rivalitäten beobachten. Das versuchen wir etwas klarer zu sehen.
Mit Beginn des 16. Jahrhundert gehörte der Nahe Osten dem Reich der Ottomanen an. Es ist ein multiethnisches und multikonfessionelles Reich, in dem die türkische Dynastie der Osmanen (Osmanlis) regiert. Alle Macht ist in Istanbul konzentriert. Die Souveräne der Ottomanen, die Sultane, tragen auch den Titel der Kalifen, der einem religiösen Führer des sunnitischen Islam zukommt. Sie kontrollieren die Heiligen Städte Mekka und Medina. Im Osten stoßen sie an die Grenzen ihrer großen Rivalen, die persischen Schahs, Beherrscher des schiitischen Islams. Seit dem 19. Jahrhundert, ist der Mittlere Osten dem Machtkampf der europäischen Imperialisten ausgeliefert. Großbritannien, Russland, Frankreich und später – etwas zögerlicher – auch Deutschland, streiten um politischen, ökonomischen und kulturellen, sprich: militärischen Einfluss. Ägypten ist schon seit 1882 unter britischem Protektorat. Der arabisch-persische Golf wird gegen Ende des Jahrhunderts von Großbritannien kontrolliert. Die westlichen, finanziellen Investitionen im osmanischen Reich nehmen zu. In diesem Kontext bricht der Erste Weltkrieg aus, eine Frucht der Rivalitäten des imperialen Europas.
Im November 1914 stellt sich die Regierung in Istanbul hinter das Deutsche Reich. Sie wird im Laufe des Konflikts mit den russischen Armeen im Kaukasus und den Truppen Großbritanniens ins Palästina und in Mesopotamien (Irak) konfrontiert. Istanbul hat während des Krieges eine Allianz mit dem Deutschen Reich, das 1918 zu den Verlierern zählt. Die gegenwärtigen Staaten des Nahen Ostens, die arabischen Länder, die Türkei und Israel, sind zu einem großen Teil am Ende des Ersten Weltkrieges aus dem Zerfall des ottomanischen Reiches hervorgegangen. Die Sieger Britannien und Frankreich haben die Landkarten der Region neu gezeichnet und zwar für ihre eigenen Interessen. Mit den Wünschen der betroffenen Völker hat man natürlich nicht gerechnet. Die Mandatsmächte haben Grenzen gezogen, bestimmte Regierende – wie auch die Engländer im Irak und in Jordanien es gemacht hatten – oder sie verwalteten die Gebiete direkt, frei nach dem Beispiel der Franzosen in Syrien und der Engländer in Palästina. Im Jahr 1922 hat der Völkerbund (Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen) Großbritannien und Frankreich „Mandate“ über die arabischen Provinzen des ehemaligen ottomanischen Reiches anvertraut. Die Mandatsmächte behandelten sie wie Kolonien, obwohl sie beauftragt waren, diese Territorien in die Unabhängigkeit zu führen. Daher kommt der Eindruck der Bevormundung jener vier Staaten, die bis heute den arabischen Nahen Osten ausmachen: Irak, Syrien, Jordanien, Libanon – und Palästina/Israel muss hinzugefügt werden.
Das Territorium von Palästina ist von besonderer Bedeutung, denn es wird vom englischen Okkupanten für die aus Europa kommenden und von der zionistischen Bewegung *) organisierte Kolonialisierung durch die Juden frei gegeben. Das zionistische Projekt hatte – wie Janus – zwei Gesichter bis die Entscheidung für Palästina gefallen war: Wenn es eine nationale Befreiungsbewegung für die aschkenasischen Juden aus Europa sein wollte, so konnte es für die in Palästina lebende arabische Bevölkerung nur wie ein Projekt der Kolonialisierung erscheinen. Die jüdische Kolonialisierung Palästinas, begonnen mit dem Kauf von Ländereien in den 1880er-Jahren, bekam einen solchen entscheidenden Impuls, besonders auch dadurch, dass – mitten im Ersten Weltkrieg – die britische Regierung die Balfour-Erklärung veröffentlichte, in der sie sich für die Einrichtung einer „nationalen Heimstätte für Juden“ in Palästina aussprach.
Was nun Arabien angeht, wird es zum Schauplatz eines Ereignisses mit weitläufigen und schweren Folgen. Das Königreich Saudi-Arabien wird 1932 proklamiert. Die saudische Königsfamilie, den Wahabiten zuzurechnen, übernimmt die Macht im Herzen der arabischen Halbinsel und legt die Hand auf die Heiligen Orte des Islam: Mekka und Medina. Die kleinen angrenzenden Staaten am Golf von Oman und dem Persischen Golf stehen ihrerseits untere britannischer Hoheit. Der Seeweg zwischen dem Mittelmeer und Indien führt durch den Suezkanal und wird von Großbritannien scharf kontrolliert. Die reichhaltigen Ölfunde im Iran werden von England (Anglo-Persian-Oil-Compagnie, später: BP, British-Petroleum), während jene des Irak von einem internationalen Konsortium (Irak Oil Company), ausgebeutet werden.
In der Türkei ruft Mustafa Kemal „Atatürk“ 1923 die Republik aus, das Herz des alten, untergegangenen ottomanischen Reiches. Das Sultanat (sprich: die Monarchie) wird 1922 aufgehoben, die Institution des Kalifates wird 1924 abgeschafft. Der Vater der modernen Türkei erzwingt die Laizität des Landes und orientiert es in Richtung Westen. Das persische Imperium seinerseits hat am Ersten Weltkrieg nicht teilgenommen. Es blieb aber deswegen nicht weniger abhängig von der Rivalität zwischen britannischen und sowjetischen Interessen. Ein Versuch, das Land zu verwestlichen – ähnlich wie die Türkei aber weit weniger erfolgreich, wurde im persischen Reich von Reza Pahlavi von 1925 an unternommen. Seit 1935 hat das Land den Namen: Iran angenommen. Diese beiden durchaus autoritär regierten Länder, bemühten sich Distanz zu wahren, sowohl den westlichen Mächten gegenüber, wie aber auch gegenüber der jungen UdSSR. Es ist wichtig, anzumerken, dass die Kurden zwischen den vier Ländern Türkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt worden sind, wo sie überall als Minorität existieren und mehr oder weniger unterdrückt wurden.
Die Zwischenkriegszeit ist von „formeller“ Unabhängigkeit – akkordiert von Großbritannien für Ägypten (1922), dann für den Irak (1932). Im Jahr 1936 wird eine bewaffnete palästinensische Revolte durch die britische Okkupationsmacht und die jüdischen „Yishouv“-Milizen niedergeschlagen, deren Name von der zionistischen Bewegung dem ins Leben gerufenen jüdischen Staat (in statu nascendi) gegeben worden ist. Frankreich hat seinerseits das Territorium des Libanon von Groß-Syrien getrennt und unterdrückt mit Gewalt jeden Protest. Hassan-al-Banna gründet 1928 in Ägypten die Muslimbrüder, halb Brüderschaft halb politische Bewegung. Er will den Islam durch eine Rückkehr zu seinen Wurzeln und weist jedweden Einflusses aus dem Westen, gleich ob dieser politisch, wirtschaftlich oder kulturell ist, zurück. Er sucht die Re-Islamisierung nach eigenen, gesellschaftlichen Kriterien und setzt an der sozialen Basis an, in der Hoffnung, die politische Macht zu übernehmen. Laizistische Gruppierungen, gleich ob liberal, nationalistisch oder marxistisch, besetzen politische Bereiche in allen Ländern der Region. Sie reklamieren alle und in jedem Fall die Unabhängigkeit in Bezug auf Großbritannien oder Frankreich.
Als dann der Zweite Weltkrieg ausbricht, stellen sich die Yishouv-Juden hinter Großbritannien. Die arabischen Nationalisten schauen mit einer gewissen Sympathie in Richtung Deutschland. Und so erhebt sich 1941 der Irak mit deutscher Unterstützung gegen die Briten, der Aufstand wird aber niedergeschlagen. Das französische Syrien wird von einem Gouverneur der Vichy-Regierung gehalten und wird im selben Jahr noch von britischen Kräften gemeinsam mit ‚freien Franzosen‘ – anders gesagt: Gaullisten – erobert. Während die Türkei ihre Neutralität aufrechterhält, nähert sich der Iran Deutschland an und wird von den Briten und den Sowjets besetzt und in die Reihen der Alliierten gezwungen.
Am Ende des ersten Weltkrieges haben Großbritannien und Frankreich den Nahen Osten unter sich aufgeteilt. Die Türkei und der Iran sind dennoch unabhängig geblieben, während sich im Zentrum Arabiens das Königreich der Saudis zu behaupten begann. Zur gleichen Zeit sind in Palästina die ersten Vorboten es israelisch-palästinensischen Konfliktes zu registrieren. Die Karten werden neu gemischt und zwar vor dem Hintergrund des Streites ums Erdöl. Der Zweite Weltkrieg hat eine neue Situation in der Region geschaffen. Sie bereitet die große Rivalität des Kalten Krieges vor, in dem der Mittlere Osten ganz wesentlich auf dem Spiel steht, wie wir in der folgenden Episode sehen werden.
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*) Die zionistische Bewegung ist 1897 ins Leben gerufen worden, mit dem Ziel, für die europäischen Juden angesichts des zunehmenden europäischen Antisemitismus (Pogrome im russischen Reich, die Affäre Dreyfus in Frankreich) ein Territorium vorzusehen und dort einen jüdischen Staat zu gründen. Die Wahl ist auf Palästina gefallen, ein Landstrich, der schon in der Antike verschiedene jüdische Königreiche (die Reiche Davids und Salomons, die rivalisierenden Reiche Israel und Judas, das Königreich der Hasmonäer bzw. auch: Makkabäer und das Reich Herodes) gesehen hatte.
Übersetzung aus dem Französischen von Walter L. Buder
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